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2. Neue Zentren in den Verdichtungsräumen der USA

Am Beispiel der USA lassen sich die bereits angesprochenen Auswirkungen der Globalisierung auf lokale und regionale Entwicklungen anhand der Umstrukturierung der metropolitan areas (Verdichtungsräume) während der letzten 20 Jahre nachvollziehen. Relativ neu ist die Herausbildung sog. edge cities (Garreau, 1991, Müller/Rohr-Zänker (1995) übersetzen den Begriff mit „Randstädten"), d.h. neue Agglomerationen der dynamischen Wachstumsindustrien (z.B. High-Tech) und Wohnstandorte ihrer gut bezahlten Beschäftigten, die eigene Zentrenstrukturen herausbilden und somit den klassischen, auf die Kernstädte ausgerichteten suburbanen Raum neu definieren. In den USA vertreten viele die Ansicht, daß edge cities weniger als Entlastungszentren der Kernstädte füngieren, sondern vielmehr eine Alternative zu ihnen herausbilden (vgl. Müller/Rohr-Zänker, 195).

Der Blick in die USA ist interessant, weil sich auch in deutschen Verdichtungsräumen ähnliche Entwicklungen abzuzeichnen beginnen, wie beispielsweise die Zentrenbildung außerhalb der Kernstädte an Flughäfen oder auf der „Grünen Wiese" zeigen. Das im Raumordnungspolitischen Orientierungsrahmen von 1993 vorgeschlagene Leitbild der „Dezentralen Konzentration" einer zukünftigen Siedlungsentwicklung sieht die Entlastung der Kernstädte und Stärkung der Umlandzentren als Entwicklungsoption ausdrücklich vor. Die Rede von einer „Amerikanisierung deutscher Städte" dürfte al-

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lerdings vorschnell sein und macht eine genauere Betrachtung der - allein systembedingten - Parallelen und Unterschiede zu US-amerikanischen Entwicklungen notwendig.

So ist beispielsweise zu fragen, welche Besonderheiten amerikanische edge cities auszeichnen, welche Typen es gibt und wie sie sich unterscheiden, welche siedlungsstrukturellen Voraussetzungen zu ihrer Entstehung führen und welche ökonomischen und sozialen Auswirkungen sie auf die „klassischen" Kernstädte haben.

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2.1 Restrukturierung der Verdichtungsräume in den USA seit den 60er/70er Jahren

Im „klassischen" Modell US-amerikanischer Stadtregionen bildete die Kernstadt als das Wirtschafts-, Kultur-, Macht- und soziale Zentrum den Mittelpunkt der jeweiligen metropolitan area. Dieser war von einem Ring monostrukturierter suburbs umgeben, die auf die Kernstadt ausgerichtet und von ihr abhängig waren.

Bis heute hat sich innerhalb der Verdichtungsräume diese klare Raumteilung zu einer multizentrischen Raumstruktur entwickelt. Es kann keine eindeutige Hierarchie mehr zwischen Kernstadt und Peripherie identifiziert werden, und Funktionen höchster Zentralität sind nicht mehr länger an kern- bzw. innerstädtische Standorte gebunden. Vielmehr entwickelten sich viele suburbs durch die Ansiedlung dieser Funktionen selbst zu Zentren: „Die suburbs sind zu wirtschaftlichen Aktivitätszentren geworden. Sie haben sich aus der ökonomischen, sozialen und kulturellen Abhängigkeit von der alten Kernstadt gelöst, und ihre Erscheinung ist weit entfernt von der traditionellen Wohn-suburbs." (vgl. Müller/Rohr-Zänker, 1995: 437).

Bei diesen neuen Zentren handelt es sich um vollständig synthetische Gebilde, die innerhalb kürzester Zeit „aus dem Boden gestampft" werden. Häufig ohne eigenen Gemeindestatus und somit ohne klar definierte administrative Grenzen, Verwaltung und politische Vertretung, besitzen viele edge cities auch keine individuelle Ortsnamen, sondern werden beispielsweise nach ihrer Lage im Straßen- bzw. Autobahnnetz benannt.

Edge cities sind eigenständige Zentren mit Einkaufs-Malls, einem Kultur- und Unterhaltungsangebot, medizinischen Versorgungseinrichtungen, Tagungs- und Kongreßzentren. Hier finden sich Verwaltungszentralen großer nationaler und multinationaler Unternehmen, die bisher die skylines der Kernstädte geprägt hatten. Während noch 1980 ca. 60% aller Büroflächen in den CBDs [Fn.4: Central B usiness D istrict: Innerstädtisches Geschäfts- bzw. Dienstleistungszentrum der Kernstädte] der Kernstädte angesiedelt waren,

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konnte bereits 1990 ein Rückgang auf ca. ein Drittel konstatiert werden, was für die traditionellen Innenstädte einen erheblichen Funktionsverlust als Wirtschaftszentrum und Wachstumspol bedeutete. Der Büro-Boom der 80er Jahre fand überwiegend in den edge cities statt.

Nicht nur die Einwohnerzahl, sondern auch die der Arbeitsplätze übersteigt heute in den suburbanen Räumen diejenigen der Kernstädte. An den neuen Standorten lassen sich neben den o.g. Verwaltungszentralen die dynamischen Wachstumsbranchen High-Tech, unternehmensorientierte Dienstleistungen und - in die zahllosen (Luxus-)malls einziehend - der Einzelhandel nieder. Innerhalb der metropolitan areas finden also nicht nur De-, sondern ganz massiv auch Rekonzentrationsentwicklungen statt, die in Form der edge cities einen neuen Agglomerationstyp herausgebildet haben.

Das etwa 15 km westlich von Washington D.C. im Fairfax County liegende Tysons Corner ist eine typische edge city (vgl. Abbildung 1). Tysons Corner zählte 1990 auf einer Fläche von 2.400 ha ca. 30.000 Einwohner, über 3.000 Hotelbetten, ca. 80.000 Autostellplätze - bei fehlenden öffentlichen Verkehrsmitteln -, zwei malls mit einem hochwertigen Angebot sowie acht Luxuskaufhäuser (in Washington D.C. selbst gibt es nur eines). Die Zahl der Arbeitsplätze ist von ca. 75.000 im Jahr 1990 auf 90.000 in 1992 - d.h. um 200 % - angewachsen (vgl. Holzner, 1990). Tysons Corner ist nach Manhattan (New York City) die zweitgrößte Einzelhandelskonzentration an der US-Ostküste, besitzt aber keine eigene Verwaltung, keine politische Vertretung und keine öffentlichen Einrichtungen.

Die geschilderten Restrukturierungstendenzen innerhalb der metropolitan areas lassen sich nur im historischen Kontext der Entwicklung des suburbanen Raumes verstehen.

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2.2 Suburbanisierung in den USA

Der Verlauf der Suburbanisierung in den USA vollzog sich im wesentlichen in drei Wellen:

  1. Jahrhundertwende bis 40er Jahre: Wohnsitzverlagerung oberer Einkommensschichten in den suburbanen Raum. Seit den 30er Jahren beschleunigten der extensive Straßenbau, die staatliche Subventionierung des Eigenheimbaus und die allgemeine Zunahme der Motorisierung die Bevölkerungssuburbanisierung, aus der nach Ende des Zweiten Weltkriegs eine Massenbewegung wurde, aus der die „klassischen" standardisierten Wohn-suburbs entstanden.

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Abbildung 1: Tysons Corner und andere edge cities in der Washington Area (aus: Garreau, 1992)

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  1. 50er Jahre: Handel und konsumorientierte Dienste folgten der abgewanderten Kaufkraft in die Vororte. Zusammen mit den Auslagerungen des produzierenden Gewerbes und des Großhandels setzte damit die disperse Zersiedlung der Verdichtungsräume („urban sprawl") ein.

  2. Seit den 70er Jahren konzentrierte auch der Dienstleistungssektor seine Investitionen auf den suburbanen Raum, allerdings mit der Tendenz zur Ausbildung neuer Zentren. Im Zuge dieser Entwicklung nahm die Zahl der Einpendler aus dem „klassischen" suburbanen Raum in die suburbanen Zentren (edge cities) zu, was das ursprüngliche Beziehungsgefüge zwischen Kernstadt und Suburbia endgültig veränderte.

Somit kann nach jahrzehntelanger dispersen Entwicklung eine Tendenz zur „Re-Konzentration" in Suburbia festgestellt werden, die ebenfalls in drei Schritten verlaufen ist.

  1. Zunächst entstanden im suburbanen Raum - ähnlich wie in Deutschland - Großeinrichtungen des Einzelhandels auf der „Grünen Wiese", in denen mit neuen Verkaufs- und Vermarktungsstrategien die Möglichkeit zum „Erlebnis-Kauf inszeniert wird. Die Kopplungsmöglichkeit von Einkaufen und Freizeitgestaltung ließ vielerorts kleine Konzentrationen von Einzelhandels- und Freizeitzentren entstehen.

  2. In einem zweiten Schritt begannen große Unternehmen ihre nachgeordneten (Verwaltungs-) Dienstleistungen (back offices) aus den Städten in die Vororte zu verlagern und in der Nähe o.g. Konsumzentren anzusiedeln. Die Hauptmotivation für diese Strategie sind die vergleichsweise niedrigeren Grundstücks- und Arbeitskosten im suburbanen Raum. Vor allem gut ausgebildete Frauen, die als „Zweitverdienerinnen" eine Teilzeitarbeit suchen und bereits in den suburbs wohnen, werden als „Billiglohn"-Arbeitskräfte eingestellt.

  3. Die Entstehung von edge cities im oben beschriebenen Sinne wird durch die Ansiedlung v.a. der High-Tech-Branche, aber auch von Versicherungen, Immobilienmaklern, Finanzberatern und anderen unternehmensbezogenen Dienstleistungen in den suburbanen Versorgungs- und Bürostandorten abgeschlossen, die als neue Agglomerationen permanent neue Dienstleistungen nachfragen. Den komplementären privaten und öffentlichen Dienstleistungen folgen das mittlere Management und schließlich auch Headquarters großer nationaler und internationaler Unternehmen in die Vororte.

Heute spielen produktionsorientierte Dienstleistungen in der suburbanen Ökonomie eine größere Rolle als in den Kernstädten. Auch der Anteil hochqualifizierter Arbeitskräfte in den Bereichen Technologie, Management, Werbung bzw. der F.I.R.E.-Branchen [Fn.5: Finance, I nsurance, R eal E state: Finanz- und Versicherungswesen, Immobilien] ist hier wesentlich höher.

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Der hohen Produktions- und Wohnwertigkeit in diesen neuen Zentren entspricht die äußere Gestaltung der edge cities. Postmoderne Architektur mit z.T. aufwendigen Fassadengestaltungen findet sich neben „durchgestylten" Freiflächen mit Gärten, Park- und Wasseranlagen. Die hochwertigen Gewerbeflächenangebote verfügen über intelligente Gebäude mit modernster (Telekommunikations-) Infrastruktur. Der suburbane Charakter der geringeren Gebäudedichte mit großen Freiflächen bleibt erhalten.

Allerdings setzen in den edge cities in exponierter Lage ähnliche Preismechanismen wie in entsprechenden CBDs ein, so daß hier die flächenintensiven „liegenden Hochhäuser" zunehmender vertikaler Expansion weichen. Einige edge cities prägen mittlerweile eine „typisch amerikanische" Hochhaus-Skyline aus und übertreffen das Kosten- bzw. Mietniveau der Kernstädte. In besonders exponierten edge cities findet sich eine ausgesprochene Nutzungsvielfalt durch die Ansiedlung öffentlicher Einrichtungen (Bildung, medizinische Versorgung, Kultur und Sport), ergänzt durch Gastronomie, Hotelgewerbe und Kongreßzentren, aber auch Forschungs- und Entwicklungseinrichtungen.

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2.3 Ursachen der Wachstumsdynamik von edge cities

Die Ursachen der aktuellen Wirtschaftsdynamik der edge cities liegen in den

  • Veränderungen der allgemeinen Wirtschaftsstruktur (Stichwort „Globalisierung") und den

  • veränderten gewerblichen Standortanforderungen als Ergebnis der neuen technologischen Entwicklungen (Stichwort „Flexibilisierung").

Die wichtigsten Standortfaktoren für die neuen Dienstleistungsökonomien, wie

  • hohe Verkehrszentralität,

  • hochwertige technische Infrastruktur,

  • differenziertes, qualifiziertes Arbeitskräfteangebot,

  • Vielfalt und Spezialisierung der lokalen Unternehmensstruktur,

  • Kommunikationsdichte sowie

  • hoher Freizeitwert und Sicherheit

finden sich mittlerweile im suburbanen Raum, der sich vor allem durch seine für den Massenindividualverkehr der USA wichtige Verkehrsgunst an Kreuzungspunkten regional oder überregional wichtiger Schnellstraßen bzw. in Flughafennähe und durch ausreichende Parkmöglichkeiten auszeichnet. Damit sind agglomerationsabhängige Betriebe nicht mehr zur Ansiedlung in den alten Zentren gezwungen, die mit zunehmender Flächenknappheit, überalterter Infrastruktur, Verkehrs- und sozialen Proble-

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men sowie einem damit verbundenen Imageverlust zu kämpfen haben. Das mit einsetzender Bevölkerungssuburbanisierung zunächst fiskalpolitisch definierte „Kernstadtproblem" hat sich u.a. durch die geschilderten Entwicklungen der edge cities bis auf wenige Ausnahmen auf funktionale und soziale Krisen ausgeweitet. Soziale Probleme wie Obdachlosigkeit, Drogen-/Kriminalität, Armut usw. werden in den Kernstädten zurückgelassen und effektive Ausgrenzungsmaßnahmen sorgen dafür, daß die Exklusivität der Vororte gewahrt wird.

Die meisten edge cities haben ein positives Image. Sie gelten als „feine Adresse" für Unternehmen und signalisieren Sicherheit und soziale Exklusivität. Das „Arbeiten im Park" und das hochwertige Konsum- und Freizeitangebot werden als Garant für kreative Arbeitsleistungen gesehen. Einige Stadtplaner und Sozialwissenschaftler sehen in der Edge City-Entwicklung eine Tendenz zur Re-Urbanisierung, zu einem neuen Bedürfnis nach städtischer Dichte außerhalb der alten, belasteten Zentren.

Über die genannten Determinanten hinaus spielen aber noch zwei weitere wesentliche Aspekte eine große Rolle bei der Entstehung und Dynamik von edge cities.

  1. Die politische und planungsrechtliche Situation in den USA zeichnet sich - ganz im Gegensatz zu Deutschland - durch das weitestgehende Fehlen von Planungsrestriktionen auf Landes- und Regionalebene aus, so daß die Konkurrenz um Gewerbeansiedlungen zwischen den einzelnen Gebietskörperschaften extreme Formen annehmen und zu einem uneingeschränkten, unkontrollierten Flächenwachstum führen kann.

  2. Auch die Planungs- und Vermarktungsstrategien unterscheiden sich von deutschen Vorgehensweisen. In den USA übernehmen Developer die gesamte Stadtentwicklung von der Standortauswahl über die Planung (meist in Form von Masterplanprojekten) bis zur Finanzierung, Bauausführung und Vermarktung. Die Motivation für diese Extremform der Angebotsplanung liegt in der Abschöpfungsmöglichkeit der enormen Bodenpreissteigerung nach Fertigstellung des „Produktes" Siedlung. Diese Reinform der Bodenspekulation ist für Deutschland zur Zeit nicht denkbar. Die Suburbs-Projekte der kapitalkräftigen development-Industrie zielen stets auf kurzfristige Umsetzung, da sie schnellebige Nachfragetrends befriedigen müssen.

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2.4 „Amerikanisierung" deutscher Stadtregionen?

Es stellt sich die Frage, ob die wirtschaftlichen und - in abgeschwächter Form - sozialen Bedingungen der edge city-Bildung in den USA auch für Deutschland gelten oder ob die kulturellen, sozialen und historischen Unterschiede zwischen beiden Staaten zu groß für eine Übertragung der aufgeführten Entwicklungsdeterminanten auf deutsche Verhältnisse sind. Damit verbunden ist sicherlich die Frage, wohin sich in Deutschland

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die Leitbilddiskussion der Stadtentwicklungsplanung bewegt: Gestaltende bzw. restriktive Planung seitens der zuständigen Verwaltungsstellen versus „Markt als Planer".

Wie die gegenwärtigen Diskussionen um intraregionale Kooperationsmöglichkeiten zeigen, dürfte es jedoch unbestritten sein, daß Stadtentwicklungskonzepte nur unter Einbeziehung des gesamten Verdichtungsraumes „sinnvoll" sind, unter anderem um De- und Rezentralisierungstendenzen steuern zu können. Dazu sind in Deutschland allerdings neue Instrumente der integrierten Regionalplanung notwendig.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | April 2001

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