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TEILDOKUMENT:

[Seite der Druckausgabe: 16]


III. Motive und Wirkungen von Produktionsverlagerungen deutscher Unternehmen in MOE-Länder

3.1 Vorbemerkung

Im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses steht die Frage, welche Rückwirkungen Produktionsverlagerungen deutscher Unternehmen in die MOE-Länder auf den Standort Bundesrepublik Deutschland haben. Welche Folgen ergeben sich für die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland, welche Beschäftigungseffekte vor allem sind per Saldo zu erwarten? Wird sich die ohnehin desolate Lage auf dem Arbeitsmarkt durch "Arbeitsplatzexport" in die MOE-Länder noch weiter verschärfen?

Die Wirkungen von Produktionsverlagerungen in das Ausland sind ohne Zweifel zwischen Ursprungs- und Zielland, aber auch zwischen verschiedenen Branchen sehr differenziert zu bewerten. Dabei kann man sich bei einer Wirkungsanalyse nicht nur auf den unmittelbar betroffenen Sektor beschränken, sondern muß auch vor- und nachgelagerte Sektoren (forward- backward- linkages) berücksichtigen.

Ihre Wirkung hängt vor allem davon ab, ob das Zielland ein hochentwickeltes Industrie- oder ein Entwicklungsland darstellt. Durch die Öffnung Mittel- und Osteuropas, aber auch Chinas kommt der Standortwettbewerb in erhebliche Bewegung. Neben neuen Chancen entstehen auch neue Konkurrenten.

Nicht minder bedeutend sind die Wirkungen auf die Staaten Mittel- und Osteuropas selbst, auch wenn der Einfluß ausländischer Investoren und Staaten auf ihre wirtschaftliche, soziale und politische Entwicklung begrenzt ist. Nur wenn sich gleichzeitig auch in den MOE-Staaten eine positive Entwicklung vollzieht und eine "Lateinamerikanisierung" oder gar "Afrikanisierung" verhindert wird, kann die Öffnung Osteuropas als gesamteuropäischer Standortvorteil wirksam werden.

Die Wirkungen von Produktionsverlagerungen auf das Herkunfts- und Zielland sind im Zusammenhang mit den jeweiligen Motiven der Unternehmen zu sehen, die wiederum aus einem Vergleich der Standortfaktoren im Inland und an alternativen Standorten resultieren. Die derzeitige Diskussion stellt vorrangig auf die niedrigen Arbeitskosten in den MOE-Ländern ab, wobei gleichzeitig die gefährdete Attraktivität des Standorts Bundesrepublik Deutschland aufgrund des zu hohen Arbeitskostenniveaus hervorgehoben wird. Die Motive sind jedoch vielfältiger, der Katalog der relevanten Standortfaktoren weit umfangreicher und entsprechend vielfältiger die Wirkungen.

[Seite der Druckausgabe: 17]

Neben den Arbeitskosten sind eine Vielzahl von Standortfaktoren auf der Produktions- und auch der Beschaffungsseite von Belang, wie z.B. die Verfügbarkeit von Rohstoffen. Daneben interessieren Faktoren auf der Markt- und Absatzseite. Hinzu kommen natürliche, staatliche und gesellschaftliche Rahmenbedingungen. Es dominieren jedoch im allgemeinen zwei Motive:

  • die Sicherung, Ausweitung und Erschließung von Absatzgebieten
  • die Nutzung von Kostenvorteilen, insbesondere bei den Arbeitskosten, zur
  • Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der Produktion.

Ferner müssen Produktionsverlagerungen vor dem Hintergrund des strukturellen Wandels der deutschen Wirtschaft und der Internationalisierung der Produktion gesehen und bewertet werden.

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3.2 Produktionsverlagerungen vor dem Hintergrund des strukturellen Wandels der deutschen Wirtschaft und der Internationalisierung der Produktion

Produktionsverlagerungen nach Osteuropa, insbesondere bei arbeits- und ressourcenintensiven Gütern sind nach Darstellung eines Wissenschaftlers Teil eines längst überfälligen strukturellen Wandels der deutschen Wirtschaft.

Da Deutschland weder ein Rohstoff- und Agrarland noch ein Billiglohnland sei, müßten Hochtechnologien und forschungsintensive Produktionen mit qualifiziertem Humankapital einen höheren Stellenwert als bisher erhalten.

Hinsichtlich der technologischen Wettbewerbsfähigkeit habe Deutschland bedenkliche Defizite und laufe Gefahr, zu einer zweitrangigen Nation zu werden. Nicht zuletzt auch wegen eines unzureichenden Engagements des Managements im High-Tech-Bereich. Die deutsche Industrie orientiere sich viel zu sehr an Gütern mittleren technischen Niveaus und intensiver Produktion:

Während im Export der OECD- Länder Hochtechnologie- und forschungsintensive Erzeugnisse unter den Industriegütern die ersten Plätze einnehmen, sind es im deutschen Export Erzeugnisse des mittleren Technologiebereiches und skalenintensive Gütergruppen.

Im Vergleich mit Japan und den USA ist der Anteil arbeitsintensiver Erzeugnisse am deutschen Export weitaus höher. Zwischen 1970 und 1990 ist dieser Anteil weiter angestiegen.

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Auch ein SPD-Bundespolitiker wies darauf hin, Deutschland sei ein klassisches "Schumpeter-Land" und müsse sich auf innovative Produktionen mit qualifiziertem Humankapital konzentrieren. Er warnte jedoch vor der Illusion, Deutschland könne als "Blaupausen-Gesellschaft" überleben. Unter allen Umständen müsse vielmehr in Deutschland eine reale Fertigungsbasis erhalten bleiben.

Von Einfluß auf die Wettbewerbssituation der deutschen Wirtschaft ist natürlich ebenfalls die plötzliche Konkurrenz durch osteuropäische Produkte. Nach Einschätzung eines Vertreters des Ostausschusses/Kooperationsbüros der deutschen Wirtschaft resultieren die Probleme, die in der Europäischen Union durch die Öffnung Osteuropas bestehen, nicht primär aus Produktionsverlagerungen, sondern durch die in den MOE-Ländern sei jeher bestehenden Kapazitäten gerade in sensiblen Bereichen wie z.B. der Textil- oder der Stahlindustrie.

Die Verlagerung von Produktionsstandorten sei angesichts des ständigen wirtschaftlichen Wandels ein "normaler" Vorgang, betonte auch ein Vertreter der Siemens AG. Die Unternehmen suchten sich ihren Standort. Angst vor ausländischen Direktinvestitionen sei fehl am Platze, denn eine stärkere internationale Verflechtung der Produktion sei unabdingbar.

Es gäbe international eine Tendenz der Verringerung der Produktionstiefe und der dann folgenden Ausgliederung der Produktion auch ins Ausland, insbesondere in der Automobilindustrie. Auch bei Siemens wurde die Fertigungstiefe in den letzten Jahren verringert.

Dieser Prozeß der Globalisierung der Märkte und der Internationalisierung der Produktion stellt die Unternehmen vor neue Entscheidungsmöglichkeiten hinsichtlich der Nutzung von Standortvorteilen (Kosten oder Know-how-Vorteile, staatliche und sonstige Rahmenbedingungen).

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3.3 Markt- und absatzorientierte Produktionsverlagerungen und ihre Wirkungen auf den Standort Bundesrepublik

Empirische Untersuchungen belegen im allgemeinen, daß der weitaus überwiegende Teil deutscher Direktinvestitionen im Ausland aus dem Motiv heraus erfolgt, neue Absatzmärkte zu gewinnen bzw. alte Märkte zu sichern und auszubauen. Man will mit Produktionsstätten und Verkaufsniederlassungen näher an den Abnehmer heran.

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Produktionsaktivitäten im Ausland haben gegenüber Exporten den Vorteil einer ständigen Präsenz auf den Absatzmärkten, einer besseren Anpassung an die Markterfordernisse und damit einer größeren Kundennähe. Hinzu kommen Überlegungen der Risikostreuung, der Umgehung von Wechselkursschwankungen, der Überwindung von Marktzutrittsbarrieren u.a.m. Diese Auslandsinvestitionen sind eher komplementär zu den Exporten zu sehen.

Verbesserte Absatzchancen der eigenen Produktion im Ausland haben unzweifelhaft positive Wirkungen auf die Beschäftigung im Inland. Die gleichzeitig mögliche Senkung der Produktionskosten durch Nutzung der Kostenvorteile verbessert die Chancen zur Markterhaltung und Marktöffnung bzw. -erweiterung. Ferner entstehen durch die Schaffung von Arbeitsplätzen in den jeweiligen Ländern Einkommenszuwächse, die wiederum die Nachfrage nach Importgütern erhöhen. Gestärkt werden aber auch Erweiterungsinvestitionen und somit die Nachfrage nach Investitionsgütern. Im Bereich der Investitionsgüter kann Deutschland als besonders wettbewerbsstark beurteilt werden.

Investitionen im Ausland, die aus Gründen der Marktsicherung und -erschließung erfolgen, führen also zu einer Verbesserung der Wettbewerbssituation deutscher Unternehmen. Sie tragen somit zur Stärkung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Bundesrepublik bei.

Damit zeigt sich zugleich, daß Direktinvestitionen einen denkbar schlechten Indikator für die Standortattraktivität eines Landes darstellen.

Absatzorientierte Direktinvestitionen werden mitunter nicht als Produktionsverlgerungen verstanden. Eine klare Trennlinie läßt sich jedoch nicht ziehen, wenn man als Alternative die Produktion am heimischen Standort und den Export in Betracht zieht. Auch sind im allgemeinen vielfältige unternehmensinterne Liefer- und Absatzverflechtungen zwischen Inland und Ausland zu berücksichtigen, die beschäftigungswirksam sein können. Des weiteren sind häufig mehrere Motive gleichzeitig ausschlaggebend.

Auch die erwähnte Umfrage des DIHT von Ende 1993 bestätigte, daß deutsche Unternehmen im allgemeinen nicht oder nicht nur allein aufgrund von Nachteilen des Standortes Deutschland ins Ausland gehen. Die Standortverlagerungen sind oft Bestandteil von langfristig angelegten unternehmerischen Internationalisierungsstrategien. Strategische Gründe haben Unternehmen bereits in der Vergangenheit dazu veranlaßt, sich ein Standbein im Ausland zu verschaffen. Von den

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befragten Unternehmen haben in den vergangenen drei Jahren bereits 24 % eine Produktionsverlagerung ins Ausland vorgenommen.

Deutschland hat in den MOE-Ländern deshalb auch gute Absatzchancen, weil es als weltweit führender System-Anbieter von Infrastruktur gilt, die Infrastrukturausstattung in den MOE-Staaten aber in einem teilweise desolaten Zustand ist, und die Staaten daran interessiert sind, diesen entscheidenden Standort- und Wettbewerbsnachteil abzubauen.

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3.4 Kostenorientierte Produktionsverlagerungen und ihre Wirkungen auf den Standort Bundesrepublik

Anlaß zur Sorge bietet allerdings der Anteil der Investitionen, der wegen ungünstiger inländischer Standortbedingungen (Arbeitskosten, Umweltschutzauflagen, Energiekosten, Rohstoffkosten, Steuern etc.) im Ausland getätigt wird oder bei uns unterbleibt.

Bei den Motiven für ein Engagement in den MOE-Länder nimmt das Kostenargument ebenfalls einen herausgehobenen Platz ein. Vor allem die niedrigen Lohnkosten in diesen Ländern ziehen das Interesse der Unternehmen auf sich. In der Tat sind die Löhne im Vergleich zum deutschen Lohnniveau sehr gering (vgl. Tab 9). Sie betragen vielfach nicht einmal ein Zehntel des hiesigen Niveaus.

Tab. 9: Zur Entwicklung der Durchschnittslöhne in MOE- Staaten (in US - $)

Zeitraum/Land

Ungarn

Polen

Tschechien

1.Quartal 1992

376

299

190

2. Quartal 1992

382

287

209

3. Quartal 1992

408

336

225

4. Quartal 1992

407

348

256

1.Quartal 1993

408

330

240

2. Quartal 1993

454

342

261

3. Quartal 1993

434

324

261

4. Quartal 1993

k.A.

k.A.

259


Quelle: OstWirtschaftsReport Nr. 4 v. 18.2.1994, S. 62.

[Seite der Druckausgabe: 21]

Unterschiede bei den Löhnen sind für sich betrachtet jedoch unzureichend: Für einen internationalen Vergleich und als Orientierung für Standortentscheidungen kommen allenfalls die Lohnstückkosten in Betracht, bei deren Ermittlung die Arbeitskosten in Relation zu Produktivität der Beschäftigten gesetzt werden.

Und dabei können sich die Relationen erheblich verschieben. Die Lohnstückkosten haben sich in den einzelnen MOE- Staaten in 1993 sehr unterschiedlich entwickelt. So sind sie in Polen und Ungarn stark gesunken, in Rußland und Tschechien hingegen weiter angestiegen (wobei Tschechien gegenüber 1992 eine Verlangsamung des Anstiegs erreichte). Auch innerhalb einzelner Branchen gibt es sehr unterschiedliche Entwicklungen.

Beim internationalen Vergleich der Lohnkosten kommt hinzu, daß die internationale Wettbewerbsfähigkeit einiger MOE-Staaten durch gezielte Abwertungen der jeweiligen nationalen Währungen gestärkt wird, um den Export zu fördern und Importe zu bremsen. Für stark unterbewertet wird beispielsweise die tschechische Krone angesehen.

Aber selbst unter Berücksichtigung dieser verzerrenden Einflüsse bleiben die massiven Lohnkostenunterschiede zwischen den MOE-Staaten und Deutschland bestehen.

Damit verbindet sich eine erhebliche Konkurrenz für manche Branchen, insbesondere für solche mit hohem Lohnkostenanteil und standardisierter Fertigung. Betroffen sind vor allem Branchen wie die Textil-, die Bekleidungsindustrie, die Baustoff-, die Keramik- und Holzverarbeitungsindustrie, Gewinnung von Steinen und Erden und auch der Automobilbau. Aber das traditionelle Muster der Arbeitsteilung (niedrige Löhne/niedrige Technik) verändert sich zunehmend. Das vergleichsweise hohe Ausbildungsniveau in Osteuropa erlaubt auch die Verlagerung technisch anspruchsvollerer Sektoren wie z.B. die Software-Entwicklung.

Die große Bedeutung des Lohnkostenmotivs kommt auch in einer - allerdings nicht branchenspezifischen - Erhebung aus dem Jahre 1991 hinsichtlich der Motive deutscher Unternehmen für die Gründung eines Joint Ventures in Polen zum Ausdruck (vgl. Tabelle 10). Es dominieren klar die niedrigen Lohnkosten, gefolgt von marktorientierten Überlegungen.

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Tab. 10: Motive der Joint venture-Gründung in Polen (Anteil in %)

Motiv/ Grad der Bedeutung

keine

unterge- ordnet

wichtig

sehr wichtig

Bewertungs- ziffer

Rangziffer*

Zahl Unter- nehmen

Import möglich

85,4

6,3

2,1

6,3

1,29

10

96

polnischer Markt

17,0

12,5

40,2

30,4

2,80

2

112

Rohstoffkosten

30,4

20,6

24,5

24,5

2,43

5

102

Lohnkosten

6,2

8,8

30,1

54,9

3,30

1

113

Standortvorteil

25,7

25,7

29,7

18,8

2,42

6

101

eigene Technologie

44,4

20,2

20,2

15,2

2,16

8

99

eigene U-Qualifikation

24,0

21,2

29,8

25,0

2,56

4

104

polnisches Know how

62,0

22,0

10,0

6,0

1,33

9

120

Landeskenntnis

24,5

13,2

43,4

18,9

2,57

3

106

polnische Kapazität

46,1

12,7

27,5

13,7

2,08

7

102

* Dieser Wert entspricht der mit den Gewichtungsziffern multiplizierten Anzahl der Nennungen je Bewertungsgrad dividiert durch die Anzahl der Unternehmen. Gewichtung der Angaben: 1=keine Bedeutung; 2 = untergeordnete Bedeutung; 3=wichtig; 4= sehr wichtig.

Quelle: G. Heiduk u.a.(Hrsg.), Deutsch- polnische Joint ventures, Hamburg 1991.S.44.

Kostenmotivierte Produktionsverlagerungen haben zumindest als kurzfristige Wirkung den Abbau von Arbeitsplätzen am bisherigen Standort zur Folge oder sie führen dazu, daß neue Investitionen dort unterbleiben. Anfang 1994 waren z.B. von den 7.600 Mitarbeitern der Schieder-Möbel-Gruppe 4.700 in Polen beschäftigt, in Ostdeutschland hingegen nur 400. Die Arbeitskosten betragen in Ostdeutschland 36,- DM, in Polen 4,45 DM je Stunde. Noch weitreichende Gefahren sieht der Vorsitzende der Gewerkschaft Textil und Bekleidung: Hinter dem Argument "Verlagern, weil Hochland" stehe das weltweite Bestreben der Konzerne, Hochlohnarbeit abzubauen und durch Niedriglohnarbeit zu ersetzen. Somit sinke auch am bisherigen Standort das Lohnniveau und entsprechend die Kaufkraft. In der Bundesrepublik sei der Abstand der Einkommen in der von Produktionsverlagerungen besonders stark betroffenen Textil- und Bekleidungsbranche gegenüber anderen Branchen größer geworden.

[Seite der Druckausgabe: 23]

Mittel- und langfristig können aber auch positive Tendenzen für den Arbeitsmarkt und die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft wirksam zu werden. Hierbei sind nicht nur Produktionsverlagerungen zu berücksichtigen, sondern auch die hieraus resultierenden Entwicklungen im Bereich des internationalen Handels.

  1. Kooperationen mit Kostenvorteil tragen zum Erhalt anderer Arbeitsplätze bei. Mitunter ermöglicht erst die Mischkalkulation die Rettung wenigstens eines Teils der Arbeitsplätze in Deutschland. Sie verbessern die Chancen zur Markterhaltung, führen oft zu neuer Markterschließung und damit auch zu Arbeitsplatzerweiterungen. Als Beispiel wurde die Schieder- Gruppe erwähnt. Die deutsch- polnische Kooperation ermöglicht Marktgewinne auf dem nordamerikanischen Markt, was letztlich auch Arbeitsplätze in Thüringen oder Brandenburg sichert.

  2. Intensive arbeitsteilige Beziehungen fördern das Wachstum und erhöhen das Exportpotential der mittel- und osteuropäischen Nachbarn Deutschlands. Höhere Deviseneinnahmen ermöglichen umfangreichere Importe dieser Länder aus Deutschland, was hier zu positiven Wirkungen auf die Arbeitsmarktsituation führt.

  3. Gewachsene Interdependenzen mit den MOE- Ländern stärken ebenfalls den Wirtschaftsstandort Deutschland. Analysen zur Außenhandelssituation in der Region Berlin- Brandenburg belegen, daß neben anderen Standortnachteilen auch die unzureichenden wirtschaftlichen Interdependenzen mit den östlichen Nachbarn eine Ursache für geringe Exporte sind.

Welche Beschäftigungswirkungen per Saldo überwiegen, läßt sich nicht mit Sicherheit vorhersagen. In einer Reihe von Industriesektoren mit Kostennachteilen werden Arbeitsplätze verloren gehen, in anderen Sektoren neue hinzukommen. Die meisten Schätzungen gehen von einer längerfristig positiven Beschäftigungsbilanz aus.

Vor diesem Hintergrund stellt sich zunehmend die Aufgabe einer grenzübergreifenden Interessenvertretung von Arbeitnehmern, etwa nach dem Vorbild der Europäischen Betriebsräte. Ob diese angesichts der unterschiedlichen Betroffenheit und Interessenlagen der Arbeitnehmer aber zu gerechteren und kompromißfähigen Lösungen beitragen kann, bleibt eine offene Frage.

Eine Konkurrenz stellen nicht nur die niedrigen Arbeitskosten im engeren Sinne, sondern auch die niedrigen Sozialstandards in den MOE-Ländern dar, die in mehr oder weniger direkter Form kostenwirksam sind und die Produktion verteuern können. Gemeint sind Arbeitnehmerrechte und Arbeitsbedingungen wie z.B. Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, bezahlter Urlaub, Arbeitsschutz etc. aber auch Mitbestimmungsrechte.

[Seite der Druckausgabe: 24]

Befürchtet wird ein Druck nach unten und somit die Gefahr des Sozialabbaus auch in Deutschland. Gewerkschafter und Politiker fordern daher seit langem internationale Regelungen, durch die das soziale Gefälle zwischen den Staaten verringert und gleichzeitig die Erosion bestehender Rechte verhindert wird. Hier ist es vor allem auch eine Aufgabe des GATT bzw. der WTO, entsprechende Regeln zu institutionalisieren. Bislang sind im GATT bzw. der WTO soziale und ökologische (Mindest-)standards nicht verankert, insofern handelt es sich nach Meinung eines SPD-Bundespolitikers um "ein System von gestern".

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3.5 Risiken und Unwägbarkeiten von Produktionsverlagerungen aus unternehmerischer Sicht

Unzweifelhaft sind mit Produktionsverlagerungen ins Ausland auch Risiken und Unwägbarkeiten verbunden, die sich z.B. aus der Instabilität der politischen Lage, aus der Mentalität von Arbeitnehmern, Kunden und Administration ergeben. Nicht überall sind für die Bedienung modernster, hochtechnisierter Maschinen und Anlagen auch die notwendigen Qualifikationen vorhanden. Ein marktwirtschaftstrainierten Management fehlt: "Produktionseliten wie in Deutschland gibt es in Mittel- und Osteuropa noch nicht" betonte ein SPD-Bundestagsabgeordneter. Erweist sich das Engagement deutscher Unternehmen in Mittelosteuropa aus diesen Gründen als Fehlschlag, so trägt dieses zur Schwächung ihrer Wettbewerbsposition bei.

Eine Bewertung der allgemeinen wirtschaftlichen Situation läßt sich aus der Ländereinstufung im Rahmen der Vergabe von Hermes- Krediten ableiten (vgl. Tab. 11).

Tab. 11: Einstufung der Länder Mittel- und Osteuropas in den Hermes -Kategorien

Kategorie

Kriterium

Länder

1

ohne besonderes Risiko

-

2

geringes Risiko

Slowenien, Tschechische Republik

3

begrenztes Risiko

Estland, Lettland, Slowakei, Ungarn

4

erhöhtes Risiko

Bulgarien, Kroatien, Litauen, Polen, Rumänien

5

stark erhöhtes Risiko

Armenien, Aserbeidschan, Bosnien-Herzegowina, Georgien, Serbien-Montenegro, Kasachstan, Kirgisien, Makedonien, Moldawien, Rußland, Tadschikistan, Ukraine, Usbekistan, Weißrußland

Quelle: Blick durch die Wirtschaft, 14.07.1994.S. 2.

[Seite der Druckausgabe: 25]

In einem Vergleich der ordnungspolitischen Rahmenbedingungen in ost- und mitteleuropäischen Ländern kommen Glismann/Schrader zu folgendem Ergebnis (vgl Tab. 12):

Tab. 12: Bewertung ordnungspolitischer Bedingungen in ost- und mitteleuropäischen Ländern 1991

Land/ Kriterium

Bulgarien

CSFR

Polen

Rumänien

Ungarn

Rechtssystem

6
5

4,5
3

5
2

6
4

2
1

Eigentumsfrage

3
5

1
1

2
2

2
4

6
3

Wettbewerbsregeln

1
2

4,5
4

4
1

3
5

4
3

Freiheit der Märkte

5
4

2
3

3
2

4
5

1
1

Makroökonomische Rollenverteilung

4
2

6
4

6
3

5
5

5
1

Außenwirtschaftliche Öffnung

2
4,5

3
4,5

1
1

1
3

3
2

Alle Kriterien

4

3

2

5

1

* Rangziffern über den erreichten Grad an Marktwirtschaft: Die erste Zeile gibt den Rang des jeweiligen ordnungspolitischen Kriteriums im Lande an (Rangzahlen von 1 bis 6); die zweite Zeile gibt den Rang an, den das jeweilige Land bei dem Kriterium im Ländervergleich einnimmt (Rangzahlen 1 bis 5). Je kleiner die Ranqzahl desto besser die Plazierung.
Quelle: H. Glismann, K. Schrader. Zur ordnungspolitischen Situation in den Ländern Osteuropas. in: Die Weltwirtschaft 2/1991,8.128.

Tab. 13 vermittelt auf der Grundlage einer Untemehmerbefragung aus dem Jahre 1991 einen Überblick über die Problemstruktur deutsch-polnischer Joint venture. An erster Stelle rangieren Probleme im Bereich der technischen Kommunikation, gefolgt von Schwierigkeiten im Umgang mit Behörden und qualifikatorischen Defiziten sowohl der polnischen Manager als auch der sonstigen polnischen Arbeitskräfte. Für unternehmerische Standortentscheidungen ist allerdings eine differenzierte Bewertung einzelner Standorte innerhalb eines Landes wie auch einzelner Branchen unerläßlich. Als Beispiele führte der Vertreter des DIHT die positiven Standortbedingungen hinsichtlich der Aufnahmefähigkeit des Marktes, des Arbeitsmarktes, der Industriebasis, des Klimas der Gewerbetätigkeit, der Telekommunikations- und Transportinfrastruktur in den Wojwodschaften Warschau, Kattowitz, Danzig, Posen, Stettin, Lodz, Krakau und Breslau an. Hingegen liegen die Wojwodschaften in Ost- und Zentralpolen im allgemeinen am unteren Ende der Skala.

[Seite der Druckausgabe: 26]

Tab. 13: Problemstrukturdeutsch- polnischer Joint Ventures

Probleme

Anzahl der Unternehmen*

Anteil in %

Rangziffer

instabile politische Rahmenbedingungen

46

34,6

6

unsichere rechtliche Rahmenbedingungen

43

26,3

14

unklare Regelungen des Liquidationstransfers

35

27,1

12

unzureichender Schutz des investierten Kapitals

36

26,9

13

mangelnde Versorgung mit Rohstoffen, Vorprodukten

32

23,9

15

unzureichende Fähigkeit polnischer Manager

59

44,4

3

unzureichende Fähigkeit polnischer Arbeitskräfte

50

37,6

4

Notwendigkeit zur Personalschulung/-ausbildung

43

32,4

9

unzureichende Qualität der lokalen Vorprodukte

38

28,6

11

unzureichende Qualität polnischer Produkte

44

33,1

7

zu hoher Aufwand bei Qualitätskontrolle

31

23,3

16

Schwierigkeiten im Umgang mit Behörden

84

63,2

2

schwierige Kalkulation wegen hoher Inflation

47

35,3

5

Wechselkursrisiko

42

31,6

10

Regelungen des Gewinntransfers

35

26,3

13

restriktive Devisen- und Außenhandelsvorschriften

44

33,1

7

Besteuerung von Erträgen und Gewinnen

18

13,5

17

staatliche Auflagen bei der Preisgestaltung

18

13,5

17

staatliche Auflagen bei tariflichen Sachverhalten

13

9,8

19

Probleme im Bereich der technischen Kommunikation

115

86,5

1

lange Wartezeiten an der Grenze

3

2,3

25

Mentalität der polnischen Landsleute

9

6,8

22

Korruption in jeder Form

4

3,0

24

fehlender Kapitalmarkt

5

3,8

23

arbeitsrechtliche Probleme

11

8,5

20

sonstiges

9

7,0

21


Quelle: G. Heiduk u.a.(Hrsg.), Deutsch- polnische Joint ventures, Hamburg 1991.S.48.

[Seite der Druckausgabe: 27]

Ähnliches gilt für die branchenmäßige Zuordnung des Investitionsrisikos. Angeführt wurde z.B. das niedrige Risiko im Bereich Backwaren und das sehr hohe Risiko im Bereich Traktoren. Ebenso weisen die Löhne einen hohen Differenzierungsgrad in Abhängigkeit von Branche, Geschlecht, Qualifikation und Region auf. Manche Führungskräfte in Polen sind z.B. schon so teuer, daß die Unterschiede schon sehr viel weniger beachtlich werden.

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3.6 Wirkungen von Produktionsverlagerungen auf die Länder Mittel- und Osteuropas

Für die Modernisierung der Wirtschaft in den Reformstaaten ist der Zustrom ausländische Kapitals unabdingbar. Die modernisierte Industrie schafft bessere Chancen für wirtschaftliches Wachstum, steigende Beschäftigung und steigende Einkommen. Produktionsverlagerungen tragen somit zu einer schnelleren Stabilisierung und zur Stärkung der Wirtschaftskraft der MOE-Länder bei. Sie schlagen sich unmittelbar in positiven Arbeitsplatzeffekten nieder.

Nicht übersehen werden sollte aber auch das Gefahrenpotential für die Entwicklung in den MOE- Staaten. Darauf wies ein Vertreter des Europäischen Parlaments mit Nachdruck hin. Durch die Einbindung der MOE- Unternehmen bestehe die Gefahr einer Festschreibung von Produkt- und Prozeßstrukturen, z.B.

  • Prozeßinnovationen werden vom westlichen Kooperationspartner nur soweit gefördert, wie es dessen Zulieferungsprodukt nützt,

  • bei einfachen Komponentenfertigungen werden F+E- Abteilungen ausgedünnt bzw. wegrationalisiert,

  • gut ausgebildetes Arbeitskräftepotential wird dequalifiziert,

  • auf arbeitsintensive Industriebranchen ("low wage, low tech"),

  • ungenügende Abstützung der exportorientierten Aufholstrategie durch binnenwirtschaftliche Maßnahmen.

Ein Vertreter der Wirtschaftsforschung gGmbH Berlin warnte ebenfalls vor negativen Folgen für die MOE-Staaten: Verlagerungen arbeits- und ressourcenintensiver Produktion brächten die Gefahr einer Konservierung veralteter Strukturen. Sensible Bereiche wie Kohle, Eisen/Stahl, Textil/Bekleidung, Landwirtschaft bestimmten schon heute zur Hälfte die Exporte Polens, Ungarns und der Slowakei in die EU.

[Seite der Druckausgabe: 28]

Auch Wirtschaftsvertreter der MOE-Länder äußerten die Befürchtung, nur zur verlängerten Werkbank des Westens zu werden. Heftig beklagt wurde, daß der Westen zwar einerseits die MOE-Länder als Absatzmarkt betrachte, andererseits aber die Öffnung des eigenen Marktes für osteuropäische Exporte behindere.

In der Tat dürfen nicht nur die Beschäftigungseffekte von Produktionsverlagerungen gesehen werden, sondern auch die, allerdings nur schwer abschätzbaren, Arbeitsplatzwirkungen, die von der Entwicklung der Handelsströme ausgehen. Hier ist eher eine weniger günstige Beschäftigungsbilanz der MOE-Länder zu vermuten: Ihre Leistungsbilanzen mit der EU sind negativ - sie haben mehr eingekauft als verkauft. Der deutsche Außenhandel mit den Staaten Mittel- und Osteuropas weist hingegen Überschüsse auf.

Nach der Einschätzung des Vorsitzenden der Gewerkschaft Textil und Bekleidung richtet sich eine Verlagerung von Niedriglohn- Produktionen in die MOE-Länder letztlich auch gegen die Interessen der MOE-Länder, eine eigenständige wirtschaftliche Entwicklung zu erreichen:

In der Textilindustrie entstünden durch Produktionsverlagerungen Schäden auf beiden Seiten: Die Produktion erfolge nur für einen "kurzen Zeitraum und der Gewinn verbleibe nicht vor Ort". Es käme nicht zum Aufbau moderner Produktion, nicht zur Stärkung der Wirtschaftskraft und nicht nur Stärkung der Kaufkraft. Der Lebensstandard eines Normalverdieners in Tschechien beispielsweise habe sich gegenüber 1990 nicht verbessert, sondern im Gegenteil verschlechtert. Auch innerhalb der MOE-Staaten würden Produktionsverlagerungen erfolgen, z.B. von Tschechien in die Ukraine. Die derzeitige Wanderungsbewegung der Wirtschaft stelle nur eine Zwischenstufe dar, "wenn der Rahm, die Sahne abgeschöpft sei, werde man sich in Richtung noch billigerer Standorte orientieren", befürchtete ein Betriebsrat.

Gegen diese Argumentation wurde eingewandt, daß Produktionsverlagerungen aus Westeuropa zu Lohnsteigerungen und somit sehr wohl zur Stärkung der Kaufkraft in den MOE-Ländern führen würden. Außerdem habe der Import billiger Produkte aus diesen Ländern wiederum Preissenkungen in Westeuropa und somit Realeinkommensgewinne zur Folge.

Die Ursache des niedrigen Lebensstandards in Osteuropa sei nicht die Lohnfertigung im Wege von Produktionsverlagerungen, betonte ein Vertreter des Ostausschusses/Kooperationsbüros der deutschen Wirtschaft, sondern der Zusammenbruch osteuropäischer Märkte innerhalb des RWG-Raums bzw. der Abbruch der Verzahnung der RGW-Länder.

[Seite der Druckausgabe: 29]

Auch die Ausrichtung auf "low-wage-" und low-tech-" Branchen wurde nicht unbedingt als längerfristig nachteilig angesehen: Viele Industriealisierungen hätten mit sogenannten verlängerten Werkbanken begonnen, gab ein SPD-Bundespolitiker zu bedenken. Notwendig sei eine "Tandemstrategie", die für beide Seiten von Nutzen sei, ein "Wandel durch Kooperation". Daß eine partnerschaftliche Kooperation erforderlich ist, damit auch auf Seiten der MOE-Staaten die Chancen von Produktionsverlagerungen deren Gefahren überwiegen, darüber bestand unter den Konferenzteilnehmern ein weitgehender Konsens. Allerdings können ausländische Investoren und Staaten die wirtschaftliche Entwicklung in den Reformstaaten nur bis zu einem gewissen Grade beeinflussen.

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3.7 Motive und erwartete Wirkungen aus Sicht der deutschen Bundesregierung

Die Bundesregierung unterstützt die mittel- und osteuropäischen Länder und die GUS- Staaten bei der Bewältigung ihrer Transformationsprobleme (vgl. Abschnitt 5.1).

  • Das Deutsche Engagement läßt sich von Überlegungen leiten, die auf die Vorteile wirtschaftlicher Kooperationen abstellen, aber auch die notwendige politische Stabilisierung in diesen Ländern unterstreichen:

  • Die Unterstützungsmaßnahmen sollen zu einer verbesserten Integration der Reformstaaten in den Prozeß der internationalen Arbeitsteilung und den Kreislauf der Weltwirtschaft beitragen. Ferner soll eine abgestufte Anbindung der mittel-, südost- und osteuropäischen Reformstaaten an den europäischen Integrationsprozeß gefördert werden.

  • Ohne wirtschaftliche und politische Stabilisierung in Mittel- und Osteuropa ist eine anhaltende Stabilität und Prosperität in Westeuropa nicht möglich. Sollten die Transformationsprozesse in den Reformstaaten scheitern, so könnte eine Migrationswelle bisher nicht erlebten Ausmaßes von Ost- nach Westeuropa drohen.

  • In den mittel- und osteuropäischen Staaten existieren Absatzmärkte mit erheblichem Wachstumspotential. So bieten sich neben dem Absatz von Konsumgütern für die deutsche Wirtschaft erhebliche Chancen bei der notwendigen Erneuerung des Kapitalstocks, der Infrastruktur sowie der Sanierung ökologischer Altlasten.

  • Die Energie- und Rohstoffversorgung aus Mittel- und Osteuropa, beispiels-

[Seite der Druckausgabe: 30]

    weise Öl- und Gaslieferungen aus Rußland, stellen für die Bundesrepublik einen bedeutsamen Inputfaktor dar. Eine Sicherung dieser Versorgung liegt im gemeinsam Interesse aller Beteiligten.

  • Die wirtschaftlichen Kooperationen deutscher Unternehmen in Mittel- und Osteuropa dienen nicht zuletzt auch der Stärkung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der Bundesrepublik und sichern damit Arbeitsplätze und Beschäftigungspotentiale für die Zukunft.

© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | November 2000

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