FES HOME MAIL SEARCH HELP NEW
[DIGITALE BIBLIOTHEK DER FES]
TITELINFO / UEBERSICHT



TEILDOKUMENT:




[Seite der Druckausgabe: 13]

2 . Ein Kompromiß zeichnet sich ab: Die Verständigungslösung

Am 27. Oktober 1992 legte der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts dar, daß unabhängig von der Entscheidung über die verfassungsrechtliche Frage nach der Vereinbarkeit des § 4 Absatz 2 Satz 2 des KVG mit dem Grundgesetz Artikel 28 Absatz 2 eine Reihe von einfachgesetzlichen Rechtsfragen offenstehen, deren Lösung zu langwierigen Prozessen mit Ungewissem Ausgang führen würde. Daher empfahl das Verfassungsgericht den streitenden Parteien die Annahme eines Vergleichs, der vorsieht, den stadtwerkefähigen Gemeinden die örtlichen Anlagen zu übertragen. Im Gegenzug sollten diese Gemeinden auf ihre Kapitalansprüche an den Regionalversorger verzichten.

Der Präsident des Deutschen Städtetages bat nach diesem Vergleichsvorschlag Vertreter der Bundesregierung, der Treuhandanstalt, der westdeutschen Energieversorgungsunternehmen, der an der Beschwerde beteiligten ostdeutschen Städte und Gemeinden sowie den Verband kommunaler Unternehmen und den Deutschen Städte- und Gemeindebund zu Gesprächen, die nach zehn intensiv geführten Verhandlungsrunden am 22. Dezember 1992 zu einer Vereinbarung geführt haben. In dieser Vereinbarung unterstreichen die Beschwerdeführerinnen, die westdeutschen Unternehmen, die Treuhandanstalt nach Abstimmung mit den Bundesministern für Wirtschaft und der Finanzen, der Deutsche Städtetag, der Deutsche Städte- und Gemeindebund und der Verband Kommunaler Unternehmen, daß auch in den neuen Ländern leistungsfähige und wettbewerbsfähige Stadtwerke entstehen sollen. Dabei sei allerdings darauf zu achten, daß gesamtwirtschaftliche Belange wie der Erhalt leistungs- und wettbewerbsfähiger Regionalversorger und der ausreichende Absatz ostdeutscher Braunkohle bis weit über das Jahr 2000 hinaus gesichert werden.

Im wesentlichen umfaßt die Verständigungslösung folgende Regelungen:

  • Wenn Städte die kommunal- und energierechtlichen Voraussetzungen für die Aufnahme der Strom- und Gasversorgung mit Stadtwerken erfüllen, dann werden die im Stadtgebiet befindlichen Anlagen für Strom und Fernwärme auf sie übertragen. Sobald die Gemeinden die Genehmigung nach § 5 Energiewirtschaftsgesetz erhalten, wird die Übertragung vorgenommen; spätestens 6 Monate nach der Erteilung der Genehmigung soll sie erfolgt sein. Zugleich verzichten diese Städte auf eine gesellschaftsrechtliche Beteiligung an den

[Seite der Druckausgabe: 14]

    regionalen Elektrizitätsversorgungsunternehmen nach § 4 Absatz 2 KVG. Auch die Restitutionsansprüche aus früherem Vermögen der Stadtwerke sind mit der Übertragung der Anlagen abgegolten.

  • Die Stadtwerke werden für einen Zeitraum von 20 Jahren Strom nur auf der Basis erneuerbarer Energien, in Müllkraftwerken oder in wärmegeführter Kraft-Wärme-Kopplung erzeugen. Ausnahmen von der Wärmeführung bei der Kraft-Wärme-Kopplung sollen nur für kurze Zeiträume erlaubt sein. Um den Braunkohlenabsatz, und damit die Arbeitsplätze im Bergbau, zu sichern, wird angestrebt, daß die Stadtwerke zusammen 70 Prozent ihres Strombedarfs von den Regionalversorgern beziehen. Einzelne Städten dürfen mehr als 30 Prozent Strom aus eigener Produktion in ihr Netz einspeisen, sofern dieser Strom wärmeerzeugt ist.
  • Die Treuhandanstalt überträgt die Kapitalanteile, auf die die Gemeinden verzichten, an diejenigen Energieversorgungsunternehmen, die nach den Stromverträgen die Mehrheit der Anteile am Regionalversorger erhalten sollen. Außerdem bekommen die übrigen Gemeinden im Gebiet des Regionalversorgers einen Anteil angeboten, der sich am Anteil der Gemeinden am Regionalversorger vor Ausgliederung der Stadtwerke bemißt. Wenn die einzelne Gemeinde ihr Erwerbsrecht nicht nutzt, dann geht das Recht ebenfalls an das westdeutsche Versorgungsunternehmen über.
  • Im Grundsatz bleiben abgeschlossene Konzessions- und Stadtwerkeverträge bestehen, es sei denn, eine Kommune erhält die energierechtliche Genehmigung für die Errichtung und Betreibung eines Stadtwerkes. Diese Ausnahmeregelung gilt nicht für Gemeindeverbände oder andere Zusammenschlüsse von Gemeinden zum Zwecke der Strom- und Wärmeversorgung. Außerdem soll die Regelung nicht bei Eingemeindungen nach dem 30. April 1993 angewandt werden.
  • Eine unmittelbare Bindung an die Vereinbarung gilt nur für diejenigen Städte und Gemeinden, die am verfassungsrechtlichen Verfahren beteiligt waren. Allen anderen Städten wird jedoch eingeräumt, die Rechte aus der Vereinbarung nach den festgelegten Grundsätzen in Anspruch nehmen zu können.

Des weiteren wurde vereinbart, daß die Beteiligten die Zustimmung der für sie zuständigen Willensbildungsorgane und Aufsichtsgremien einholen. Außerdem sollten alle Verfassungsbeschwerden bis zum 31. Januar 1993 zurückgenommen werden. Schließlich wurde Einigung darüber erzielt, daß die Treuhandanstalt spätestens bis zum 31. Juli 1993 die Kapitalanteile am Regionalversorger auf die westdeutschen Energieversorgungsunternehmen überträgt, sofern die vereinbarten Voraussetzungen

[Seite der Druckausgabe: 15]

vorliegen. Die bis zum 30. September 1993 geltende Vereinbarung wird wirksam, wenn alle Beteiligten ihre Zustimmung beim Bundesminister für Wirtschaft angezeigt und alle Beschwerde rührenden Kommunen ihre Verfassungsbeschwerde zurückgenommen haben.

Allerdings wurde der vereinbarte Termin für die Rücknahme der Beschwerden nicht eingehalten. Während der Deutsche Städtetag sowie der Verband Kommunaler Unternehmen (VKU) der Vereinbarung zugestimmt hatten, trug sich Anfang Mai 1993 der Deutsche Städte- und Gemeindebund noch mit Bedenken. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich 156 der 164 beteiligten Städte und Gemeinden mit der Rücknahme ihrer Verfassungsbeschwerde einverstanden erklärt. Ein leitender Beamter aus dem Bundesministerium für Wirtschaft hielt es zwar für wahrscheinlich, daß die übrigen acht Kommunen ihre Beschwerde ebenfalls in wenigen Tagen zurückzögen. Doch es sollten noch mehr als zwei Monate vergehen, ehe Ende Juli 1993 auch die Gemeinde Boizenburg in Mecklenburg-Vorpommern als letzte Beschwerdeführerin dem Vergleich zustimmte.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Oktober 2000

Previous Page TOC Next Page