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TEILDOKUMENT:
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6.1 Grundsätzliche Analyse der Einsparmöglichkeiten bei der Stromnutzung
6.1.1 Gründe für ein wettbewerbsorientiertes Industriemodell in der Stromwirtschaft
Der Druck in Richtung auf Umstrukturierung und regulative Reform der Versorgungsunternehmen, der jetzt in einigen Europäischen Staaten sowie anderswo offensichtlich wird, ist hauptsächlich ökonomisch motiviert. Da Einsparungen aufgrund einer Erhöhung der Produktionskapazität (economies of scale) in der Stromerzeugung kaum noch existieren, könnte ein wettbewerbsorientiertes Industriemodell potentiell hohe ökonomische Gewinne für Stromkunden und Gesellschaft bedeuten. Unterstützung findet eine solche Reform besonders unter größeren gewerblichen und industriellen Kunden von Versorgungsunternehmen, die in einem deregulierten Strommarkt auf niedrigere Preise hoffen.
6.1.2 Die Existenz von Negawatt-Ressourcen
Ein Vorteil ist - sowohl im technischen als auch im ökonomischen Sinne - in einem enormen Potential der effizienteren Stromnutzung zu finden. Sogenannte Negawatt-Ressourcen existieren, weil die Märkte für Energie-Effizienz unter fortbestehenden Problemen hoher Transaktionskosten leiden. Frühere Arbeiten zu diesem Thema belegen, daß ein Marktversagen dieser Art auch ohne Preispolitik kosteneffektiv reduziert oder sogar eliminiert werden kann. Der Mangel an entsprechenden politischen Maßnahmen hat zu einem massiven Überhang von unrealisierten geldsparenden Investitionen im Bereich Energie-Effizienz geführt.
6.1.3 Marktwirtschaftliche Anreize zur Effizienzsteigerung der Stromnutzung
Fünfzehn Jahre des Experimentierens in vielen Ländern mit Programmen zur Effizienzsteigerung der Stromnutzung haben eine Vielzahl von verläßlichen Politikinstrumenten hervorgebracht, die bestehende Transaktionskosten (Umwandlungskosten) mit meist niedrigem Verwaltungsaufwand kosteneffektiv vermindern. Eines dieser markttransformierenden Instrumente ist eine Reihe von freiwilligen oder gesetzlich auferlegten Effizienz-Standards für strombetriebene Geräte, Gebäudehüllen sowie Wärmeisolierungen und Ausstattungen am Bau. Ein ebenso wichtiger hierzu komplementärer marktwirtschaftlicher Ansatz findet sich in Programmen, die sich mit von Versorgungsunternehmen finanziertem Demand-Side-Management (nachfrageorientiertes Management) und Technologieförderung befassen. Solche Programme sind von hunderten Versorgungsunternehmen und vielen nationalen sowie lokalen Parlamenten in Nordamerika und zunehmend auch in Westeuropa erfolgreich implementiert worden. [Seite der Druckausg.: 23]
6.1.4 Höhere Zahlungsraten für entschieden niedrigere Stromrechnungen
Im Zuge des Deregulierungsprozesse ist die bewährte Finanzierungsmethode der EVU für großangelegte Energiesparprogramme - höhere Zahlungsraten für entschieden niedrigere Stromrechnungen - in Vergessenheit geraten. Marktwirtschaftlich orientierte Energie-Effizienz-Dienstleistungen, angeboten von Energiedienstleistungsunternehmen oder Versorgungsunternehmen in Form von Prämienprogrammen, können nur einen begrenzten Anteil des existierenden Negawatt-Potentials freisetzen.
6.1.5 Konflikt zwischen Liberalisierung des Versorgungssektors und Klimastabilisierung
Aus umweltbezogener Sicht könnte der Zeitpunkt für diesen Verlust eines so entscheidenden Politikhebels nicht schlechter gewählt sein. Energie-Effizienz ist ein zentraler Pfeiler jedes glaubwürdigen Aktionsplans gegen globale Klimaveränderungen. Die Liberalisierung der Energieangebotsseite wird im Vergleich zu 'business as usual'-Szenarien höchstwahrscheinlich zu einem Ansteigen der CO2-Emissionen führen, da sowohl erneuerbare Energiequellen als auch Atomkraftwerke in diesem Umfeld kaum wettbewerbsfähig sein können. Gezielte politische Maßnahmen sind unverzichtbar für die Implementierung kosteneffektiver Energie-Effizienzpotentiale, wenn es nicht zu einem Zusammenstoß zwischen Liberalisierung des Versorgungssektors und Klimastabilisierung kommen soll.
6.1.6 Erweitertes Reformkonzept
Die bei weitem größte Herausforderung für Regierungen mit dem Wunsch nach mehr Effizienz in der Energienutzung ist somit die Verbindung von Wettbewerbsmodellen (für die Umstrukturierung der Stromangebotsseite) mit nachfrageorientierten Maßnahmen. Ein solch erweitertes Reformkonzept im Versorgungssektor wird jedoch nicht vorankommen können, wenn Politiker und Öffentlichkeit weiterhin die Augen vor den ökonomischen Unzulänglichkeiten und Alternativkosten von engstirnigen Deregulierungsvorschlägen verschließen. Dasselbe gilt für die Institutionalisierung von kostengünstigen Energie-Effizienzstandards, die in der Europäischen Union offensichtlich mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden ist.
6.2 Die ökonomische Seite der Realisierung von Einsparmöglichkeiten
6.2.1 Potentielle ökonomische Gewinne der Effizienzsteigerung
Versteckt in westeuropäischen Gebäuden, Fahrzeugen und Industriestätten liegt eine Goldmine von Möglichkeiten, durch rationellere Stromanwendungen den Energieverbrauch ohne Komforteinbuße zu senken. Die potentiellen ökonomischen Gewinne der Effizienzsteigerung - sowie auch die ökonomischen Verluste beim Unterlassen der Einsparmaßnahmen - sind sogar unter heutigen Konsumverhältnissen gewaltig. Mit wachsender ökonomischer Aktivität und beim Anstieg der Stromanwendungen auf der Verbraucherseite wachsen auch die Gewinnpotentiale und mit ihnen die Alternativkosten des Nichtstuns. [Seite der Druckausg.: 24]
6.2.2 Stromeinsparpotential bzw. ökonomische Sparpotentiale
Basierend auf einer Fallstudie der fünf EU-Länder Frankreich, Deutschland, Italien, Niederlande und Großbritannien (EU-5-Länder = EU-5-Region), können folgende Aussagen getroffen werden:
Solche billigen Stromeinsparpotentiale lassen sich mit der Zeit in gewaltige ökonomische Sparpotentiale übertragen:
Diese Potentiale der Nachfrageseite sind 2-4 mal größer als die erwarteten Gewinne durch die Liberalisierung des europäischen Stromangebots.
6.2.3 Finanzierungsmöglichkeit für die Entwicklung erneuerbarer Energien
Selbst wenn nur ein Bruchteil dieses ökonomischen Potentials realisiert wird, kann der Freiheitsgrad für Energie-, Wirtschafts-, Sozial- und Umweltpolitik erheblich ansteigen. Um nur ein Beispiel zu nennen: 150 - 300 Milliarden ECU sind 15 - 50 mal mehr Geld als das, was für ein konsequentes FuE- (Forschung und Entwicklung) und Markteinführungsprogramm für erneuerbare Energien notwendig wäre. Solch ein Programm könnte den Weg für Photovoltaik, Biomasse als Energieträger und für viele andere Technologien zur Nutzung erneuerbarer Energiequellen ebnen, d. h. ihnen helfen, innerhalb der nächsten 10 - 15 Jahre wettbewerbsfähig zu werden oder kosteneffektiv gegen die fortgeschrittene Energieerzeugung auf Basis fossiler Energie zu bestehen. [Seite der Druckausg.: 25]
6.3 Elektrifizierung ohne Wachstum
6.3.1 Der Stromverbrauch unter den aktuellen Bedingungen
Es wird angenommen, daß sich für die EU-5-Region die stromseitigen Energiedienstleistungen (Besitz und Betrieb von elektrischen Geräten, Beleuchtung, Maschinen, Computer etc.) von 1985 bis 2020 verdoppeln. Wenn wir den Annahmen des 'business as usual'-Szenarios folgen, die nur wenige Effizienzverbesserungen zulassen, würde das Volumen des Stromendverbrauchs von 1985 bis 2020 um das 1,8fache wachsen. Im selben Zeitabschnitt bleibt die Bevölkerung praktisch konstant.
6.3.2 Der Stromverbrauch bei Nutzung von Einsparpotentialen
Mit ökonomisch effizienter Politik hingegen, kann ein völlig anderes Bild skizziert werden:
In Anbetracht dieser Proportionen würde ein wirtschaftlich effizienter Stromeinsparprozeß in den westeuropäischen Volkswirtschaften in flacher oder sinkender Stromnachfrage resultieren, und nicht etwa in weiterem Wachstum. Die meisten Konsumenten und Unternehmen würden im Jahre 2020 trotz einer vergleichsweise höheren Zahl von Stromanwendungen weniger Kilowattstunden als heute verbrauchen.
6.4 Folgerungen für die Umwelt (Umweltauswirkungen)
6.4.1 Sinkender Kraftwerkebedarf
Durch die Umsetzung solcher wirtschaftlichen Maßnahmen ist der potentielle Gewinn für die Umwelt enorm:
6.4.2 Emissionsminderung durch Veränderungen im Kraftwerksbereich Die Emissionsgewinne, die niedrigerem Erzeugungsbedarf zugrunde liegen, hängen wie auch die wirtschaftlichen Einsparungen, von der Art und Weise ab, wie emissionsseitig minderwertige Kraftwerke bewertet und behandelt werden. In unseren [Seite der Druckausg.: 26] Rechnungen gehen wir davon aus, daß die Mehrheit dieser Kraftwerke entweder in den nächsten 25 Jahren nacheinander geschlossen wird, oder, falls es kosteneffektiv ist, daß sie in Kraftwerke umgewandelt werden, die dem höchstmöglichen Technologieanspruch sowohl beim Wirkungsgrad als auch im Emissionsbereich gerecht werden. In den meisten Fällen würden Stillegungen nur dann eintreten, wenn diese Kraftwerkskapazitäten voll und ganz abgeschrieben wären.
6.4.3 Reduzierung von CO2-Emissionen
Mit diesem Politikansatz, der die Stillegung der schmutzigsten und gefährlichsten existierenden Kohle-, Öl- und Atomkraftwerke beschleunigen würde, könnte die Integration der Stromsparpotentiale auf der Nachfrageseite mit dem Stromangebot folgendes bewirken:
Diese Ergebnisse schließen eine Politik aus, die versucht, Investitionen in neue Kraftwerke zu lenken, die eine Stromerzeugung mit charakteristisch niedrigen CO2-Emis-sionen aufweisen. Sie reflektieren ein sehr enggefaßtes Konzept von Integrierter Ressourcen-Planung (IRP) oder Least-Cost Planning (LCP), d. h. energiesparende Strategien und Instrumente. Der erhebliche Spielraum der Emissionsreduktionen in diesem energiepolitischen Zusammenhang beruht auf den Unsicherheiten, die sich auf der Kostenseite für alternative Brennstoffe und Technologien befinden.
6.5 LCP versus minimales Umweltrisiko
6.5.1 Der risikominimierende Ansatz
Größere und besser voraussehbare CO2-Reduktionen können erzielt werden, wenn auf der politischen Entscheidungsebene das konventionelle LCP-Kriterium dem Ziel der kleinstmöglichen Kohlenstoffemissionen, oder, noch weiter gefaßt, dem minimalen Umweltrisiko, untergeordnet wird. Dieser risikominimierende Ansatz entspricht der Nutzung von Einsparungen durch kosteneffektive Energieeinsparungen für die Bezahlung von zusätzlichen Einsparmaßnahmen oder solchen Angebotsoptionen, die zwar niedrige Emissionen aufweisen, jedoch nicht kosteneffektiv sind. An dieser Stelle soll die Analyse auf die Nutzung von ökonomischen Einsparungen ausschließlich für zusätzliche Nachfrageressourcen beschränkt werden. Die Resultate belaufen sich dann auf folgendes:
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6.5.2 Bilanz der ökonomischen Einsparungen
Somit wird deutlich, daß selbst risikominimierende Politik mindestens 60 - 120 Milliarden ECU (Gegenwartswert) in Form von gesparten Stromdienstleistungen schaffen würde - wiederum weitaus mehr als für eine großangelegte Kampagne zur Markteinführung von erneuerbaren Energiequellen benötigt würde. Unter Berücksichtigung von bestimmten Rückwirkungseffekten der Politik kann davon ausgegangen werden, daß mindestens 95% der durch LCP erwirtschafteten ökonomischen Einsparungen mit Risikominimierung immer noch realisiert werden könnten.
6.5.3 Emissionen unter Risikominimierung
Wenn eine Politik im Stromangebotssektor niedrige CO2-Emissionen zum Ziel hat und mit den obengenannten Potentialen der Stromeinsparung kombiniert wird, dann könnten die Emissionen des gesamten Stromsektors im Jahr 2020 um mehr als 85% unter dem Niveau von 1985 liegen. Die ökonomischen Einsparungen, die sich aus dieser Emissionsverminderung ergeben, sind wiederum gewaltig.
6.6 Schlußfolgerung
Insgesamt wird gezeigt, daß konsteneffektive Energieeinsparinvestitionen für Westeuropa eine einzigartige Stromangebotsoption mit niedrigen CO2-Emissionen bilden. Diese Negawatt-Ressourcen stellen nicht nur ein 'no regrets'-Potential dar, ein Potential also, dessen Realisierung in keinem Fall zu bedauern ist, sondern vielmehr ein profitables Potential zur Verminderung von CO2-Emissionen im Zuge der ertragreichen Produktion wirtschaftlicher und umweltbezogener Doppeldividenden. Die ökonomischen Gewinne eines aggressiven Einsparprogrammes auf der Nachfrageseite sind erwiesenermaßen mindestens genauso groß - und plausiblerweise um einiges größer - als die Gewinne, die von einer Reform des Stromangebotsmarktes allein erwartet werden könnten. Aus dieser Tatsache kann gefolgert werden, daß die gegenwärtigen, enggefaßten Liberalisierungsvorschläge erhebliche Zusatzkosten für Konsumenten, Unternehmen und die Gesellschaft als Ganzes beinhalten. Kosten, die unter Berücksichtigung relevanter Umweltexternalitäten noch wachsen werden. Diese Zusatzkosten sind in der Deregulierungsdebatte bisher weitgehend unerkannt geblieben. Sie verlangen nach einem integrierten marktwirtschaftlichen Ansatz, der die wettbewerbsfähige Umstrukturierung auf der Angebotsseite mit einer Politik auf der Nachfrageseite verbindet, die danach strebt, effektive Märkte für Energieeinsparung zu schaffen. Sollten westeuropäische Regierungen ihre Verbrauchersektoren nicht erfolgreich gemäß den oben gezeigten Politiklinien reformieren, müßten sie ernsthaft eines ökonomischen und umweltpolitischen Versagens bezichtigt werden. © Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Februar 2000 |