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[Seite der Druckausgabe: 62 / Fortsetzung]

3. Was ist Flexibilität am Arbeitsmarkt?

In der aktuellen Diskussion um die Ursachen der Arbeitslosigkeit in Deutschland und anderen Ländern am meisten umstritten ist die Frage, ob mangelnde „Flexibilität des Arbeitsmarktes", was auch immer im einzelnen darunter verstanden werden mag, eine eigenständige Ursache der Arbeitslosigkeit ist. Vermutet wird, daß insbesondere in Europa die Arbeitsmärkte weit inflexibler als in den USA sind, und das erkläre die Persistenz der Arbeitslosigkeit seit Anfang der achtziger Jahre diesseits des Atlantik.

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"In der Tat weist der amerikanische Arbeitsmarkt weitaus geringere Reglementierungen und eine größere Flexibilität auf als die Arbeitsmärkte in den meisten EU-Ländern. Die Lohnbildung erfolgt dezentralisierter und marktnäher und vermag deshalb Unterschiede zwischen den Unternehmen hinsichtlich Faktorausstattung, Auftragslage, Wettbewerbssituation u.a., die selbst innerhalb der gleichen Branche auftreten können, besser Rechnung zu tragen als ein mehr zentralisierter Lohnfindungsprozeß, wie er in den meisten EU-Ländern vorherrscht. Insofern ist ein gesamtwirtschaftlicher Reallohnanstieg in seiner Wirkung auf die Beschäftigung in den USA sicherlich anders zu beurteilen als eine entsprechende Lohnsteigerung in Europa. Überdies ist in den USA die Lohndifferenzierung traditionell weitaus größer als in den EU-Ländern; so ist etwa die Spreizung der Einkommen zwischen dem obersten und untersten Dezil nach Berechnungen der OECD in den USA deutlich stärker als in den europäischen Ländern, im Vergleich zu Deutschland ist sie fast doppelt so hoch". [Fn.38: DIW (1997), Mehrheitsmeinung, S. 843.]

Nun wäre es naheliegend, die These von der mangelnden Flexibilität in Europa durch empirische Tests zu überprüfen. Bei näherer Betrachtung zeigt sich aber, daß keineswegs klar ist, was unter dem Begriff der „Flexibilität des Arbeitsmarktes" zu verstehen ist, und welche Beziehung es zwischen „Flexibilität" und Arbeitslosigkeit gibt.

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3.1 Gesamtwirtschaftliche Flexibilität

Generell ist ein Markt flexibel, wenn Angebot und Nachfrage ohne erhebliche Verzögerungen aus. Dies gelingt üblicherweise dann, wenn der Preis des an diesem Markt gehandelten Gutes flexibel ist, also auf einen Überschuß des Angebots über die Nachfrage mit einer Preissenkung und auf die umgekehrte Konstellation mit einer Preiserhöhung reagiert. Diese einfache Überlegung wird, insbesondere von Vertretern der neoklassischen Theorie, auf den Arbeitsmarkt übertragen. Bei Gültigkeit dieser Theorie folgt, daß die Existenz von Arbeitslosigkeit ein Beleg für die Inflexibilität des an diesem Markt relevanten Preises ist. Ganz unabhängig von der Frage aber, welches der an diesem Markt relevante Preis ist, der Nominallohn oder der Reallohn, ist keineswegs ausgemacht, daß sich die einzelwirtschaftliche Überlegung, nur ein unzureichend flexibler Preis könne die Ursache für ein Überschußangebot sein, auf gesamtwirtschaftliche Vorgänge übertragen läßt. Erstaunlicherweise gibt es nämlich auch auf dem Gütermarkt Phänomene, die aus neoklassischer Perspektive nur mit der Inflexibilität von Preisen erklärt werden könnten, die jedoch niemand, auch die neoklassischen Ökonomen nicht, auf diese Weise erklärt.

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Im Zuge der wirtschaftlichen Entwicklung verändert sich in allen Volkswirtschaften dieser Welt nicht nur die Auslastung des vorhandenen Bestandes an Arbeitskräften, sondern - sogar jeweils in den gleichen Zeiträumen - auch die Auslastung des Sachkapitalbestandes. Warum gibt es eine steigende und eine sinkende Kapazitätsauslastung? Sind die Preise für Kapitalgüter nicht flexibel? Warum können Konsumgüter nicht mehr abgesetzt werden, die man vorher gut verkaufen konnte? Sind die Konsumgüterpreise nicht flexibel genug? Neben der Auslastung der Kapazitäten schwanken auch die Investitionen selbst im Rhythmus des Konjunkturzyklus. Warum gibt es Phasen sinkender Investitionen? Sind die Zinsen nicht flexibel genug?

Man mag einwenden, beides, die Schwankungen der Kapazitätsauslastung und die Schwankungen der Investitionstätigkeit, seien rein zyklische Phänomene. Aber zum einen gibt es lang anhaltende Phasen von Investitionsschwäche und geringer Auslastung der Kapazitäten, und zum anderen wird eine über das zyklische Phänomen hinausgehend andauernde Unterbeschäftigung von Sachkapazitäten nicht statistisch erfaßt, da solche Kapazitäten früher oder später vom Markt verschwinden, da sie von den Eigentümern als nicht mehr verwendbar eingestuft und vollständig abgeschrieben werden. Arbeitskräfte, die lange unterbeschäftigt sind, können nicht einfach „abgeschrieben" werden, obwohl die zugrundeliegenden Zusammenhänge wie etwa der Verlust von Leistungsfähigkeit und Dequalifikation beim Faktor Arbeit einerseits und der Entwertung des Faktors Kapital andererseits nach Phasen lang anhaltender Unterbeschäftigung durchaus vergleichbar sind.

Die Tatsache jedenfalls, daß Beschäftigung wie Arbeitslosigkeit, aber auch die Güterproduktion einem zyklischen Muster folgen, paßt in keiner Weise zu der schlichten Behauptung, wenn Arbeitslosigkeit herrsche, sei der Lohn zu hoch. Die Analyse des Arbeitsmarktes auf gesamtwirtschaftlicher Ebene erfordert wie die des gesamtwirtschaftlichen Gütermarktes eine andere als die partialanalytische Herangehensweise. Das liegt daran, daß nur in einer gesamtwirtschaftlichen Betrachtung, die die wirtschaftliche Dynamik in Form von Ungleichgewichten abbildet, der Rolle der Investitionen und damit der Unsicherheit über die Zukunft angemessen Rechnung getragen werden kann. Hinzu kommt, daß das Entstehen von Arbeitslosigkeit nicht unabhängig vom Entstehen globaler Ungleichgewichte an den Konsumgütermärkten und an den Märkten für Investitionsgüter ist. Aus beiden Gründen ist es vollkommen ungerechtfertigt zu behaupten, der Markt für Arbeit sei in gleicher Weise organisiert wie der Markt für Kartoffeln oder der für Zahnpasta.

Implizit hat dies auch die neoklassische Theorie anerkannt, indem sie - ganz anders als am Kartoffelmarkt - von Anfang an nicht den zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer ausgehandelten Nominallohn als den relevanten Preis am Arbeitsmarkt angesehen hat, sondern den „Reallohn", also den Lohn, der sich ergibt, wenn vom ausgehandelten Nominallohn der Ge-

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winn oder Verlust an Kaufkraft hinzugezählt oder abgezogen wird, der sich infolge der Veränderung der Güterpreise ergibt. Das ist die Anerkenntnis der unbestreitbaren Tatsache, daß es einen engen Zusammenhang zwischen dem Arbeitsmarkt und dem Gütermarkt gibt, da der Gleichgewichtspreis des einen nicht ohne den Durchschnitt der Gleichgewichtspreise des anderen bestimmt werden kann.

Exakt an dieser Stelle verliert aber das Schlagwort von der „Flexibilität des Arbeitsmarktes" jede konkrete Bedeutung. Es ist nämlich zwingend, daß der nach Auffassung der neoklassischen Theorie für den Arbeitsmarkt relevante Preis, der Reallohn, nur dann flexibel ist, wenn entweder das Güterpreisniveau flexibler ist als der Nominallohn oder umgekehrt der Nominallohn flexibler ist als das Güterpreisniveau. Sind beide in Bezug auf Über- oder Unterbeschäftigung des jeweiligen Marktes gleich flexibel, ist der Reallohn inflexibel, wenn Über- oder Unterbeschäftigung auf dem Arbeits- und dem Gütermarkt gleichzeitig auftritt. Eine solche Parallelentwicklung ist, wie die Abbildungen 3, 18 und 19 zeigen, der Normalfall.




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So schwankt die Erwerbstätigkeit nahezu gleichförmig, leicht verzögert, mit der Investitionstätigkeit. Diese wiederum bestimmt die Auslastung der Kapazitäten mit einer ähnlichen zeitlichen Verzögerung. Entsprechend eng ist der zyklische Zusammenhang zwischen Erwerbstätigkeit und Kapazitätsauslastung. Doch führen lang anhaltende Phasen von Investitionsschwäche zu einem stärkeren Abbau der Sachkapazitäten. Infolgedessen normalisiert sich die Auslastung der Sachkapazitäten in jedem Zyklus wieder, nicht jedoch die der Erwerbspersonen. Arbeitslose lassen sich eben nicht abschreiben wie Maschinen. Statistisch schlägt sich daher eine lang anhaltende Investitionsschwäche im Niveau der Erwerbstätigkeit anders nieder als im Niveau der Kapazitätsauslastung.

Der Reallohn ist dann flexibel, wenn z.B. die Güterpreise flexibel sind und gleichzeitig der Nominallohn relativ starr ist. Rigide Nominallöhne aber bedeuten offenbar gerade nicht, daß auf der Ebene der Gesamtwirtschaft die Tarifpartner versuchen, mit möglichst raschen Reaktionen auf Veränderungen der Beschäftigungssituation zu reagieren. Bei Gültigkeit der neoklassischen Beschäftigungstheorie müßte man folglich Tarifverhandlungen empfehlen, die -weitgehend unabhängig von der konkreten wirtschaftlichen Situation - eine große Kontinuität der Nominallohnentwicklung garantieren. Damit scheiden für die Anhänger dieser Theorie sicher schon alle die Tarifverhandlungsmodelle aus, bei denen eine rasche Reaktion der Nominallöhne auf Veränderungen der Auslastung von Arbeit und Kapital das hervorstechende Charakteristikum sind, also alle Modelle von Verhandlungen auf Betriebsebene.

Nun kann, wie oben gezeigt, die neoklassische Beschäftigungstheorie keineswegs allgemeine Gültigkeit beanspruchen, da sie die empirisch festzustellende Zyklizität von Investitionen, Produktivität und Beschäftigung nicht nur nicht erklären kann, sondern sogar das Gegenteil suggeriert. Die neoklassische Modellwelt impliziert eine gegenläufige Entwicklung von Investitionen und Produktivität auf der einen und Beschäftigung auf der anderen Seite, eben die Substitution von Arbeit durch Kapital bei steigendem Reallohn im Verhältnis zum Realzins und umgekehrt. Zu beobachten ist jedoch das Gegenteil (Abbildungen 20 und 21). Sowohl in der Gesamtwirtschaft als auch in der Industrie, deren Produktionsschwankungen den gesamtwirtschaftlichen Zyklus prägen, entwickelt sich die Produktivität eindeutig prozyklisch.

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Jenseits der neoklassischen Modellwelt hat die Reallohnflexibilität gleichwohl eine große Bedeutung. Allerdings nicht hinsichtlich der Bestimmung der Beschäftigung. Reallohnflexibilität ist wichtig zur Absorption von Angebotsschocks. Die beiden Ölpreisexplosionen wurden beispielsweise von denjenigen Ländern besonders gut verkraftet, in denen die Nominallöhne in hohem Maße rigide und damit die Reallöhne sehr flexibel waren. Das liegt daran, daß Angebotsschocks in erster Linie Einkommensschocks, nicht aber unmittelbar Beschäftigungsschocks sind. [Fn.39: Vgl. Flassbeck, Horn, Zwiener (1992).] Wenn allerdings die Nominallöhne sehr flexibel und damit die Reallöhne inflexibel auf den Angebotsschock reagieren, steigt die Inflationsrate infolge der raschen Reaktion der Löhne auf die mit dem (negativen) Angebotsschock verbundene Preiserhöhung besonders stark. Dann treten in der Regel auch starke Beschäftigungseffekte auf, weil die Geldpolitik versucht, eine Inflationsbeschleunigung durch monetäre Restriktion zu vermeiden, und auf diese Weise die Auswirkungen des negativen Angebotsschocks von einem negativen Nachfrageschock überlagert werden.

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Negative Nachfrageschocks können aber nur bei hoher nominaler Flexibilität der Löhne rasch absorbiert und hinsichtlich der negativen Beschäftigungs- und Investitionseffekte in Grenzen gehalten werden. Sinken im Gefolge einer monetären Restriktion, also einer Verminderung (geringeren Zunahme) der realen Geldmenge die Löhne und Preise rasch, wird die reale Geldmenge ohne unmittelbares Eingreifen der Notenbank wieder ausgeweitet und der Zins gesenkt. Das ist der Effekt, den Keynes „monetary management by the trade unions" genannt hat. Das Vorherrschen von Bedingungen, bei denen Nachfrageschocks bzw. geldseitige Schocks ohne weiteres absorbiert werden, steht somit in einem Konflikt mit dem Vorherrschen von Bedingungen, bei denen angebotsseitige Schocks ohne weiteres absorbiert werden. Inflexibilität der Nominallöhne nach oben und Flexibilität nach unten kann man zwar fordern, aber es gibt keine marktwirtschaftlichen Institutionen, die eine solche Konstellation mit sich bringen. Daraus folgt, daß Länder, die besonders erfolgreich bei der Absorption von Ange-

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botsschocks sind, also rigide Nominallöhne aufweisen, besonders empfindlich auf Nachfrageschocks reagieren. Das dürfte grosso modo in Deutschland und den USA der Fall sein.






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3.2 Strukturelle Flexibilität

Angesichts des zumindest diffusen Befundes bei der gesamtwirtschaftlichen Flexibilität der Löhne wird von neoklassisch argumentierenden Autoren mehr und mehr davon gesprochen, ebenso wichtig oder gar noch wichtiger sei die „strukturelle Flexibilität" der Löhne bei der Erklärung der Arbeitslosigkeit. Gemeint ist damit wohl die Flexibilität der Löhne im Hinblick auf Qualifikationsunterschiede sowie Unterschiede hinsichtlich der Anpassung an räumliche, sektorale oder gar betriebliche Bedingungen.

Das gravierendste Mißverständnis bei dieser Art der Analyse ist die Vermutung, „strukturelle Inflexibilitäten" könnten die gesamtwirtschaftlich zu beobachtende Arbeitslosigkeit oder auch internationale Unterschiede im Niveau der Arbeitslosigkeit erklären. Das können sie natürlich definitionsgemäß nicht. „Strukturelle Inflexibilitäten", was immer damit im einzelnen gemeint

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sein mag, können „strukturelle Merkmale" von Arbeitslosigkeit oder Unterschiede bei diesen Merkmalen zwischen Ländern erklären. Ein gesamtwirtschaftlich angemessenes Lohnniveau kann aber nicht dadurch unangemessen werden, daß die „Struktur" nicht stimmt. Wenn die Löhne etwa in einer Region „zu hoch" sein sollten, müssen sie in einer anderen „zu niedrig" sein. Werden gering Qualifizierte "zu hoch" bezahlt, denn erhalten hoch Qualifizierte "zu wenig" Lohn. Regionale oder qualifikationsmäßige Unterschiede in der Arbeitslosigkeit mag das erklären, das Niveau der Arbeitslosigkeit in einem Land insgesamt aber nicht.

Flexibilität ist jedoch auch auf disaggregierter Ebene kein ohne weiteres angemessenes Konzept. Unter den Bedingungen einer idealen Marktwirtschaft kann es nur eine einzige Regel für die Entlohnung bestimmter Segmente des Arbeitskräfteangebots geben. Der Lohn muß - hier genau wie der einzelne Preis am Gütermarkt - der Knappheit der Arbeitskraft entsprechen. Gleiche Knappheiten werden in allen Verwendungen exakt gleich bezahlt. Dieses Modell ist offenbar verwirklicht, wenn vollkommene Mobilität der Arbeitskräfte herrscht. Der Unternehmer ist dann - wie bei allen Vorleistungen, die er bezieht - Preisnehmer, das heißt, er hat keinerlei Einfluß auf den Preis des Vorleistungsgutes oder der Arbeitskraft. Kann er die Vorleistungen einschließlich Arbeit nicht mehr aus seinen Erlösen bezahlen, muß er aus dem Markt ausscheiden.

In dieser rein marktwirtschaftlichen Welt ist der Lohn folglich im Hinblick auf viele heute diskutierte Sachverhalte, wie die Situation des Betriebes, der Branche oder der Region, äußerst rigide. Gleichwohl empfehlen gerade Autoren neoklassischer Prägung weit größere „Flexibilität" der Löhne auch im Hinblick auf diese Tatbestände. Damit stellt sich die Frage, ob die tatsächlich gegebene teilweise Immobilität der Arbeitskräfte im Sinne einer Differenzierung nach Betrieben oder Regionen bei der Entlohnung gleicher Knappheiten systematisch genutzt werden sollte.

Die Frage muß offenbar, wie bei jeder anderen Differenzierung von Preisen zwischen Betrieben und Regionen - man denke nur an die Bedeutung staatlicher Subventionen -, mit Blick auf die Veränderung (Verzerrung) von unternehmerischen Anreizstrukturen und deren Auswirkungen auf das gesamtwirtschaftliche Wachstum beantwortet werden. Stehen zwei Unternehmen im Wettbewerb auf dem gleichen Markt, und droht eines der Unternehmen endgültig gegenüber dem Konkurrenten zurückzufallen, muß es nach der Differenzierungslogik nur mit seinen Arbeitnehmern einen niedrigeren Lohn aushandeln, um seine Wettbewerbsfähigkeit zurückzugewinnen. Das Unternehmen nutzt also seine schlechte Lage als Drohpotential gegenüber den Arbeitskräften, um seine Wettbewerbsposition wieder zu vergessen. Hier zeigt sich eine vollständige Analogie zur staatlichen Subvention. Ob die Entlastung für das Unter-

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nehmen durch die Ausnutzung der Immobilität der Arbeitskräfte oder durch die Drohung mit der Entlassung von Arbeitskräften gegenüber dem Staat erreicht wird, ist belanglos.

Der vorher technologisch überlegene Wettbewerber wird sich nun fragen, ob er nicht auf dem gleichen Wege wie sein Konkurrent, also nicht durch innovatives Verhalten, sondern durch Senkung der Löhne seiner Belegschaft, seinen Wettbewerbsvorsprung zurückzugewinnen versuchen sollte. Denn innovatives Verhalten ist aus einzelwirtschaftlicher Sicht risikoreicher als die Durchsetzung einer Lohnsenkung per Entlassungsdrohung in einem Umfeld, das den Weg der reinen Kostensenkung beschreitet. Die Innovation eines einzelnen Unternehmens kann ihrerseits nämlich nur dann ihre kostensenkende Wirkung für das Unternehmen entfalten, wenn die Nachfrage zunimmt oder zumindest nicht insgesamt rückläufig ist. Das ist aber sehr unwahrscheinlich, wenn andernorts die Arbeitseinkommen gekürzt werden und die Verbraucher auf diese Weise verunsichert sind.

Der Wettbewerber wird also schließlich auch mit seinen Arbeitnehmern über niedrigere Löhne verhandeln oder vom Staat Subventionen fordern. Hat ein solcher Wettlauf der Kostensenkung jenseits des marktwirtschaftlichen Prinzips, daß ein einzelnes Unternehmen für alle Vorleistungen Preisnehmer und nicht Preissetzer ist, erst einmal begonnen, setzt nur die Mobilität der Arbeitnehmer dem eine Grenze. Diese Art von Wettbewerb um die „besten" Verhandlungsergebnisse mit den Arbeitnehmern oder dem Staat hat nichts mit dem normalen Wettbewerb der Unternehmen um Märkte zu tun. Der normale Wettbewerb ist nämlich ein Wettbewerb um Innovationen, der allerdings nur funktionieren kann, wenn alle Unternehmen dem 'law of one price' unterliegen, der Restriktion also, daß für gleich knappe Güter und Vorleistungen der gleiche Preis zu zahlen ist. Wird diese Restriktion beim Faktor Arbeit via dezentralisierte Lohnverhandlungen aufgehoben, muß die Volkswirtschaft dies mit Innovations- und das heißt mit Wachstumseinbußen bezahlen.

Da diese Überlegung in beiden Richtungen gilt - für den Fall des drohenden Konkurses ebenso wie für den Fall eines zu erwartenden Pioniergewinns -, folgt aus dem Wettbewerb der Unternehmen um platte Kostensenkung ebenso wie aus dem von Staaten (Steuer-, Sozialver-sicherungssenkungswettlauf) keineswegs ein insgesamt positiver Effekt. Pioniergewinne der Unternehmen verschwinden ebenso wie Marktlagenverluste oder Verluste aufgrund schlechten Managements. Da Kostensenkung ein relatives Konzept ist, kann sie nur erfolgreich sein, wenn es eine Konstante gibt, also einen Wettbewerber oder einen Staat, der sich nicht nach unten anpaßt oder anpassen kann. Im besten Fall ist es die Zentralbank, so daß der Wettbewerb um Kostensenkung bei sinkenden Preisen und damit wieder beim „monetary management of the trade unions" endet. Das ist darüber hinaus nur solange sinnvoll, als sich die In-

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fiationsrate oberhalb des Ziels der Zentralbank befindet und noch keine deflationären Tendenzen drohen.

Eine Ausbeutung der Immobilität der Arbeitskräfte ist also nichts anderes als die Ausbeutung der häufig schwachen Lage das Staates, wenn etwa infolge der Konzentration eines Sektors in einer Region eine besondere regionale Schieflage am Arbeitsmarkt droht. In Notlagen mag man einmal auf Subventionen durch den Staat oder die Arbeitnehmer zurückgreifen, daraus eine Regel zu machen, zerstört marktwirtschaftliche Anreizmechanismen für die Zukunft und folglich gerade die besonderen Einkommenschancen, die die Marktwirtschaft bietet. Daraus folgt, daß bei Immobilität von Arbeit zentralisierte Lohnverhandlungen mit hoher interregio-naler und interbetrieblicher Rigidität nichts anderes darstellen als eine Simulation idealtypisch marktwirtschaftlicher Verhältnisse. Insofern sind hier Forderungen nach „hoher Flexibilität" in einem marktwirtschaftlichen Kontext völlig fehl am Platze. Empirische Tests, die in anderen Ländern eine hohe interregionale und interbetriebliche Differenzierung der Löhne konstatieren, können weder eine unterschiedliche Entwicklung der Arbeitslosigkeit erklären, noch einen Hinweis auf Fehlentwicklungen in den Ländern geben, die sich der Differenzierung noch widersetzen.

Bleibt die Differenzierung der Entlohnung nach Qualifikation. Die Differenzierung nach Qualifikation ist zwar nicht deckungsgleich mit der Knappheit, sie kann aber mit einigen Abstrichen als eine Annäherung an das Knappheitsprinzip betrachtet werden. Eine solche Lohndifferenzierung bei insgesamt produktivitätsorientierter Entwicklung des Lohnniveaus verhindert keine Innovationen und damit Sachinvestitionen. Vielmehr setzt sie zusätzliche Anreize, in produktives Humankapital zu investieren. Insofern fordert sie grundsätzlich gesamtwirtschaftliches Wachstum.

Ungelöst ist gleichwohl die Frage, wie eine „falsche" Struktur der Entlohnung nach Qualifikationen empirisch festgestellt werden kann. Die OECD beispielsweise [Fn.40: OECD (1997), S. 100, 101.] vergleicht die Veränderung der Beschäftigung im obersten und untersten Quintil mit der Veränderung der Lohnrelation zwischen diesen Quintilen und kommt zu dem Ergebnis, daß die Lohnstruktur praktisch nur in den USA und in Großbritannien marktwirtschaftlichen Prinzipien folgt. Das ist unhaltbar, da der Angebotsüberschuß am Arbeitsmarkt, die Arbeitslosigkeit also, der einzige relevante Mengenindikator ist. Denn die Beschäftigung hängt von vielen anderen Einflußfaktoren, wie beispielsweise von der Entwicklung der Qualifikation des Arbeitsangebots oder der sektoralen Struktur einer Volkswirtschaft ab. Betrachtet man aber die Arbeitslosigkeit der

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unterschiedlichen Qualifikationen, schneiden die USA und Großbritannien keineswegs besser ab als Länder wie Deutschland, in denen sich die Lohnstruktur seit Anfang der achtziger Jahre nicht verändert hat.

Das ist um so erstaunlicher, als die USA und Großbritannien insgesamt - aus ganz anderen Gründen - eine wesentlich bessere Arbeitsmarktbilanz aufweisen als Kontinentaleuropa. Bei einer geringeren allgemeinen Arbeitslosigkeit müßte jedoch die Arbeitslosigkeit gering Qualifizierter auch ohne stärkere Spreizung der Lohnstruktur weit unterhalb der deutschen liegen, was wie gesagt nicht der Fall ist. Es spricht nämlich vieles dafür, daß die Unternehmen in einer Rezession oder auch einer länger andauernden Schwächephase zuerst die geringer qualifizierten Arbeitskräfte entlassen, da sie in deren Ausbildung am wenigsten investiert haben. Eine generell höhere Betroffenheit gering qualifizierter Kräfte von einem Anstieg der Arbeitslosigkeit ist folglich noch kein Indiz für eine falsche Lohnstruktur, wenn man, wie das für Deutschland der Fall ist, zeigen kann, daß diese Arbeitskräfte im Aufschwung auch besonders rasch und in überproportionalem Maße wieder eingestellt werden.

Der Befund einer zunehmenden Lohnspreizung nach Qualifikation in den USA und Großbritannien auf der einen Seite und einer fast unveränderten Lohnspreizung in Deutschland und den meisten Ländern Kontinentaleuropas auf der anderen sagt folglich vor allem etwas über die unterschiedliche Knappheit bestimmter Qualifikationen und womöglich einer generell schlechteren Ausbildung der amerikanischen und britischen Arbeitskräfte aus. Ob das Lohnniveau in Deutschland und Kontinentaleuropa für diese Arbeitskräfte zu hoch ist, kann sich im Grunde erst zeigen, wenn in einem Aufschwung deren Arbeitslosigkeit nicht in einem vergleichbaren Ausmaß zurückgeht, wie sie im Abschwung zugenommen hat.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Oktober 1999

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