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TEILDOKUMENT:
[Seite der Druckausgabe: 70] 8. Handlungsbedarf und Handlungskonzepte Die Verkehrsverhältnisse unserer Städte und Gemeinden haben sich seit den 60er Jahren ständig verschlechtert. Eine Entschärfung dieser Situation ist nicht in Sicht. Im Gegenteil: Durch die Wiedervereinigung Deutschlands, durch die Öffnung der Grenzen nach Osteuropa und durch die Vollendung des europäischen Binnenmarktes steht der Verkehrssektor vor völlig neuen Anforderungen und Perspektiven. Weiter tragen wachsende Einkommen und mehr Freizeit erheblich zur Expansion der Verkehrsbedürfnisse bei. Die zunehmenden Bestände an Fahrzeugen und stetig steigende Fahrleistungen werden die Verkehrs- und Umweltprobleme weiter verschärfen. Es wird mit enormen Wachstumsraten gerechnet. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung erwartet bis zum Jahr 2010 pro Einwohner eine Zunahme der zurückgelegten Entfernungen um knapp 2.000 km auf fast 13.500 km, und im Güterverkehr soll der Verkehrsaufwand um über 60% auf 495 Mrd. Tonnenkilometer steigen. Bei diesen ohnehin schon beängstigenden Prognosewerten muß zusätzlich davon ausgegangen werden, daß sie - ebenso wie alle früheren Berechnungen - das tatsächliche Wachstum wohl unterschätzen. Es ist also mit noch größeren Verkehrs-, Umwelt- und Sicherheitsproblemen zu rechnen, wenn die Verkehrspolitik nicht gegensteuert. Fest steht, daß schon heute zu viele Autos unterwegs sind. Das weiß zwar jeder, aber nur wenige wollen es wahrhaben. Der Ausbau der Verkehrsinfrastruktur kann mit dem Wachstum der Verkehrsbedürfnisse nicht mehr mithalten. Die Gründe hierfür liegen u.a. in den langen Planungs- und Bauzeiten, in der finanziellen Situation von Bund, Ländern und Gemeinden, aber auch in den steigenden Umweltbelastungen und im stärkeren Umweltbewußtsein der Bevölkerung. Immer häufiger werden Ausweitungen des Straßennetzes von der Gesellschaft abgelehnt. [Seite der Druckausgabe: 71] Bei diesen sich abzeichnenden Entwicklungstrends im Verkehr reicht es nicht aus, wenn sich die Politik auf das Kurieren von Symptomen beschränkt. Es kann nicht darum gehen, mit immer mehr Aufwand Reste an innerstädtischer Lebensqualität zu retten und gleichzeitig den Autoverkehr flüssig zu halten. Verkehrsberuhigte Zonen, programmierte Ampelsteuerungen und kontrollierte Parkverbote sind als isolierte Handlungsansätze zum Scheitern verurteilt. Und auch die von der Elektronikindustrie im Verein mit den Autobauern angepriesene telematische Verkehrssteuerung ist kein Patentrezept für die Lösung aller Verkehrsprobleme und verkehrsbedingten Folgeprobleme. Notwendig ist vielmehr die Entwicklung und Umsetzung von abgestimmten, zukunftsweisenden Problemlösungen. Gesucht werden Konzepte, die die vorhandenen Kapazitätsreserven der Verkehrsinfrastruktur mobilisieren, und die die Verkehrsabläufe effizienter, effektiver, umweltverträglicher und sicherer machen. Zahlreiche derartige Konzepte, mit denen man versucht, den Zuwachs an Fahrzeugen und vor allem die daraus resultierenden Belastungen in den Griff zu bekommen, wurden in den letzten Jahrzehnten propagiert. Die Ergebnisse ihrer Umsetzung in die Praxis sind allerdings wenig ermutigend: Die Fahrleistung steigt stetig, alle früheren Prognosen einer Sättigung" haben sich als falsch erwiesen; der Bestand an Fahrzeugen wächst ständig, neuerdings mit hohen Zuwachsraten bei schweren Lkw; trotz deutlicher Verbesserung der Antriebstechnik steigen die verkehrsbedingten CO2-Werte; die Städte werden - trotz Verkehrsberuhigung und Fußgängerzonen - immer stärker vom Auto geprägt, Kinder haben auf Straßen schon lange keine Chance mehr; Reisezeiten werden staubedingt immer länger, etc. Mitentscheidend für diese unbefriedigenden Ergebnisse ist, daß es an Mut zur Umsetzung der Konzepte fehlt und unvermeidbare Interessenkonflikte nicht ausgetragen werden. Politiker der verschiedenen Entscheidungsebenen suchen nach Lösungen, die den Anforderungen aller Verkehrsteilnehmer [Seite der Druckausgabe: 72] gerecht werden. Sie nehmen deshalb die notwendigen Maßnahmen nur zögerlich in Anspruch, weil diese auch mit Restriktionen - insbesondere zu Lasten des Kfz-Verkehrs - verbunden sind oder Mobilitätseinschränkungen drohen. Verkehrspolitische Programme, die auf Infrastrukturausbau und weiter wachsende Verkehrsströme setzen, werden unsere Verkehrsprobleme aber nicht auf Dauer lösen. Notwendig sind vielmehr neuartige Konzepte, die Zielbeiträge zur Verkehrsvermeidung, zur Verkehrsverlagerung auf umweltverträglichere Verkehrsmittel, zur Verkehrssicherheit, zum Umweltschutz und zur Verbesserung der Verkehrsverhältnisse in den Städten und Gemeinden leisten. Hinzukommen müssen Maßnahmen, die die einzelnen Verkehrsträger und das gesamte Verkehrssystem in technischer und organisatorischer Hinsicht optimieren. Zwar sind auch Kapazitätsreserven der Infrastruktur zu erschließen, durch die Straßenbaumaßnahmen überflüssig werden - eine Strategie, die angesichts der angespannten Finanzlage der öffentlichen Hand zur Zeit besondere Beachtung verdient. Wichtig ist aber vor allem die Reduzierung der Verkehrs- und Transportentfernungen sowie der Verkehrs- und Transportmengen. Ziel sollte also nicht die maximale Auslastung der Infrastruktur, sondern die Optimierung der Fahrzeugauslastung sein. Es geht um die Einsparung von Fahrleistungen und um Verschiebungen des modal split in Richtung auf den Umweltverbund. Es geht um die Neujustierung der Verkehrslandschaft, in der die Mobilität mit weniger, aber effizienterem Verkehr sichergestellt wird. Hierfür muß die Politik die notwendigen ordnungs- und preispolitischen Rahmenbedingungen setzen - u.a. durch Tempo- und Verbrauchslimits, durch den Ausbau des ÖPNV, durch die Berücksichtigung der externen Kosten und durch den Verzicht auf kontraproduktive Subventionen. [Seite der Druckausgabe: 73] Unabhängig von diesen Bedingungen ist aber auch der einzelne Verkehrsteilnehmer in der Pflicht. Er kann die Verkehrs- und Umweltprobleme unmittelbar beeinflussen, indem er z.B. seine Freizeitaktivitäten stärker auf näher liegende Ziele konzentriert, indem er statt seines Autos intensiver das Fahrrad, den ÖPNV und die Bahn nutzt, oder indem er kein Auto mit hohem Verbrauchswerten (über 6 Liter pro 100 km) mehr kauft. Es liegt also auch in der Verantwortung jedes Einzelnen, ob und wie schnell wir zu einer zukunftsfähigen Mobilität kommen. © Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Mai 2000 |