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[Seite der Druckausgabe: 30 / Fortsetzung]

5. Gründungsdynamik in Deutschland

5.1 Existenzgründer als Hoffnungsträger für den Arbeitsmarkt

Existenzgründungen gelten derzeit in der wirtschaftspolitischen Diskussion als Hoffnungsanker der Arbeitsmarktpolitik. Da die bestehenden Unternehmen offensichtlich nicht in der Lage sind, die zum Abbau der Arbeits-

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losigkeit notwendigen Arbeitsplätze zur Verfügung zu stellen, versprechen sich Wirtschaftsexperten und Politiker von einer Gründungsoffensive wichtige Entlastungseffekte für den Arbeitsmarkt. Dies um so mehr, als in Deutschland derzeit mit einer Selbständigenquote von 9,7 Prozent im Westen und 7,1 Prozent in den neuen Bundesländern (Ergebnisse des Mikrozensus 1995) ein deutlicher Nachholbedarf gegenüber anderen europäischen Ländern besteht.

Gesicherte empirische Erkenntnisse über die Gründungsdynamik in Deutschland liegen nicht vor. Nach Ergebnissen des Sozio-ökonomischen Panels (SOEP) - eine repräsentative Wiederholungsbefragung von über 13.000 Personen - haben im Zeitraum von 1990 bis 1995 etwa 1,4 Mio. Personen aus Westdeutschland und 500.000 Personen aus Ostdeutschland erstmals eine selbständige Tätigkeit aufgenommen. In Westdeutschland beträgt der Anteil der Freiberufler an diesen "Neuen Selbständigen" ein Drittel, in Ostdeutschland ein Viertel. Der Anteil der selbständig Gewerbetreibenden an allen "Neuen Selbständigen" ist im Osten mit 70 Prozent etwas höher als im Westen. Gut 12 Prozent der "Neuen Selbständigen" waren zuvor arbeitslos.

Von den "Neuen Selbständigen" in Westdeutschland starteten 51 Prozent mit Ein-Personen-Unternehmen, immerhin 41 Prozent beschäftigen bis zu 5 Mitarbeiter und etwa 8 Prozent mehr als 5 Mitarbeiter. In Ostdeutschland waren 44 Prozent Ein-Personen-Unternehmen, weitere 44 Prozent beschäftigen bis zu 5 Mitarbeiter und immerhin 12 Prozent mehr als 5 Mitarbeiter. Das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim (ZEW) hat im Februar 1998 als Resultat einer Untersuchung zum Gründungsgeschehen zwischen 1998 und 1995 ermittelt, daß die Zahl der neugeschaffenen Arbeitsplätze bei Existenzgründungen seit Ende der 80er Jahre abgenommen hat. Inklusive Gründer entstanden während oder in den ersten Monaten nach einer Unternehmensgründung im Jahr 1995 durchschnittlich 2,6 Arbeitsplätze in den alten Bundesländern und 3,3 Arbeitsplätze in Ostdeutschland. 1989 lagen diese Quoten noch bei 3,5 Stellen im Westen und 4,4 Arbeitsplätzen im Osten. Besonders stark vom Rückgang der Beschäftigungsdynamik von Unternehmensgründungen betroffen sind das verarbeitende Gewerbe und die Bauwirtschaft. Dort ist die Zahl der neu geschaffenen Arbeitsplätze von 9,7 in 1989 auf sechs neue Arbeitsplätze pro Gründung abgesunken. Und auch im Dienstleistungsgewerbe ist ein Rückgang der pro Neugründung geschaffenen Arbeitsplätze festzustellen.

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Ursache für die abnehmenden Beschäftigungseffekte ist laut ZEW hauptsächlich der technische Fortschritt, aufgrund dessen der Personalbedarf für bestimmte Arbeiten immer geringer werde. Immer differenziertere Kundenwünsche förderten zudem das Entstehen immer spezialisierterer Anbieter; zum Bedienen der sehr übersichtlichen Nachfrage seien oftmals Kleinstbetriebe ausreichend. Darüber hinaus reduziere der zunehmende Wettbewerb und die hohe Steuerbelastung die Gewinnerwartungen der Gründer. Und schließlich verhindere die Zurückhaltung der Banken bei der Kreditvergabe, daß die Gründer mehr Arbeitsplätze schafften.

Den Ergebnissen des SOEP zufolge sind gut 80 Prozent aller westdeutschen Existenzgründer nach einem Jahr noch selbständig; im zweiten Jahr sind es noch 70 Prozent und nach drei Jahren immerhin noch knapp 65 Prozent. In Ostdeutschland liegen die Werte mit 80 Prozent nach dem zweiten Jahr und gut 75 Prozent nach dem dritten Jahr noch höher. Andere Untersuchungen bestätigen die grundsätzlich höhere zeitliche Stabilität der Selbständigen in Ostdeutschland.

Die Zahlen über die Schaffung neuer Arbeitsplätze in jungen Unternehmen sind erfreulich, haben jedoch noch keine Aussagekraft für die gesamtwirtschaftliche Arbeitsplatzbilanz. Denn häufig handelt es sich bei den neuen Arbeitsplätzen in kleinen und mittleren Unternehmen gesamtwirtschaftlich nur um eine Verlagerung. Existenzgründer übernehmen die Aufgabenfelder, die zuvor von Großunternehmen ausgelagert wurden. Der Vertreter der Planungsgruppe IFB Dr. Braschel unterstreicht, daß oftmals im ersten Schritt nur eine Verlagerung der Arbeitsplätze von der Ursprungsfirma zu anderen Unternehmen stattfindet. Gelinge es dem neuen Unternehmen jedoch, im Markt erfolgreich zu bestehen, dann erwüchsen hieraus Chancen zur Expansion in andere Bereiche. In einem solchen Wachstumsprozeß könnten dann in der Tat neue Arbeitsplätze entstehen.

Die Vertreterin der Advance Bank illustriert die Verlagerungsproblematik am Beispiel des Bankensektors in Deutschland. Bekanntlich sei Deutschland derzeit mit einem Verhältnis von 1.500 Einwohner auf eine Bankfiliale overbanked. Als Konsequenz aus dieser Situation reduzierten die meisten Banken derzeit ihr Filialnetz. Während hier Arbeitsplätze abgebaut würden, könnten bei den neu geschaffenen Direktbanken neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Der Arbeitsplatzabbau bei den klassischen Filialbanken und das Aufkommen der Direktbanken seien jedoch zwei voneinander

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vollkommen unabhängige Entwicklungen, da die aktuellen Probleme der Filialbanken primär aus dem Kostendruck resultierten und nicht etwa aus der neuen Konkurrenz.

Der Vorstand der PA Power Automation sieht keine Alternative zum konsequenten Einstieg in Zukunftsmärkte. Natürlich bestehe beispielsweise im Bankenbereich die Gefahr, daß der Erfolg der Direktbanken den Arbeitsplatzabbau im traditionellen Bankgewerbe zusätzlich forcieren könne. Der Abbau der Arbeitsplätze bei den Filialbanken könne jedoch auch dann nicht verhindert werden, wenn man auf den Aufbau von Direktbanken verzichte. Solcherart Nichtstun in einem Zukunftsmarkt hätte jedoch erhebliche negative Folgen. Derzeit resultierten eine Reihe von Problemen der deutschen Wirtschaft daraus, daß in Deutschland Innovationen und Marktentwicklungen verschlafen wurden. Insofern müsse gerade im Hinblick auf den allseits geforderten Strukturwandel all das, was unternehmerisch notwendig sei, auch getan werden. Dabei müsse die Politik für die Bereitstellung der entsprechenden Rahmenbedingungen in ökonomischer wie sozialer Hinsicht sorgen. Innerhalb dieser vom Staat zu organisierenden Mindestrahmenbedingungen könne das vorhandene Potential an Arbeitsplätzen nur dann ausgeschöpft werden, wenn alle Möglichkeiten genutzt würden.

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5.2 Kultur der Selbständigkeit - Wollen wir in Deutschland eigentlich Unternehmer?

Eine Gründungsoffensive läßt sich nicht verordnen. Alle Appelle zu vermehrter Risikobereitschaft und größerem unternehmerischen Wagemut des Einzelnen laufen solange ins Leere, wie die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen hierfür nicht stimmen und eine Kultur der Selbständigkeit fehlt. "Wollen wir in Deutschland eigentlich Unternehmer?", lautet daher die zentrale Frage. Während die Unternehmensgründer der Aufbaugeneration gelegentlich regelrecht mystifiziert werden, leiden die Unternehmer von heute unter einem ausgeprägten Negativ-Image. Die Altvorderen gelten als Musterbeispiele jenes Typus des "dynamischen Unternehmers", den der österreichische Ökonom Joseph Schumpeter bereits zu Anfang diesen Jahrhunderts ins Zentrum seiner Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung stellte. Schumpeter zufolge ist es diese kleine Gruppe von echten Unternehmertypen, die als Motor des Fortschritts fungiert. Sie schieben Innovation auch gegen Widerstände an, indem sie "neue Kombinationen" vor-

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handenen Wissens kreieren und damit den gesellschaftlichen Fortschritt vorantreiben. Weniger positiv hatte sich Schumpeter dagegen über die angestellten Manager von Großunternehmen geäußert: in ihnen sah er eher "Verwalter" als Innovatoren.

Ohne Zweifel scheint dieser Unternehmertyp in Deutschland rar geworden zu sein. Der Geschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für Mittelstandsberatung (DGM) sieht einen Grund hierfür darin, daß Unternehmer in Deutschland, im Gegensatz zu anderen Ländern, heute keine angemessene gesellschaftliche Wertschätzung erfahren. In einer von Beamten- und Angestelltenmentalität geprägten Gesellschaft würden Unternehmer unverändert kritisch betrachtet. Der Vorstandsvorsitzende der Unicor Holding AG bezeichnet es als unfaßbar, daß derzeit über 40 Prozent der Hochschulabgänger in den öffentlichen Dienst wollen, während lediglich 5 Prozent eine selbständige Existenz ins Auge fassen. An Schulen und Hochschulen müsse daher verstärkt die Bereitschaft zum Unternehmertum geweckt werden. Der Leiter des Steinbeis-Transferzentrums Neue Produkte in Villingen-Schwenningen bestätigt, daß sich in der Hochschulausbildung die Vermittlung des Unternehmerdenkens als besonders schwierige Aufgabe erwiesen hat. Bei aller Notwendigkeit, Hochschulabsolventen verstärkt zum Schritt in die Selbständigkeit zu ermuntern, sei es jedoch hochgefährlich, Studenten mit öffentlichen Mitteln zur Gründung von Unternehmen zu motivieren. Eine solche Förderung von Unternehmertum aus öffentlichen Mitteln sei ein Widerspruch in sich.

Die Abneigung der Deutschen gegen eine selbständige wirtschaftliche Existenz resultiert nach Einschätzung des Geschäftsführers der DGM primär aus der fehlenden Risikobereitschaft in Deutschland. Sich selbständig machen, etwas Neues zu wagen und Innovationen umzusetzen, setze zwingend eine entsprechende Risikobereitschaft voraus. Heute scheinen die Deutschen jedoch risikoscheu geworden zu sein. Mitverantwortlich für diese Angst vor dem Risiko sei, daß es in Deutschland unverändert kein Recht auf eine "zweite Chance" gebe für jemanden, der ein unternehmerisches Risiko eingegangen und dabei gescheitert sei. So hafte jemand, der mit seinem Unternehmen Bankrott gemacht habe, 30 Jahre lang mit seinem Privatvermögen für die daraus entstandenen Schulden. Das neue Insolvenzrecht, das diesen Menschen endlich eine Chance zum Weg aus dem gesellschaftlichen Schuldturm eröffnen soll, müsse umgehend umgesetzt werden. Hinzu käme, daß ein derart als Pleitier stigmatisierter Mensch in

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Deutschland für die Realisierung einer zweiten, möglicherweise viel besseren Idee, von keiner Bank einen Kredit erhalten würde. In den USA dagegen habe jeder mindestens zwei bis drei Chancen. Diese Probleme seien Hauptgründe dafür, warum es in Deutschland an risikofreudigen Unternehmern fehle und die notwendigen Innovationen ausbleiben. Um auch in Deutschland mehr Menschen für das Wagnis Selbständigkeit zu begeistern, müßten diese Rahmenbedingungen schleunigst korrigiert werden.

Eine Voraussetzung für eine neue Kultur der Selbständigkeit ist nach Einschätzung des Vorstands der PA Power Automation die Änderung der Einstellung der Deutschen zum Reichtum. Schließlich gehe niemand aus altruistischen oder mildtätigen Motiven das Risiko einer selbständigen wirtschaftlichen Existenz ein. In Deutschland sei es jedoch unverändert verpönt, offen zuzugeben, daß ein Unternehmer reich werden wolle. Solange sich diese Einstellung nicht ändere, werde es schwer werden, Menschen für die Selbständigkeit gewinnen zu können. Die Änderung des gesellschaftlichen Umfeldes sei noch wichtiger als die vielfach kritisierten Finanzierungsprobleme.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Oktober 2000

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