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TEILDOKUMENT:
[Seite der Druckausgabe: 8] II. Bevölkerungsentwicklung, Erwerbsverhalten, Arbeitsmarkt Der Bevölkerungsrückgang
Die Bevölkerung in der DDR war seit dem Mauerbau 1961 relativ konstant geblieben. Sie nahm vor allem wegen der leicht negativen Reproduktionsrate ab. 1961 gab es 17,1 Millionen Menschen in der DDR, 1989 waren es 16,4 Millionen. Der Rückgang in 29 Jahren betrug somit 4,4%. Allein in den fünf Jahren nach der Wende 1989 ging die Bevölkerung um knapp 1 Million oder 5,5% zurück. Die Zahl der Bevölkerung nahm vor allem kurz nach der Wende dramatisch ab. Allein in den Jahren 1990/91 betrug der Rückgang 644.000 oder 4 %. Seit 1992 hat sich der Bevölkerungsrückgang abgeflacht, wenngleich in den Jahren 1992 bis 1994 immer noch über eine viertel Million Menschen in den neuen Ländern weniger gezählt wurde als zuvor. Neben der negativen Reproduktionsrate war es vor allem die Abwanderung der ostdeutschen Bevölkerung in den Westen, die für diesen Bevölkerungsrückgang verantwortlich zu machen ist. Migration der ostdeutschen Bevölkerung
Seit der Wende im Jahr 1989 haben bis zum August 1995 1,677 Millionen Ostdeutsche ihre Heimat verlassen und sind in die alten Bundesländer oder ins Ausland übergesiedelt. Dem standen gut eine halbe Million Bundesbürger aus Westdeutschland und Ausländer gegenüber, die im gleichen Zeitraum in die neuen Länder gezogen sind. Saldiert ergibt sich dadurch ein Wanderungsverlust von 1,095 Millionen Menschen zulasten der ostdeutschen Länder.
[Seite der Druckausgabe: 9] Die Leistungsträger ziehen fort
Es ist vor allem die junge, aktive, qualifizierte, schon im Arbeitsleben bewährte Bevölkerungsgruppe - die der 18 bis 40 Jährigen -, die Ostdeutschland verlassen hat. Von 1989 bis 1994 siedelten über 660.000 Ostdeutsche in der Altersgruppe von 18 bis 40 Jahren in die alten Bundesländer bzw. ins Ausland über. Besonders stark ging die Bevölkerungszahl in der Gruppe der 18-21 Jährigen zurück: nämlich von 680.227 im Jahre 1989 auf 489.548 im Jahre 1994. Das ist ein Rückgang von über 28%. Auch in der Gruppe der 21 bis 40 Jährigen, also die Altersgruppe der eigentlichen Leistungsträger, stellen wir einen überdurchschnittlichen Rückgang fest. Hier gab es im Jahre 1989 über 4,884 Millionen Personen, im Jahre 1994 dagegen nur noch 4,408 Millionen. Das ist ein Rückgang von 9,7%. Demgegenüber lag der Bevölkerungsrückgang insgesamt nur bei 5,4% Es ist gerade diese Abwanderung der ostdeutschen Wohnbevölkerung im erwerbsfähigen Alter, die in den Jahren unmittelbar nach der Vereinigung ganz erheblich zu einer Entlastung auf dem Arbeitsmarkt in Ostdeutschland geführt hat. Der Zusammenbruch des ostdeutschen Arbeitsmarktes
In der Geschichte der Industriegesellschaften wurden noch nie so viele Menschen eines Wirtschaftsraumes so unvermittelt von einem so plötzlichen Strukturumbruch ergriffen, wie die Beschäftigten in den neuen Bundesländern. Millionen von Arbeitsplätzen verschwanden praktisch über Nacht, ohne daß bis heute hinreichend neue Arbeitsplätze für alle diejenigen geschaffen werden konnten, die arbeiten wollen und auf Erwerbsarbeit angewiesen sind. Von 1989 bis 1994 sank die Zahl der Erwerbstätigen in allen Wirtschaftszweigen - vom Dienstleistungssektor einmal abgesehen - von 9,126 Mio. auf 5,089, eine Reduktion um 4,037 Mio. oder 44%. Allein um 77 % nahm die Zahl der Erwerbstätigen in der Land-, Forst- und Fischwirtschaft ab, 51 % waren es im produzierenden Gewerbe, 27 % bei Handel, Verkehr und Nachrichtenunternehmen. Beim Staat und bei den Organisationen ohne Erwerbscharakter wurde die Erwerbstätigenzahl um 29 % reduziert. Lediglich bei den Dienstleistungen gab es ein Plus von 91 % im gleichen Zeitraum. Dieser Zuwachs reichte jedoch bei weitem nicht aus, um die drastischen Beschäftigungsverluste in den anderen [Seite der Druckausgabe: 10] Sektoren auszugleichen. Insgesamt nahm die Zahl der Erwerbstätigen in den Jahren von 1989 bis 1994 um 3,477 Mio. oder 36 % ab.
Seither stagniert praktisch die Zahl der Erwerbstätigen. Nach dem Tiefpunkt der Beschäftigungsentwicklung im Jahre 1993, als 6,208 Millionen Erwerbstätige gezählt wurden, kam ein Beschäftigungsanstieg nur schleppend voran. Im darauffolgenden Jahr kamen gerade einmal 100.000 Erwerbstätige hinzu. Im Jahre 1995 erlahmte der Anstieg bereits wieder. Seit dem Spätsommer 1995 ist die Erwerbstätigenzahl sogar schon wieder rückläufig. Im April 1996 lag bereits die Zahl der abhängig Beschäftigten wieder um 183.000 niedriger als im Vorjahresmonat. Werfen wir jedoch zunächst einen Blick auf die Entwicklung des Arbeitskräfteangebots. Dem Verlust an Arbeitsplätzen steht in den neuen Ländern eine unverändert hohe Zahl von Menschen im erwerbsfähigen Alter gegenüber, die einen Arbeitsplatz nachfragen. Die Wohnbevölkerung im erwerbsfähigen Alter ist in dem fraglichen Zeitraum kaum gesunken. Das Erwerbspersonenpotential - darunter versteht man die ostdeutschen Pendler nach Westdeutschland, die Erwerbstätigen, die Teilnehmer in Vollzeit-Weiterbildungsmaßnahmen und in Vorruhestandsregelungen sowie die Arbeitslosen - ist dagegen um fast 10 Prozent gesunken. Die Zahl der Erwerbspersonen (das sind die ostdeutschen Pendler nach Westdeutschland, die Erwerbstätigen sowie die Arbeitslosen) ist sogar um knapp 18 Prozent zurückgegangen. [Seite der Druckausgabe: 11]
Dem deutlichen Rückgang der Erwerbstätigen (- 35,9 %) und der abhängig Beschäftigten (- 39,3 %) steht zwar ein deutlicher Anstieg der Selbständigen ( + 168 %) gegenüber, der jedoch bei weitem nicht die Arbeitsplatzverluste bei den abhängig Beschäftigten zu kompensieren vermochte. Diesem einmaligen Prozeß der Vernichtung von Millionen von Arbeitsplätzen in so kurzer Zeit entspricht eine spiegelverkehrt analoge Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt. Die offiziell registrierten Arbeitslosenzahlen stiegen von 0,240 Mio. im Jahre 1990 auf 1,170 Mio. im Jahre 1992. Die Arbeitslosigkeit verharrt seither auf diesem Niveau. Mit der ausgeprägten Konjunkturschwäche seit dem Herbst des vergangenen Jahres nimmt die Arbeitslosigkeit jedoch saisonbereinigt wieder zu. Hinzukommen die Arbeitslosen, die in arbeitsmarktpolitschen Maßnahmen nach dem Arbeitsförderungsgesetz (AFG) unterkamen. Ihre Zahl war jahrelang höher als die Zahl der offiziell registrierten Arbeitslosen. Erst seit die Bundesregierung massiv bei den arbeitsmarktpolitschen Hilfen für Ostdeutschland kürzt, nimmt die Zahl der AFG-Teilnehmer ab und damit die Zahl der Unterbeschäftigten. Der Höhepunkt der Arbeitslosigkeit war im Jahre 1992 erreicht. Damals waren knapp drei Millionen Menschen von Arbeitslosigkeit betroffen, davon waren 1,170 Millionen offiziell registrierte Arbeitslosen, 1,802 Millionen waren in arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen untergekommen. Diese Zahlen der Bundesanstalt [Seite der Druckausgabe: 12] für Arbeit sind jedoch geschönt, da die sogenannten Nichterwerbstätigen in arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen hier nicht auftauchen.
Bevor wir auf das Thema Arbeitslosigkeit, Unterbeschäftigung und Arbeitsplatzdefizit näher und konkreter eingehen, sehen wir uns zum Abschluß dieses Abschnitts den Anteil der Erwerbstätigen und der Arbeitslosen an der Wohnbevölkerung im erwerbsfähigen Alter bzw. des Erwerbspersonenpotentials einmal an. Hieraus können wir erkennen, wie sehr sich eine ausschließlich auf Erwerbsarbeit orientierte Bevölkerung - freilich nicht aus freien Stücken - an das Nichtstun gewöhnen mußte. Die Zahl der Nichterwerbstätigen im erwerbsfähigen Alter nimmt stetig zu, wenn auch nicht in dem Tempo, wie manche sich dies wünschen würden.
Erwerbstätige und Nichterwerbstätige
Für viele Beobachter aus dem Westen besteht das Grundübel der Entwicklung auf dem ostdeutschen Arbeitsmarkt einfach darin, daß sich das Erwerbsverhalten der Ostdeutschen, vor allem das Erwerbsverhalten der ostdeutschen Frauen, noch nicht an westdeutsche Normen angepaßt hat. Wie wir sahen, sank die Zahl der Erwerbspersonen merklich - vor allem aufgrund der innerdeutschen Migrationsbewegungen in den Jahren 1990 bis 1992. [Seite der Druckausgabe: 13] Nach dem Abflachen der Wanderungsbewegungen verlangsamte sich auch der Rückgang der Zahl der Erwerbspersonen. Der Wunsch, erwerbstätig zu sein, blieb hoch. Diese Feststellung korrespondiert mit einer nur relativ bescheidenen Zunahme der Zahl der Nichterwerbspersonen. Angesichts der katastrophalen Entwicklung auf dem ostdeutschen Arbeitsmarkt mag dies für viele erstaunlich sein. Interessant ist die geschlechtsspezifische Entwicklung des Erwerbsverhaltens. Der Rückgang der Erwerbspersonen in den Jahren 1991 bis 1994 geht gleichermaßen zulasten von Männern und Frauen. So ging die Zahl der männlichen Erwerbspersonen von 4,55 Mio. 1991 auf 4,25 1994 zurück. Die Zahl der weiblichen Erwerbspersonen verringerte sich von 4,17 Mio auf 3,89 im gleichen Zeitraum. Während die Zahl der männlichen Nichterwerbspersonen von 3,03 Mio auf 3,26 Mio zunahm, blieb die Zahl der weiblichen Nichterwerbspersonen in diesem Zeitraum konstant bei 4,16 Mio. Das heißt: wer gehofft hatte, daß gerade die Frauen in die "stille Reserve" oder gar in die Nichterwerbstätigkeit verschwinden, sah sich getäuscht. Ein Vergleich der Erwerbspersonenquoten (Anteil der Erwerbspersonen an der Wohnbevölkerung im erwerbsfähigen Alter) von Männern und Frauen in West- und Ostdeutschland zeigt, daß der Orientierung auf eine Erwerbsarbeit bei beiden Geschlechtern in Ostdeutschland auch fünf Jahre nach der Wende immer noch sehr hoch ist. Besonders deutlich ist der Unterschied bei den Frauen. Während die Erwerbsquote bei Frauen in Westdeutschland bei nur 60% lag, war sie in Ostdeutschland bei 73,8% und liegt damit sogar höher als die Erwerbsquote bei den westdeutschen Männern, die lediglich bei 71,1% lag.
[Seite der Druckausgabe: 14] Anders sieht es aus, wenn die Erwerbstätigenquote (Anteil der Erwerbstätigen an der Wohnbevölkerung im erwerbsfähigen Alter) ermittelt wird. Hier haben sich die Verhältnisse bereits weitgehend angeglichen. Bei den erwerbstätigen Männer in Ostdeutschland liegt die Erwerbstätigenquote mit 69,6% zwischenzeitlich bereits unter der westdeutschen mit 75,7%, Die Erwerbstätigenquote bei den Frauen lag in Ostdeutschland bei 56,0%, während sie bei den westdeutschen Frauen knapp darunter lag, nämlich bei 55,2%. Während die Orientierung auf Erwerbsarbeit (ausgedrückt in den Erwerbspersonenquoten) bei den Männer und Frauen in Ostdeutschland deutlich über den entsprechenden westdeutschen Werten liegt, hat sich die tatsächliche Erwerbstätigkeit (ausgedrückt in der Erwerbstätigenquote) in beiden Teilen Deutschlands bereits weitgehend angeglichen. Die spannende Frage ist nunmehr, ob sich die Orientierung auf Erwerbsarbeit - wie schon seit langem im Westen - auch in Ostdeutschland aufbröselt - sei es durch die deprimierende Lage auf dem Arbeitsmarkt, sei es durch die Setzung von politischen Rahmenbedingungen, die die Bereitschaft, einen Arbeitsplatz nachzufragen, entmutigt. Bislang deutet jedoch wenig darauf hin, daß sich Arbeitslose und von Arbeitslosigkeit Betroffene, vor allem ostdeutsche Frauen, in das Heer der Nichterwerbstätigen abdrängen lassen. Über eine halbe Million Ostdeutsche pendeln in die westlichen Bundesländer und Westberlin
Die Zahl der Beschäftigten, die von Ostdeutschland in die benachbarten westlichen Bundesländer oder nach Westberlin pendeln, liegt seit Jahren konstant bei über einer halben Million. 8% der erwerbstätigen Wohnbevölkerung aus den neuen Bundesländern - das sind 550.000 Personen - pendeln nach einer Hochrechnung des IAB nach Westdeutschland oder Westberlin, um einer Arbeit nachzugehen. 62% der ostdeutschen Pendler (= 340.000) arbeiteten in Westdeutschland und 38% (=210.000) fanden in Westberlin eine Arbeit. Besonders prägnant ist die Situation in Berlin: 30% aller Ostberliner Erwerbstätigen gehen in Westberlin zur Arbeit. Das hat natürlich Folgen für den Westberliner Arbeitsmarkt. Zwischenzeitlich liegt die Arbeitslosenquote in Westberlin bereits einen Prozentpunkt höher als in Ostberlin (15,5 % in Westberlin zu 14,5% in Ostberlin - Mai 1996). Das Beispiel Berlin sollte all denjenigen als warnendes [Seite der Druckausgabe: 15] Beispiel dienen, die einer Verlangsamung des wirtschaftlichen Aufbauprozeßes in Ostdeutschland das Wort reden. Wer Arbeitslosigkeit im Osten nicht bekämpfen mag, wird sie in Westdeutschland bekämpfen, zumindest finanzieren müssen. Aber auch in Flächenstaaten wie Thüringen oder Mecklenburg-Vorpommern sind 9% bzw. 8,5% der erwerbstätigen Bevölkerung gezwungen, im Westen eine Arbeit aufzunehmen. In Brandenburg sind es 7% und in Sachsen-Anhalt knapp 7%. Nur aus dem entfernteren Sachsen pendelten lediglich 3% der erwerbstätigen Bevölkerung nach Westdeutschland. Deutlich überrepräsentiert ist der Anteil der jungen Männer im Alter von 16 bis 29 Jahren an der Gesamtzahl der Pendler: in der Gruppe der 16 bis 19 Jährigen lag der Pendleranteil bei 10%. Ihr Anteil an der Gesamtzahl der Erwerbstätigen lag dagegen nur bei 4%. In der Gruppe der 20 bis 24 Jährigen lauten die Werte 14% bzw. 8%, in der Gruppe der 24 bis 29 Jährigen lagen die entsprechenden Werte 11% bzw. 12%. Branchenbezogen ist der Pendleranteil besonders hoch in der Metall- und Elektroindustrie und beim Handel. Überdurchschnittlich ist er auch in den übrigen Dienstleistungen wie im Gesundheitswesen, Gaststättengewerbe und den hauswirtschaftlichen Dienstleistungen. Besonders hoch ist auch der Pendleranteil der Jugendlichen, die eine berufliche Ausbildung absolvieren. So pendeln 13% aller Auszubildenden in den Westen. Die Ostdeutschen pendeln nicht aus freien Stücken, auch nicht wegen der höheren Löhne nach Westdeutschland, sondern eindeutig wegen der unbefriedigenden Arbeitsmarktlage im Osten. Von den rund 150.000 Pendlern, die im Jahresverlauf 1994 ihre Arbeit im Westen aufgaben, gaben 120.000 an, daß sie im Osten wieder eine Beschäftigung hatten aufnehmen können. Die Bereitschaft der Frauen, auch in den benachbarten westlichen Bundesländern eine Arbeit aufzunehmen, ist auffällig angestiegen. So nahm die Zahl der weiblichen Pendler zu - von 22% im Jahre 1990 auf 32% im Jahre 1994. Allerdings gehören Frauen nicht zu den Fernpendlern: 40% der pendelnden Frauen haben eine Arbeit in Westberlin gefunden, während nur 25% bereit waren, längere Wege in Kauf zu nehmen. Der Frauenanteil unter den Pendlern nach Westdeutschland betrug nur 25%. [Seite der Druckausgabe: 16]
Auffällig ist ferner, daß arbeitslose Frauen weniger als arbeitslose Männer bereit sind, eine Pendlerexistenz zu führen. 15% der arbeitssuchenden Männer, aber nur 6% der arbeitssuchenden Frauen gaben an, daß sie auch an einer Arbeit im Westen interessiert seien. © Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Januar 2001 |