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1. Auto, Umwelt und Verkehr im Konflikt

Bei der Frage nach der Rolle des Autos im Stadtverkehr der neuen Bundesländer geht es nicht um die Betrachtung dieses Verkehrsträgers allein, sondern um die Zukunft des gesamten Stadtverkehrs und seine Auswirkungen auf andere Bereiche, um regionale und globale Umweltschutzaspekte, um die Lebensqualität der Bürger und nicht zuletzt um Millionen von Arbeitsplätzen. Während seiner hundertjährigen Entwicklungsgeschichte hat das Auto eine rasante Verbreitung gefunden. Aus einem Luxusgegenstand für wenige wurde in den Industrieländern ein Verkehrsmittel für Millionen. Ein Ende der Motorisierungswelle ist nicht in Sicht. Die neueste Shell-Studie rechnet bis zum Jahre 2010 im Szenario "Neue Horizonte" mit einer Zunahme des Pkw-Bestandes von gegenwärtig 39 Mio. auf 49 Mio. Fahrzeuge. Die Pkw-Dichte wird im gleichen Zeitraum von 611 Pkw pro 1000 Erwachsene in den alten Bundesländern bzw. 558 Pkw in den neuen Bundesländern auf 700 Pkw pro 1000 Erwachsene in beiden Teilen Deutschland steigen.

Die Entwicklung des Individualverkehrs führte nicht nur zu einer neuen Mobilität. Vielmehr entstanden zugleich neue Probleme. Die Lebens- und Umweltqualität wird immer stärker durch das Auto beeinträchtigt. Der ständig zunehmende Verkehrslärm und die Abgase tragen wesentlich dazu bei, daß in fast allen Großstädten die zulässigen Grenzwerte für Schadstoffe in der Luft immer mehr überschritten werden. Außerdem wird die Diskrepanz zwischen zunehmenden Fahrzeugbeständen und Verkehrsleistungen einerseits und dem kaum noch ausweitbaren Straßenraum für den fließenden und ruhenden Verkehr andererseits ständig größer.

Diese negativen Auswirkungen gelten nicht nur für die westlichen Bundesländer. Auch in den ostdeutschen Städten sind die Verkehrsverhältnisse durch einen hohen und weiter wachsenden Problemdruck gekennzeichnet. Auch hier sind Belastungen von Mensch und Umwelt durch Abgase und Lärm, durch Energieverbrauch und Verkehrsopfer der Preis für eine Beweglichkeit, die immer schlechter wird. Erforderlich sind Umorientierungen. Hierbei geht es auch in den neuen Bundesländern nicht um die völlige Abkehr vom Auto oder nur um die Förderung von Alternativen zum Individualverkehr. Notwendig erscheint vielmehr eine Neukonzeption des Gesamtverkehrssystems, in die alle Verkehrsträger ihre Beiträge einbringen. Wegen abnehmender Tauglichkeit als Verkehrsmittel und wegen der wachsenden Umweltbelastungen dürfen dabei

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die heutigen Motorisierungstrends und der heutige Modal Split nicht einfach fortgeschrieben werden. Und der Slogan "Freie Fahrt für freie Bürger!", der in den siebziger Jahren von der Automobilindustrie und Automobilverbänden propagiert wurde, mußte schon damals und muß erst recht heute in Frage gestellt werden.

Eine wichtige Zukunftsaufgabe muß vielmehr auf der einen Seite In der besseren Organisation der Verkehrsströme gesehen werden; öffentliche und private Verkehrsträger müssen stärker kooperieren. Auf der anderen Seite erscheint es aber auch notwendig, dem Auto seine Grenzen aufzuzeigen. Hierzu hat die SPD in ihrer im letzten Jahr begonnenen Verkehrskampagne "Neue Beweglichkeit, Mensch und Umwelt gehen vor" drei zentrale Forderungen erhoben. Dabei wird einmal gefordert, daß sinnvoll gefahren wird. Stichworte sind hierfür

  • die Vermeidung von fragwürdigem Verkehr

  • die Bildung von Fahrgemeinschaften

  • elektronische Verkehrslenksysteme sowie

  • Arbeitsteilung zwischen Autoverkehr und ÖPNV.

Die zweite Forderung der Verkehrskampagne lautet: Sicher fahren! Hierzu gehört ein Tempolimit auf Autobahnen und Landstraßen und auch innerorts, weiter die Herabsetzung der Promillegrenze sowie mehr Sicherheit in den Fahrzeugen. ABS und Airbag dürfen nicht länger Privileg der Oberklassen-fahrzeuge sein.

Die dritte Forderung lautet schließlich: Umweltverträglich fahren! Hier kommt es darauf an, die Produktinnovation beim Auto zu beschleunigen. Ziel ist dabei eine Senkung des Kraftstoffverbrauchs und eine Verringerung der Emissionen. Weiter sollen die Produktionsprozesse in der Autoindustrie umweltverträglich gestaltet und für eine ökologisch vertretbare Entsorgung der Altfahrzeuge gesorgt werden.

Zur Entwicklung und vor allem zur Umsetzung der neuen Verkehrskonzepte sind alle gesellschaftlichen Gruppen aufgerufen, die im Sachen Verkehr Verantwortung tragen. Hierzu gehören Politiker aus den Ressorts Wirtschaft, Umwelt, Forschung, Städtebau und Verkehr, und zwar auf Bundes- und Länderebene, aber auch aus den Stadtparlamenten. Ihren Beitrag müssen auch die Automobilindustrie und die Automobilclubs leisten. Und nicht zuletzt sind die Konzepte von Naturschutzverbänden und Gewerkschaften zu beachten.

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Die Umsetzung einer umwelt- und sozialverträglichen Stadtverkehrspolitik gehört zu den zentralen Problemen, die in den nächsten zehn bis 20 Jahren in den neuen Bundesländern gelöst werden müssen. "Freie Fahrt für freie Bürger" ist heutzutage mehr oder weniger ein provozierender Spruch, denn eine "Freie Fahrt für freie Bürger" würde heute unweigerlich zu einer blockierten Fahrt führen. Stau in der Stadt und Verkehrsinfarkt sind keine Apokalypse, sondern eine realistische Prognose, wenn die Bundesbürger nicht ihr Verhältnis zum Auto verändern. Die Deutschen fahren heute pro Jahr eine 10 mal längere Strecke als 1953, obwohl die Straßenkapazitäten sich nur um 50 % verändert haben - und das ist ein Durchschnittswert. Es gibt durchaus Städte und Regionen, in denen 20mal mehr gefahren wird und sich der Verkehrsraum nur um ein Viertel erweitert hat. Hier ist die Stausituation vorprogrammiert.

In Zukunft wird die Schere zwischen vorhandenen Autos und verfügbaren Straßenflächen weiter auseinander klaffen. Daher ist abseits aller ideologischen Positionen bei Parteien und gesellschaftlichen Gruppierungen klar: Benötigt wird ein neues Verkehrskonzept, ein Verkehrskonsens darüber, wie die Verkehrsträger - die eigenen Füße, die Fahrräder, der ÖPNV und die Autos - neu geordnet und eingesetzt werden. Dabei sind die Einstellungen noch kontrovers: 80 % der Bürger in den Städten sind zwar der Meinung, es muß sich etwas tun und die Städte müssen verkehrsberuhigt bzw. verkehrsentleert werden. Aber gleichzeitig sind die Bürger nicht bereit, auf ihr Auto zu verzichten. Hier ist noch eine ganze Menge an Aufklärungsarbeit zu leisten.

Welche unterschiedlichen Auffassungen zum Automobil und seiner künftigen Rolle bestehen, zeigen die folgenden drei Zitate von Verkehrswissenschaftlern:

Prof. Peter Kirchhoff, Lehrstuhl für Verkehrs- und Stadtplanung an der Technischen Universität München:

"Aufgrund der gegensätzlichen Eigenschaften von Auto und ÖPNV darf es nicht ein entweder - oder geben, sondern es muß zu einer Aufgabenteilung zwischen den Verkehrsmitteln kommen. Kurze Wege sollten zu Fuß oder soweit wie möglich mit dem Fahrrad gemacht werden. Bei hohen Verkehrskonzentrationen, wie im Berufsverkehr, muß der ÖPNV Vorzug erhalten. Und bei geringerer Verkehrskonzentration, wie im Freizeitverkehr, das Auto. Bei mittleren Verkehrkonzentrationen, die beim Einkaufs- und Erledigungsverkehr auftreten, muß es möglich sein, den ÖPNV oder das Auto gleichmäßig zu

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benutzen. Die Verkehrsmittelwahl kann in unserem Gesellschaftssystem nicht verordnet werden, sie muß in der freien Entscheidung des Einzelnen bleiben. Angesichts der Probleme des heutigen Autoverkehrs erscheint es jedoch legitim, die Rechts- und Randbedingungen für diese Entscheidungen zu verändern."

Prof. Hartmut Topp, Lehrstuhl für Verkehrswesen an der Universität Kaiserslautern:

"Mobil sein wollen wir alle. Wir wollen zur Arbeit, zur Schule, zu Freunden, ins Grüne, zum Einkauf, in die Kneipe und dabei möchten wir zwischen verschiedenen Geschäften, Arbeitsstellen, Freizeiteinrichtungen wählen können. Mobilität hat also etwas mit Wahlmöglichkeiten und Erreichbarkeiten zu tun. Mobil sein ist mehr als Raumüberwindung, sondern bedeutet, den eigenen Lebensraum nutzen und erleben zu können. Mobilität als Teil unserer Lebensqualität soll erhalten und verbessert werden. Welche Rolle spielt dabei das Auto? Das Auto vergrößert unseren Aktionsradius, es erschließt die Fläche und fährt auch nachts. Viele Häuser im Grünen und die Märkte auf der Wiese wurden durch das Auto überhaupt erst möglich. Die Anzahl der Tätigkeiten Arbeiten, Einkauf und Erholung, die eine Person an einem durchschnittlichen Werktag ausübt, hat sich aber durch das Auto kaum geändert. Trotzdem legen wir heute im Mittel die doppelte bis dreifache Entfernung zurück wie vor 30 oder 40 Jahren, und trotz höherer Geschwindigkeiten sind wir dabei länger unterwegs. Gestiegen ist also unser Aufwand an Zeit, nicht unsere eigene Mobilität."

Prof. Frederic Vester, Studiengruppe für Biologie und Umwelt in München:

"Unsere Industriegesellschaft und mit ihr die Automobilindustrie steckt in einer Krise. Viele Wirtschaftler und Politiker wollen nicht begreifen, daß dies kein vorübergehender Zustand ist, auf den bald ein neuer Konjunkturaufschwung folgt. Die Weichen für Verkehr, Automobil und Industrie müssen mit möglichst wenig Eingriffen deswegen so gestellt werden, daß es für alle drei noch eine gute Zukunft gibt. Die wichtigste Voraussetzung ist der Abschied vom Explosionsmotor. So ist die Zeit längst reif für extrem leichte Stadtmobile. 70 kg Mensch mit zwei Tonnen Blech herumzuschleppen, ist im Grunde absurd und eines intelligenten Lebewesens unwürdig. Es geht jetzt um Fahrzeuge einer zweiten Generation: Kurz und hoch, praktikabel und sicher. Höchstgeschwindigkeit 60 km/h, aber flink und wendig, recyclefähig, lautlos und abgasfrei. Fahrzeuge, die voll mit erneuerbarer Energie (Sonne, Wind, Biogas, Muskel

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kraft) auskommen. Diese notwendige Entwicklung könnte durch eine drastische Besteuerung von Benzin beschleunigt werden. Das dürfte den absurd aufgeblähten Fernverkehr reduzieren und zu mehr lokaler Versorgung führen."


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | März 2001

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