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1. Die Diskussion um den Standort Deutschland

Der Wirtschaftsstandort Deutschland ist in aller Munde. Doch nur selten aufgrund von Erfolgsmeldungen über den Vorstoß in Zukunftsmärkte oder eine neu entfachte Wachstums- und Arbeitsplatzdynamik. Wenn vom Wirtschaftsstandort Deutschland die Rede ist, dann geht es zumeist um dessen Defizite. Insbesondere die Repräsentanten der deutschen Arbeitgeber- und Industrieverbände übertreffen sich in den letzten Monaten in heftiger Kritik an den wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen in Deutschland. Der SPD-Bundestagsabgeordnete bezeichnet die Standortschelte der Industrieverbände als verantwortungslos. Auch wenn kein Zweifel am Reformbedarf des Wirtschaftsstandortes Deutschland bestehen könne, sei solche Kritik schädlich, weil das derart überzeichnete Bild im In- und Ausland geglaubt werde. Das Handelsblatt habe diese Art Kampagne einmal treffend mit einem Metzgermeister verglichen, der über seinen Betrieb erzähle, das Fleisch sei schlecht, die Wurst verdorben, die Gesellen faul, die Lehrlinge unpünktlich und zudem sei der Laden meistens geschlossen. Kritik sei dort notwendig und sinnvoll, wo sie auf die Veränderung von Mißständen und die Verbesserung der Rahmenbedingungen hinziele. Die von den Verbänden geführte Standortdebatte sei jedoch kontraproduktiv. Welches ausländische Unternehmen investiere schon in einem Land, dessen führende Wirtschaftsrepräsentanten ein derartiges Negativimage zeichneten? Und im Inland werde vielen Unternehmern oder solchen, die es werden wollten, der Mut und die Motivation genommen. Wichtiger sei vielmehr das Aufzeigen von Perspektiven am Standort.

Nach Einschätzung des Vertreters der Planungsgruppe IFB Dr. Braschel GmbH, Stuttgart herrschen heute in Deutschland die Unfähigkeit zu Veränderungen und ein ausgeprägtes Besitzstandsdenken vor. Die mangelnde Wandlungsfähigkeit werde in allen Bereichen der deutschen Gesellschaft deutlich, in der Politik ebenso wie in weiten Teilen der Wirtschaft und der Gewerkschaften. Dabei wachse derzeit die grundsätzliche Notwendigkeit, kreativer zu werden und die vorhandene Rigidität abzulegen. Und auch der mit unterschiedlichen Vorzeichen versehene Blick über die Landesgrenzen und der Versuch, dort praktizierte Lösungen zu importieren, sei nicht unproblematisch. Deutsche Unternehmen und Institutionen fungierten dabei lediglich als Innovationsadaptierer und viel zu selten als Vorreiter neuer Verfahren. Ein Adaptierer könne jedoch bestenfalls gleich gut, aber

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nie besser sein als das Vorbild. Zudem bestehe die Gefahr, auch Negatives zu übernehmen.

Der Vorstandsvorsitzende der Unicor Holding AG, Haßfurt, "Entrepreneur des Jahres 1997" im Bereich Industrie, hält Reformen am Standort Deutschland für dringend geboten. Die deutschen Unternehmen müßten sich heute damit auseinandersetzen, daß Deutschland nicht isoliert betrachtet werden könne. Weder die deutschen Unternehmen noch ihre Arbeitnehmer seien schlechter geworden, wie dies manchmal plakativ unterstellt werde, vielmehr seien die ausländischen Konkurrenten besser geworden, wodurch Deutschland automatisch abgerutscht sei. Diese Entwicklung könne nicht rückgängig gemacht werden; es gebe kein Zurück in die Zeiten, in denen eine deutsche Schraube in kein englisches Gewinde paßte und andersherum. Vielmehr seien alle Weichen in Richtung einer weiteren Integration in die internationale Gemeinschaft gestellt. Vor diesem Hintergrund müßten sich die deutschen Unternehmen dem wachsenden Wettbewerbsdruck stellen. Um so problematischer sei, daß die politische Standortdiskussion bislang zu keinerlei konkreten Maßnahmen geführt habe. Statt dessen würden sich die Verantwortlichen in wechselseitige Schuldzuweisungen flüchten. Diese Rituale, in denen die Politiker forderten:

"Schafft Arbeitsplätze!", die Unternehmerverbände entgegneten: "Schafft bessere Rahmenbedingungen!" und die Gewerkschaften nach Arbeitszeitverkürzungen riefen, seien auch eine Form der Blockade, die für die bestehenden Mißstände verantwortlich sei. Von den politischen Parteien, den Unternehmerverbänden und den Gewerkschaften sei derzeit - leider -nichts Produktives zur Lösung der Probleme zu erwarten. Hieraus erwachse für Deutschlands Unternehmen die unbefriedigende Erkenntnis, daß sie sich auf sich selbst verlassen und den Schwierigkeiten am Standort Deutschland stellen müßten. Dabei sei das Unternehmerlager gespalten: Die einen versuchten, ein Rezept zu finden und trotz Standort Deutschland erfolgreich zu sein. Die jedoch, die keines fänden, gingen pleite oder ins Ausland, was für Deutschland eine gleichermaßen schlechte Konsequenz darstelle.

Besonders stark zugenommen hat der internationale Wettbewerbsdruck in den traditionellen Sektoren, die für die deutsche Wirtschaft eine unverändert große Bedeutung haben. Das Industrieportfolio Deutschlands weist heute klare Schwerpunkte in reifen Industrien auf. Unverändert dominieren die klassischen Branchen Automobilbau, Maschinenbau, Elektrotechnik, Stahlbau und Chemie die Industrieproduktion, in denen rund 60 Prozent

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der Beschäftigten des verarbeitenden Gewerbes konzentriert sind. Das Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung hat ermittelt, daß mehr als die Hälfte der deutschen Industrieunternehmen in stagnierenden oder gar schrumpfenden Märkten verharren. Dagegen besteht in den neuen Zukunftstechnologien wie den Informations- und Telekommunikationstechnologien oder der Biotechnologie ein erheblicher Nachholbedarf. Besonders problematisch ist der im Vergleich zu Japan und den USA deutlich niedrigere Welthandelsanteil in der für den dynamisch wachsenden Dienstleistungssektor so bedeutsamen Informationstechnologie. Prognosen gehen davon aus, daß mehr als 50 Prozent der Erwerbstätigen in Zukunft in erster Linie mit informationsverarbeitenden Tätigkeiten beschäftigt sein werden. Hier erreicht Deutschland gerade mal einen Welthandelsanteil von 8,5 Prozent und liegt damit weit hinter den USA mit 22,6 Prozent und Japan mit 32,5 Prozent.

Der Strukturwandel hat daher eine entscheidende Funktion bei der Bewältigung der Wirtschaftsprobleme in Deutschland. Innovativen, kleinen Unternehmen, die die in Grundlagenforschung an Hochschulen, Forschungseinrichtungen und Großunternehmen gewonnenen Erkenntnisse aufgreifen und erfolgreich umsetzen, kommt in diesem Zusammenhang eine immer größere Bedeutung zu.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Oktober 2000

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