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[Seite der Druckausgabe: 4]

1. Die 'Platte': industrieller Wohnungsbau in Großsiedlungen als sozialistisches Konzept zur Lösung des Wohnungsproblems



1.1 Entwicklung des DDR-Wohnungsbaus bis 1989

Der DDR Wohnungsbau war Teil der zentral geplanten und gelenkten Wirtschaftsordnung und entwickelte sich gemäß politischer Rahmenvorgaben, Dabei wurde von der politischen Führung eine klare Priorität formuliert: beim Einsatz knapper Mittel sollten über eine beschleunigte Neubautätigkeit die ehrgeizigen Planvorgaben des Wohnraumzuwachses erreicht werden, wobei die Erhaltung der Altbausubstanz in den Innenstädten vernachlässigt wurde Diese verfiel zusehends bis zur Unbewohnbarkeit ganzer Straßenzüge, nicht zuletzt, weil die Mieteinnahmen oft nicht einmal die Betriebskosten, geschweige denn die Aufwendungen für Instandhaltung und Modernisierung deckten So kam es trotz hoher Zuwachsraten bei der Fertigstellung zu einem dauernden Fehlbedarf, der sich in einem hohen Rückstau von Wohnungsanträgen äußerte

Schon in der Wiederaufbauphase der ostdeutschen Bauwirtschaft arbeitete man mit standardisierten Konstruktionen und vorgefertigten Bauteilen um Planungskapazitäten zu sparen und Errichtungszeiten zu verkürzen Ziel war eine „systematische Verjüngung" des Wohnungsbestandes bei einem minimierten Aufwand mittels Fertigbauten in Reihen- und Gruppenhausausführung. Im Laufe der Zeit erhöhte sich der Anteil der nach 1945 errichteten Gebäude vor allem auf Grund der mangelnden Bestandspflege durch Kommunale Wohnungsverwaltungen und Betriebe. Bei den staatlich auf dem Niveau von 1936 eingefrorenen Mieten unterblieb selbst die minimale Bestandssicherung (Abdichtung von Dächern, Reparatur von defekten Fenstern und Türen, Wartung der Leitungssysteme) vor allem im Altbaubestand. Private Besitzer gaben oft ihr Eigentum auf, da sie die Kostenbelastung nicht tragen konnten. Wegen des kontinuierlich fortschreitenden Verfalls wurde der Leerstand bei Wohnungen in Staatsbesitz 1981 auf ca. 200.000 Einheiten geschätzt Davon waren 80.000 als einsturzgefährdet gesperrt. Seit 1981 dürfte sich der Leerstand auf Grund der unterlassenen Instandhaltungsmaßnahmen weiter drastisch erhöht haben. Darin enthalten sind diejenigen Wohnungen, die so gravierende Mängel aufwiesen, daß sie nach 1990 grundsaniert oder abgerissen werden mußten, (vgl. Behring u a. 1993.S. 35 ff.)

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Endgültig wurde die Wohnungswirtschaft der DDR auf die Neubautätigkeit orientiert durch das von Honecker 1971 auf dem VIII. Parteitag der SED formulierte Ziel bis 1990 „das Wohnungsproblem als soziales Problem zu lösen". Dieser Parteiauftrag stellte die Wohnungsbaukombinate vor eine gewaltige Aufgabe, die zu einer weiteren Verschiebung der Eigentumsstruktur im ostdeutschen Wohnungswesen führen mußte. Die erhebliche Bestandsvergrößerung wurde vorrangig durch die Errichtung neuer Großsiedlungen in 'komplexer' d.h. industrieller Bauweise vor allem in der neuen Ausführungsform der sog. Wohnbauserie (WBS) 70 gelöst. Diese beruht auf der Montage von großen vorgefertigten Betonteilen und läßt nur eine sehr begrenzte Variation des Wohnungsschnittes und in der Ausführung der Installationen zu. Trotzdem waren die neuen Wohnungen in der Bevölkerung heiß begehrt, weil sie einen vergleichsweise hohen Wohnkomfort boten und die soziale Grundversorgung in den Siedlungen gerade für berufstätige Frauen einen starken Anreiz darstellte. Dabei war sicherlich das unzureichende Wohnungsangebot ausschlaggebend, das sich an den jahrelangen Wartezeiten auf eine neue Wohnung zeigte: 1989 lagen ca. 800.000 Wohnungsanträge vor, mit einer durchschnittlichen Laufzeit von vier bis sechs Jahren (vgl. Sander 1994, S. 8/9). Gerade für junge und qualifizierte Berufstätige boten die Plattenbausiedlungen die einzige Möglichkeit eine attraktive Stelle in einem Ballungsgebiet anzutreten und eine Familie zu gründen. Diese waren zumeist Erstmieter unmittelbar nach Fertigstellung der Siedlungen, bzw. erlebten die Schlußphase der Bautätigkeit bereits als Mieter. Um die Akzeptanz der Plattenbausiedlungen durch die Bewohner richtig einschätzen zu können, muß diese Ausgangslage berücksichtigt werden. Eine sozial ungewöhnlich inhomogene Mieterschaft entwickelte in der Mangelgesellschaft wirksame informelle soziale Netze, die die Identifikation mit der Hausgemeinschaft erhöhten.

Unter dem Druck hoher Planungsauflagen und angesichts des ständigen Materialmangels bzw. der unzureichenden Baukapazitäten orientierte man sich an der Zahl der fertiggestellten Wohneinheiten. Die Qualität der verarbeiteten Baustoffe und der Bauausführung ließen gerade bei den seit Ende der siebziger Jahren errichteten Gebäuden erheblich zu wünschen übrig So zeigt sich schon in Mitte/Ende der achtziger Jahre fertiggestellten Siedlungen ein erheblicher Sanierungsbedarf. Eine erste Bestandsaufnahme dieser Mängel erfolgte durch die Studie der Wüstenrot-Stiftung (vgl. Barleben u.a. 1993) und im Rahmen des Sondergutachtens zur Wohnungspolitik in den NBL der Expertenkommission im Auftrag der Bundesregierung. Diesem Gutachten ist die folgende Aufstellung der typischen baulichen Mängel im DDR-Plattenbau entnommen:

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Tabelle l:

Mängel und Konflikte in industriell gefertigten Großsiedlungen

Wohnungs- und gebäudebezogene Mängel

unmittelbares Wohnumfeld

Wohngebietsbezogene Defizite




mangelhafte Fenster und Türen

monotone Fassadengestaltung

Lagebeziehungen zur „Altstadt": fehlende Verbindungselemente

ungenügender Trittschallschutz

zu hohe Bebauungsdichte: Probleme der Belichtung und Besonnung

Soziale Infrastruktur/Gewerbe

Einkaufsmöglichkeiten für Waren des täglichen Bedarfs weitgehend vorhanden, Spezialangebote fehlen

unbefriedigender Zuschnitt der Wohnungen

keine Trennung von öffentlichem und privatem Bereich

ungenügende Dienstleistungsangebote

nicht zeitgemäße Sanitärausstattung

Grünflächen z.T. zu gering, oft ungepflegt oder als PKW-Abstellmöglichkeiten genutzt

medizinische Versorgung durch ehemalige Ambulanzen (jetzt Ärztehäuser) im wesentlichen abgesichert

undichte Fugen: Durchfeuchtung der Außenwand in Teilbereichen

Gestaltungsmängel: Müllentsorgung (Containerplätze), Spielplätze, Einrichtungen der Hauswirtschaft

Kultur- und Freizeiteinrichtungen fehlen weitgehend

unzureichende Wärmedämmung (Kellerdecken, Außenwände)

Gestaltung der Hauseingangsbereiche mangelhaft (Eingangszone, Fahrradabstellmöglichkeiten u.a.)

Verkehr:

Flächen für ruhenden Verkehr nicht ausreichend (0,6 - 0,7 Stellplätze pro Wohneinheit)

z.T. unwirksame Feuchtigkeitssperren u. defekte Dachentwässerung

keine Erholungs- und Kommunikationsmöglichkeiten (Sitzgruppen)

Haltestellennetze für ÖPNV nicht optimal

Einrohrheizungen, fehlende Heizkostenverteiler, Wasserzähler

keine baulichen Voraussetzungen für Behinderte (Rampen)

Mangel an verkehrsberuhigten Zonen

in Aluminium ausgeführte Elektroin-stallationen


hohes Fahrzeugaufkommen durch sprunghaft gestiegenen Motorisierungsgrad

vorzeitiger Verschleiß der Warmwasser-Zirkulationsleitungen und der Dachbeläge


Ortsbildqualität / Baustruktur:

Monotonie: gestaltete Kleinräume fehlen

konstruktive Mängel bei den Anschlüssen an Dachaufbauten und einstiegen sowie Balkonen/Loggien


städtebauliche Auftaktelemente fehlen im allgemeinen

Risse / Abplatzungen an Außen- und Innenwänden unzureichender Brandschutz


Gebäudeelemente in einigen Bereichen „abgeschnitten", keine Verbindungsbauten

Quelle: Expertenkommission Wohnungspolitik für die NBL 1994, S. 16

Zusammenfassend läßt sich die Situation der DDR-Wohnungswirtschaft 1989/90 durch die folgenden Zahlen umreißen: 1989 umfaßte der Wohnungsbestand etwa 6,6 Mio. Wohnungseinheiten [Fn. 1: Diese Angabe ist dem Statistischen Jahrbuch der DDR entnommen. Nach Schätzungen des ifo-Instituts ist sie um ca. 400.000 Einheiten überhöht, da sie Zusammenlegungen bzw. Umwidmungen von Wohnungen unterschätzt (vgl. Sander 1994, S. 58 Fn 6).] . Das entsprach einer Relation von ca. 400 Wohnungen auf 1.000 Einwohner. Der

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Neubau war seit Mitte der achtziger Jahre rückläufig: 1989 wurden noch knapp 90.000 Wohneinheiten fertiggestellt. Die Eigentumsverteilung dieses Gesamtbestandes stellte sich wie folgt dar: 41 % befanden sich in Privatbesitz (davon 24 % selbstgenutzt und 17 % vermietet), 17 % im Besitz von Genossenschaften und 42 % waren Volkseigentum. Dieses belief sich damit auf ca. 2,7 Mio. WE, darunter 150.000 Werkswohnungen. Diese teilen sich auf in ca. 220.000 Wohnungen in Ein- und Zweifamilienhäusern und 2.550.000 Wohnungen in Mehrfamilienhäusern, einschließlich der Großsiedlungen in Plattenbauweise. Anders gesagt, 92% des Wohneigentums in öffentlicher Hand sind Geschoßwohnungen, die nur als Eigentumswohnungen privatisiert und/oder vermietet werden können, (vgl. Franz 1992, S. 3-11 und Behring/ Thanner 1993, S. 35 ff.). Der DDR-Wohnungsbestand teilte sich nach Größenklassen wie folgt auf: Ein-Raum-Wohnungen 8,0 v.H., Zwei-Raum-Wohnungen 29,7 v.H., Drei-Raum-Wohnungen 38,1 v.H., Vier-Raum-Wohnungen 16,6 v.H. und Wohnungen mit fünf und mehr Wohnräumen 7,6 v.H. des Gesamtbestandes. Dabei werden Küchen und abgeschlossene Bäder/WC nicht mitgezählt. Klar dominierend sind die Zwei- und Drei-Raumwohnungen mit fast 70 v.H. des Bestandes. Dabei ist aber zu beachten, daß die Räume/Wohnungen vor allem in den Neubauten der Großsiedlungen erheblich kleiner sind, als im westdeutschen Durchschnitt. Von diesem Bestand waren 82 v.H. mit einem Bad oder einer Dusche, 76 v.H. mit einem Innen-WC und 47 v.H. mit einer Sammelheizung oder einem modernen Einzelofen ausgestattet. In den Plattenbausiedlungen werden hier 100 % -Werte erreicht, vor allem, weil diese Gebiete fast immer an Fernheizungssysteme angeschlossen wurden.

Dieser staatliche Wohnungsbesitz wurde durch die VEB Kommunale Wohnungswirtschaft bzw. VEB Gebäudewirtschaft verwaltet. Zu ihren Aufgaben gehörten Instandhaltung und Modernisierung, während Neubauten Teil der zentralen staatlichen Planung waren. Die neuen Wohnungsgesellschaften verfügten aus ihrer früheren Verwaltungspraxis über detaillierte Informationen zur Bausubstanz und haben oft gute Kontakte zu den Mietern. Schwierigkeiten in der Anfangsphase bereitete oft die unzureichende Managementpraxis, vor allem in Fragen der Finanzierung und in der Anwendung des neuen gesamtdeutschen Bau- und Wohnungsrechts.

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1.2 Milieu-Entwicklung und Mieterstruktur

Die Vereinigung Deutschlands bedeutete für die ehemaligen DDR-Bürger die schlagartige und vollständige Übernahme des westdeutschen Gesellschaftsmodells. Die sarkastische Bemerkung von der DDR „bleibe nur noch „der Grüne Pfeil und das Sandmännchen" übrig, skizziert die Situation der Ostdeutschen in der neuen Bundesrepublik treffend. Über Nacht veränderten sich

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sämtliche Lebensbedingungen im Beruf, im Familienleben, in allen sozialen Gruppen. Die Umstellung auf ein völlig anderes, komplexes Rechtssystem, eine drastisch veränderte Normen- und Wertestruktur überforderte viele Menschen, so daß sie versuchten, zumindest in ihren informellen und privaten Beziehungen ein gewisses Maß an Kontinuität zu wahren. Doch auch hier wirkten die neuen ökonomischen Rahmenbedingungen übermächtig: rapide ansteigende Arbeitslosigkeit, eine ungewohnte Ausdifferenzierung der Einkommen und damit der Konsummöglichkeiten veränderten die sozioökonomischen Grundlagen der bisherigen Sozialstruktur. Dazu kam das anhaltende Gefühl der eigenen Unterlegenheit und Minderwertigkeit bei vielen DDR-Bürgern, die im Laufe der Treuhand-Privatisierung erleben mußten, daß die DDR-Wirtschaft im Konkursverfahren verscherbelt wurde und denen in der öffentlichen Diskussion immer wieder die Unterlegenheit des sozialistischen Planungssystems vorgehalten wurde. Sie verstanden das als Abwertung ihrer persönlichen Arbeitsleistung und erlebten Westdeutsche als arrogant und egoistisch.

In der DDR war der Betrieb viel stärker als in der Bundesrepublik Ort des sozialen Lebens über die eigentliche Berufstätigkeit hinaus. Über die Betriebszugehörigkeit war der Einzelne Mitglied in vielen sozialen Gruppen und informellen Netzwerken. Diese Sozialstruktur ging zumeist mit dem Verlust des Arbeitsplatzes verloren, was gerade für Ältere eine zunehmende Vereinsamung bedeutete. Das daneben wichtigste soziale Umfeld bildete der Wohnbereich, bis hinunter zur Hausgemeinschaft. Auf Grund des anhaltenden Wohnungsmangels war es sehr schwer eine neue Wohnung zu finden bzw. zu tauschen, so daß auch dieses soziale Milieu sehr stabil war. Viele Mieter lebten Jahrzehnte in ihrer Wohnung. Daraus ergaben sich spezifische Ausprägungen der Stadtviertel, wie z.B. der legendäre „Prenzl' Berg" in Ostberlin, die trotz der relativ einheitlichen Lebensbedingungen ein besonderes Image hatten.

Um die Veränderung dieser Sozialstrukturen seit der Wende genauer zu fassen, sind einige genauere Begriffsbestimmungen notwendig: Unter einem Milieu versteht man in der empirischen Sozialforschung solche Personengruppen „die sich in bestimmten 'objektiven' Lagen befinden und bestimmte 'subjektive' Orientierungen, Werthaltungen, Erfahrungen und Standards usw. aufweisen, welche in ihrem alltäglichen Zusammenwirken gegebenen Strukturbedingungen sozialer Ungleichheit ihre Bedeutung für das Leben und Verhalten dieser Personen zuweisen". Dabei ist zu unterscheiden zwischen einem Makromilieu, unter denen „alle Menschen mit 'ähnlichem' Lebensstil zu verstehen (sind), auch wenn sie ganz unterschiedlichen

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Kontaktkreisen angehören und sich niemals begegnen" und Mikromilieus, die entstehen zwischen „Lebensstilgruppierungen, deren Mitglieder in unmittelbarem persönlichen Kontakt" stehen. Aus dieser allgemeinen Definition läßt sich die Beschreibung des 'Wohnmilieus' ableiten: „als Wohnmilieu wird das Ensemble von sozialkulturellen Situationen und die dafür vorhandene baulich-räumliche Umwelt bezeichnet, in denen sich die gesellschaftlichen Verhältnisse, die sozialen Beziehungen, ein Spektrum von Tätigkeiten und die personelle Kommunikation von Menschen realisieren, also die Lokalität, in der sich die lokale Gemeinschaft im Wohnbereich entwickelt und reproduziert." Derartige Wohnmilieus bilden sich vorrangig in Stadtteilen mit einer stabilen, langjährig ansässigen Bevölkerung heraus, da hier die Bewohner eher „die Möglichkeit haben, Gebrauchsspuren von Nutzung und Aneignung zu hinterlassen" (vgl. Hunger 1994, S. 22). Das heißt jedoch nicht, daß sich nicht auch in sehr jungen Neubaugebieten unter besonderen Bedingungen ausgeprägte Wohnmilieus entwickeln können. Gerade die ostdeutschen Plattenbausiedlungen, 'auf der grünen Wiese' am Stadtrand angelegt, bieten überzeugende Belege für solche nachbarschaftlichen Netzwerke. Auch hieraus läßt sich die überraschend hohe Akzeptanz der Bewohner für „ihre Platte" erklären.

Das für das Alltagsleben der Bevölkerung in den NBL entscheidende Mikromilieu ist das Milieu ihres Stadtviertels. In ihm spielt sich der Großteil des täglichen Lebens ab, liegen die entscheidenden Infrastruktureinrichtungen: Einkaufsstätten, Kitas und Schulen, lokale öffentliche Verwaltungen, Sport- und Freizeiteinrichtungen. Hier kennt man sich aus, kennt die meisten Bewohner zumindest vom Sehen, bewegt sich weitgehend angstfrei. Die gegenseitige Selbsthilfe bei Reparaturen, Bezug von knappen Gütern u.a. war unter Nachbarn in der DDR eine Selbstverständlichkeit. Seitdem die Konsummöglichkeiten jeden Bedarf decken und persönliche Dienstleistungen jeder Art angeboten werden, hat diese funktionale Kommunikation nachgelassen. Gerade für Ältere und Familien mit Kindern, in denen die Mütter berufstätig sind, sollten die Bedeutung derartiger Kontakte auf die Wohnzufriedenheit und die Identifikation mit dem Quartier nicht unterschätzt werden. Dabei gilt als generelle Regel: Je schichthomogener die Wohnmilieus sind, desto intensiver ist in der Regel der soziale Austausch zwischen ihnen. Die soziale Mischung der ostdeutschen Großsiedlungen ist als ein Sonderfall anzusehen.

Hunger und Herlyn kommen in ihrer Bestandsaufnahme zu der folgenden Einschätzung der längerfristigen Auswirkungen des Systemwandels 1989/90 auf die Stabilität der ostdeutschen Wohnmilieus:

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  1. Milieuinterne Binnenkommunikation ist zunehmend nicht mehr auf das Quartier begrenzt. Das private Kfz für den Normalverdiener ermöglicht soziale Kontakte in bestimmten sozio-kulturellen Szenen, die sich in entsprechend bekannten Kiez-Quartieren innerhalb der Stadtzentren ansiedeln. Kontakte werden über moderne Telekommunikationsmittel aufgebaut und aufrecht erhalten.
  2. Daraus ergibt sich eine fortschreitende Anonymisierung der Wohnumgebung: man kennt seine Nachbarn zunehmend nicht mehr.
  3. Erhöhte Mobilität und Einkommensdifferenzierung beschleunigen die Entmischung der bisher sozial heterogenen Wohngebiete. Der Trend geht von sozialschichtneutralen zu sozialschichthomogenen Wohnmilieus.
  4. Dies führt zu einer räumlichen Ausdifferenzierung von Lebensstilen und stärkerer Isolierung soziokultureller Milieus. Die sozialen Schichten „werden sich fremd".
  5. In den sich nach unten differenzierenden Wohngebieten kommt es zu Angst vor sozialem Statusverlust und einer persönlichen Identitätskrise vieler Bewohner. Dies löst eine Tendenz zur Entsolidarisierung innerhalb der Bewohnerschaft aus. Ironisch formuliert: „ mit dem der hier wohnt, wo ich wohne, möchte ich nichts zu tun haben".

Trotz dieser eher skeptischen Einschätzung der Zukunftsperspektiven für die Großsiedlungen in den NBL, hängt die weitere Entwicklung jeweils von der sozialen Stabilisierung der ganzen Region ab. Dafür sind Realeinkommen und Beschäftigung entscheidende Grundlagen. Wichtig bleibt aber auch die Fremdeinschätzung eines Quartiers innerhalb der Region. Sobald die Wohnadresse zu einer Stigmatisierung der Bewohner (z.B. bei der Bewerbung um einen neuen Arbeitsplatz) führt, entsteht ein hoher Abwanderungsdruck.

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1.3 Angleichung der Großsiedlungen in West- und Ostberlin

Die Großsiedlungen in West- und Ostberlin unterscheiden sich in ihrer Architektur, ihrer städtebaulichen Funktion und den sozioökonomischen Bedingungen ihrer Entstehung, Die Funktion der ostberliner Großsiedlungen als Teil der sozialistischen Wohnungs(bau)politik wurde bereits unter Punkt l erläutert. Die Großsiedlungen in Westberlin entstanden unter völlig anderen wohnungspolitischen Vorzeichen, da sich der westberliner Wohnungsmarkt durch die Insellage auch von dem westdeutscher Großstädte unterschied. Bis 1987 waren in West

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berlin die Mieten durch die Mietpreisbindung vor allem im Altbaubestand auf einem oft nicht kostendeckenden Niveau festgeschrieben. Unter dieser Bedingung eines weitgehend fixierten Mietaufkommens war es für Hauseigentümer attraktiv, den Unterhaltungsaufwand zu minimieren, auch wenn dadurch die Bausubstanz zunehmend verfiel. So unterblieben notwendige Erhaltungs- und Modernisierungsinvestitionen und der Wohnstandard des Altbaubestandes in den Innenstadtbezirken (Neukölln, Kreuzberg, Schöneberg, Moabit und Wedding) blieb hinter dem vergleichbarer westdeutscher Städte zurück.

In den siebziger Jahren kam es angesichts des zunehmenden Verfalls der Altbausubstanz und der Konzentration sozialer Problemgruppen in diesen Quartieren zu einer Sanierung der Gebäudesubstanz über umfangreiche staatliche Förderprogramme im Rahmen der 'behutsamen Stadterneuerung'. Im Gegensatz zur Flächensanierung der sechziger Jahre sollte der ursprüngliche architektonische Charakter der Quartiere erhalten bleiben und bei einer Verbesserung des Wohnstandards eine Verdrängung einkommensschwacher Mieterschichten über gezielte Auflagen bei Modernisierung und Vermietung verhindert werden. Nicht zuletzt wegen des begrenzten Wohnangebots war diese Politik erfolgreich. Westberlin war die Großstadt der alten Bundesrepublik mit dem höchsten Wohnbevölkerungsanteil in den Innenstadtbezirken, bis hinein in die Citylagen.

In den Stadtrandlagen wurden Neubausiedlungen errichtet, die den steigenden Wohnungsbedarf abdeckten. Dieser entstand überwiegend aus der Zuwanderung in die Stadt, bis 1961 aus dem Umland, danach aus Westdeutschland und ab Mitte der sechziger Jahre durch die erste Migrationsgeneration. Parallel dazu kam es zu einer Abwanderung aufgestiegener Mittelschichten aus der Altbausubstanz. Vor allem in Richtung Südosten dehnte sich die Stadt so bis unmittelbar an die Mauer aus. In der ursprünglichen Konzeption waren die neuen Siedlungsgebiete als Schlafstädte ausgelegt. Zunächst war die Verkehrsanbindung dieser peripheren Siedlungen problematisch, da sich der Anschluß an das ÖPNV-Netz verzögerte. Im Folgenden soll kurz auf die zwei Großsiedlungen eingegangen werden, die die möglichen Entwicklungswege solcher Wohngebiete verdeutlichen:

  • das Märkische Viertel.
  • die Gropius-Stadt

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Beide liegen am Rande des erweiterten Wohngürtels, weit außerhalb des ehemaligen
S-Bahn-Rings. Beide wurden in kombinierter Hochhaus / Blockbauweise in Spannbetonausführung mit Standard-Fassaden errichtet. Das Märkische Viertel im Nordwesten Berlins galt schon kurz nach seiner Fertigstellung 1974 als Sanierungsfall und potentieller sozialer Brennpunkt. Mit fast 17.000 Wohneinheiten und über 40.000 Einwohnern auf einer Fläche von 385 Hektar war es das bis dato größte geschlossene Neubaugebiet in Westberlin. Ab Anfang der achtziger Jahre versuchte der Eigentümer des Märkischen Viertels, die landeseigene GESOBAU, das Image der Siedlung in der Stadt und auch die Eigenwahrnehmung der Bewohner durch eine gezielte Kampagne zu verändern. Über ein Instandsetzungsprogramm unter direkter Beteiligung von Mieterbeiräten wurde die Wohnsubstanz den Wünschen der Mieter angepaßt. Ein Konzept zur Wohnumfeldverbesserung erhöhte das Freizeit- und Kulturangebot und verbesserte die Verkehrsanbindung des Märkischen Viertels an den ÖPNV. Mittlerweile gilt das Märkische Viertel als eines der sozial stabilen Quartiere in Berlin, was sich vor allem an den langjährigen Mietverhältnissen von durchschnittlich über 18 Jahren zeigt. Ein erheblicher Anteil der Bewohner ist mit dem Quartier gealtert; sie haben als junge Erwachsene oft die erste Familienwohnung hier bezogen und bewegen sich mittlerweile auf das Rentenalter zu. Dieser sich abzeichnende Generationenwechsel wird für das Märkische Viertel sicherlich einen Strukturwandel bedeuten, aber bei einer aktuellen Auslastung von 93 Prozent gilt das Viertel als Modellfall für eine erfolgreiche Stabilisierung. Sorgen macht der GESOBAU die durch die Fehlbelegungsabgabe relativ hohe Grundmiete, die zunehmend mit Angeboten aus dem brandenburger Umland konkurrieren muß.

Die Gropius-Stadt unterscheidet sich architektonisch nicht sonderlich vom Märkischen Viertel. Im äußersten Südosten Westberlins gelegen sollte sie ursprünglich den Zustrom von DDR-Flüchtlingen Anfang der sechziger Jahre auffangen. Nach dem Mauerbau entwickelte sich das Gebiet zu einem attraktiven Angebot von Neubauwohnungen mit höherem Wohnstandard:

Zentralheizung, moderne Badezimmer, Aufzüge usw. Das begrenzte Versorgungs- und Freizeitangebot wurde nicht zuletzt wegen der wachsenden Motorisierung der Bevölkerung hingenommen. Für die Beschäftigten der großen westberliner Industriegebiete in den Bezirken Neukölln und Tempelhof boten sich hier arbeitsplatznahe Wohnungen. Die ganze Stadtregion galt als bevorzugtes Wohngebiet für Angehörige der unteren Mittelschicht. Mit dem Mauerfall und der einsetzenden Wohnungsbautätigkeit im brandenburger Umland haben sich die Rahmenbedingungen grundlegend geändert. Die westberliner Industrie durchläuft einen drastischen

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Schrumpfungsprozeß, dessen Ende noch nicht absehbar ist. Gerade für gewerbliche Arbeitnehmer einschließlich der Facharbeiterschicht fielen Tausende von Arbeitsplätzen weg. Dazu kommt ein attraktives Angebot an Wohnungseigentum im Umland, zu z.T. geringeren Finanzierungskosten als dem aktuellen Mietniveau in den Siedlungen. Mittlerweile hat diese soziale Entmischung zu einem erheblichen Leerstand geführt und eine politische Kontroverse in der Großen Koalition geführt. Die CDU fordert die ersatzlose Streichung der Fehlbelegungsabgabe im Sozialen Wohnungsbau, um diesem Trend entgegenzuwirken. In der Diskussion auf der Tagung wurde allgemein die Erwartung formuliert, daß diese Forderung in der nächsten Zeit durch das Abgeordnetenhaus (Berliner Landesparlament) beschlossen werden wird. Mittlerweile wurde in der Regierungskoalition ein Konsens darüber erzielt, daß die Fehlbelegungsabgabe zwar nicht völlig abgeschafft, aber einkommensabhängig gesenkt werden soll. Die Finanzsenatorin hat allerdings angekündigt, die dadurch entstehenden Einnahmenausfälle des Landeshaushaltes durch drastische Kürzung der Fördermittel für den Sozialen Wohnungsbau auszugleichen. Hier ist das letzte Wort noch nicht gesprochen.

Trotz dieser unterschiedlichen Entwicklungsperspektiven bleiben einige strukturelle Unterschiede zwischen den west- und ostberliner Großsiedlungen bestehen:

  • Die ostberliner Großsiedlungen sind größer und stärker in sich abgeschlossen.
  • Der Anteil der ostberliner Großsiedlungen am gesamten Wohnungsangebot ist erheblich höher.
  • Die soziale Ausdifferenzierung der ostberliner Großsiedlungen ist wegen des bislang unterschiedlichen Mietrechtes (noch) geringer als die der westberliner Großsiedlungen.
  • Bezogen auf die in der Stadt bzw. im Umland neu entstehenden Industriegebiete liegen die ostberliner Großsiedlungen geographisch günstiger.
  • Die Migration der Bewohnerschaft findet zu einem erheblichen Anteil innerhalb der ostberliner Stadtteile mit Großsiedlungen statt.
  • Es gibt eine Wanderung gerade junger Familien aus dem alten ostberliner Zentrum in die Großsiedlungen, Im Gegensatz dazu ist die Wanderung aus den westberliner Stadtbezirken an den ostberliner Stadtrand minimal.

Ob diese Unterschiede ausreichen, um eine soziale Ausdifferenzierung in den ostberliner Großsiedlungen zu verhindern, muß sich erst noch erweisen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Oktober 1999

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