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TEILDOKUMENT:


[Seite der Druckausg.: 4]


2. Diesseits des Brückenkopfes: Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung

2.1 Dimension des Problems

2.1.1 Bundesebene

Im Frühsommer 1992 war rund ein Siebtel der 35 Millionen unselbständig Erwerbstätigen in Deutschland ohne Arbeit. Die enorme Unterbeschäftigungszahl von fünf Millionen setzt sich zusammen aus 2,9 Millionen registrierten Arbeitslosen, 1,4 Millionen Teilnehmern an Arbeitsbeschaffungs- und Qualifizierungsmaßnahmen, einer halben Million Erwerbstätigen jenseits der 55, die Altersübergangsgeld beziehen, und 700 000 Kurzarbeitern, von denen - die Zahl der ausgefallenen Arbeitsstunden auf theoretische Arbeitslose umgerechnet - per Saldo 400 000 der Unterbeschäftigung zugerechnet werden müssen. Die so erreichte Zahl von 5 Millionen Menschen ohne Arbeit entspricht dem Niveau von 1931, bezogen allerdings auf eine Erwerbstätigenzahl von heute 35 statt damals 27 Millionen. Die Quoten der registrierten Arbeitslosigkeit reichen im Westen von 2,2 Prozent im bayerischen Freising bis zu 11,5 Prozent in Duisburg im Ruhrgebiet, im Osten von 9,4 Prozent in der sächsischen Landeshauptstadt Dresden bis 19,9 Prozent in Neubrandenburg nördlich von Berlin.

2.1.2 Neue Bundesländer

Rechnet man im Ostteil des Landes zu der Arbeitslosenquote von 14,1 Prozent (Mai 1992) die Teilnehmer an Arbeitsbeschaffungs- und Qualifizierungsmaßnahmen hinzu, erreicht man schon eine Quote von 30, mit den Beziehern von Altersübergangsgeld gar eine Quote von fast 40 Prozent. Auf die neuen Bundesländer entfallen allein 1,2 Millionen registrierte Arbeitslose. Die Unterbeschäftigung summiert sich auf 3,5 Millionen. (Siehe Übersicht 1.) Dabei bilden sich bereits deutliche Differenzierungen zwischen den verschiedenen Bundesländern heraus, die man als Nord-Süd-Gefälle bezeichnen kann (vgl. Übersicht 2).

Berücksichtigt werden muß, daß die Arbeitslosenquoten sich bis heute auf Erwerbstätigenzahlen beziehen, wie sie noch zu DDR-Zeiten erhoben wurden. Vor allem die Herausdrängung von Frauen aus dem Arbeitsmarkt hat die Erwerbstätigenzahl gesenkt und erhöht so die tatsächliche Quote der Arbeitslosen wegen der niedrigeren Grundgesamtheit um weitere ein bis zwei Prozentpunkte.

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Übersicht 1:
Der Arbeitsmarkt im Beitrittsgebiet
Januar 1991 bis Mai 1992

[Seite der Druckausg.: 6]

Übersicht 2: Arbeitslosenquote

[Seite der Druckausg.: 7]

2.1.3 Sachsen-Anhalt

Allein im Land Sachsen-Anhalt, in dessen Hauptstadt Magdeburg der Diskurs stattfand und dessen Verhältnissen die größte Aufmerksamkeit galt, sind 220 000 Menschen arbeitslos, davon zwei Drittel Frauen. Hinzu kommen je etwa 90 000 Bezieher von Übergangsgeld, Teilnehmer an Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Kurzarbeiter, 60 000 Teilnehmer an Maßnahmen der Fortbildung und Umschulung sowie 70 000 Pendler, die im Durchschnitt 31 Jahre alt sind und in den bundesweiten Statistiken der Unterbeschäftigung gar nicht auftauchen, weil sie schließlich andernorts als Beschäftigte erscheinen. Diese Pendler, so die Klage, ziehen bei anhaltendem Gefälle zwischen den ehemaligen deutschen Staaten irgendwann um und stehen dann dem Aufbau im Osten nicht mehr zur Verfügung.

Betroffen von der Arbeitslosigkeit sind, sektoral betrachtet, in erster Linie die Landwirtschaft, besonders die der rein landwirtschaftlich strukturierten Altmark, die EIektrobranche, der Handel, der Bergbau und die Chemieindustrie.

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2.2 Ursachen und Charakter der Unterbeschäftigung

Über den Charakter der Arbeitslosigkeit im Osten herrschte weitgehend Einigkeit. Historisch gesehen, so formulierte es ein Teilnehmer, handele es sich um "Transformationsarbeitslosigkeit", typologisch gesehen um "Kapitalmangelarbeitslosigkeit".

Ein großer Teil der Arbeitskräfte in der DDR war gebunden in nicht direkt produktive (oder sogar kontraproduktive) Bereiche wie Verwaltung, Planung oder Politik. 1,2 Millionen produktiv Arbeitenden in den großen Kombinaten standen 700 000 Verwaltende gegenüber, ein Verhältnis zwischen Arbeit und Verwaltung von 63 zu 37.

Die weibliche Erwerbsquote in der DDR war mit über 80 Prozent eine der höchsten der Welt. Die Nennung dieses Faktums in diesem Zusammenhang läßt den Schluß zu, die geforderte "neue Allokation des Faktors Arbeit" erfordere zwingend eine Senkung der Frauenerwerbsquote auf das im Westen Deutschlands übliche, niedrige Niveau. In Wirklichkeit ist diese Anpassung an westdeutsche Verhältnisse keineswegs zwangsläufig und das Ausscheiden ostdeutscher Frauen aus dem Arbeitsmarkt in aller Regel nicht freiwillig, sondern in erster Linie krisen- und politikbedingt. Frauen kam immer schon die Funktion der flexiblen Reservearmee zu, die es mit entsprechenden Maßnahmen und psychologischen Mechanismen in Zeiten der Überbeschäftigung zu

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aktivieren galt und die in Zeiten der Unterbeschäftigung aus dem Erwerbsleben in ihre althergebrachten Rollen gedrängt wurden, um die Brisanz der Beschäftigungskrise (durch eine optische Reduzierung der Arbeitslosenzahlen) weniger spektakulär in Erscheinung treten zu lassen.

Die Konzentration in Kombinaten führte zu regionalen Monokulturen. Wo etwa die auf dem Weltmarkt nicht konkurrenzfähige Textilindustrie absolut dominierte, ist die Situation heute besonders schlimm. Die sektorale Struktur der Beschäftigung unterschied die DDR nicht nur von Westdeutschland, sondern von allen modernen Industriegesellschaften. Besonders eklatant war die Unterentwicklung von Teilen des Dienstleistungssektors. Von Mitte 1990 bis Mitte 1991, gleich nach der Konfrontation der insularen DDR-Ökonomie mit dem West- und Weltmarkt, sank die Produktion auf ein Drittel. Der Wert der Exporte in die Länder des ehemaligen Rats für Gegenseitige Wirtschaftshilfe halbierte sich im gleichen Zeitraum. Die Zahl der Beschäftigten im verarbeitenden Gewerbe lag 1989 bei 2,85 Millionen, Mitte 1991 bei 1,73 Millionen, Mitte 1992 bei etwa einer Million. Gegen die so illustrierte These von der Zwangsläufigkeit der Entwicklung in den neuen Bundesländern kam allerdings der Einwand, notwendig sei die Arbeitslosigkeit im Zuge des Transformationsprozesses nur bei der empirischen Konzeptionslosigkeit der Bundesregierung. Darüber hinaus versuchten Investoren im Osten, auf Kosten von Arbeitsplätzen Strategien zur Optimierung der Produktivität durchzusetzen, wie sie im Westen nicht durchsetzbar seien.

Der Terminus "Kapitalmangelarbeitslosigkeit" sollte deutlich machen, daß eine Fülle von gesellschaftlich notwendigen Arbeiten der Erledigung harre, während andererseits kaum investiert werde. Dabei legten Teilnehmer ausdrücklichen Wert auf die Feststellung, daß in der Volkswirtschaft der Bundesrepublik Deutschland mehr als genug Kapital vorhanden sei. Daß es in Ostdeutschland nicht investiert werde, liege daran, daß in Westdeutschland bei vielen Unternehmen die Kapazität ausreiche. Der Osten diene nur als Absatzmarkt; für Investitionen dort gebe es keinen ökonomischen Grund.

Für 1993 wird weiterhin Arbeitslosigkeit auf hohem Niveau erwartet. Schon die prospektiven Zahlen für 1992 lassen einen Anstieg der Arbeitslosenzahl um vier- bis fünfhunderttausend befürchten. Die Dauer der Arbeitslosigkeit nimmt zu; damit sinken die Chancen der Arbeitslosen, jemals wieder in eine Arbeit vermittelt zu werden. Während die Arbeitslosigkeit zu Beginn der Transformation beinahe jeden treffen konnte, wird für die Zukunft eine Ausdifferenzierung der Chancen erwartet. Für junge Männer werden die Chancen besser, für Frauen und für ältere Arbeitnehmer werden sie ohne

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gegensteuernde Maßnahmen schlecht bleiben. Sie zählen schon heute zu den "Problemgruppen" am Arbeitsmarkt.

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2.3 Zur Rede von den "Kosten der Einheit"

Bei der eingängigen, aber ideologischen Rede von den "Kosten der Einheit" wird ignoriert, daß die Vereinigung im Jahre 1990 zum bisher größten Wachstumsschub der westdeutschen Wirtschaft seit 15 Jahren geführt hat. Auf diesen wichtigen Umstand wies ein ehemaliger Bundesarbeitsminister eindringlich hin. Die 1990er Wachstumsrate von 4,5 Prozent wurde zuletzt 1973 erreicht. Während in den siebziger Jahren insgesamt fünfmal reale Wachstumsraten von mehr als vier Prozent erreicht wurden, kam eine nur annähernd so hohe Wachstumsrate in keinem einzigen der achtziger Jahre vor. Erst der Wachstumsschub durch die Nachfrage aus den neuen Bundesländern ermöglichte die hohe Zahl. 1991 wurde vor dem Hintergrund weltweiter Konjunkturabschwächung noch einmal die - gemessen an den achtziger Jahren sehr gute - Zahl 3,2 Prozent erreicht. Großbritannien mußte im gleichen Jahr gar ein Minuswachstum von 2,1 Prozent hinnehmen. Der Wachstumsschub hat Ende 1990 in den westdeutschen Industriestandorten zu einer Kapazitätsauslastung von 89,7 Prozent geführt. Im Durchschnitt der achtziger Jahre lag die Kapazitätsauslastung bei 82,8 Prozent. Nach dem Monatsbericht der Deutschen Bundesbank vom Mai 1992 sind die bezahlten Lieferungen von West- nach Ostdeutschland auf 168,7 Milliarden Mark zu beziffern und liegen damit um 62 Milliarden höher als der gleichzeitige Milliardentransfer von westdeutschen in ostdeutsche öffentliche Haushalte. Daß das "Opfer" des Milliardentransfers für alle ohne gravierende, für viele Unternehmen ohne jegliche Belastungen möglich wurde, ist erst eine Folge des Nachfrageschubs aus dem Osten. Die Verteilung dieses Zuwachses im Westen ist überdies ungleich und ungerecht: Über Solidaritätszuschlag und Erhöhung der Sozialversicherungsbeiträge schaffen die Arbeitnehmer erst die Kaufkraft im Osten, die den Unternehmen ihre gute Ertragslage sichert. Auf der anderen Seite werden aber die so gewonnen Erträge kaum zur Finanzierung der Einheit herangezogen.

Die Anzahl der versicherungspflichtig beschäftigten Arbeitnehmer in Westdeutschland stieg vom Juni 1990, dem Monat vor der Wirtschafts- und Währungsunion, bis heute von 22,4 Millionen auf 23,5 Millionen. Ohne diese zusätzlichen 1,1 Millionen Steuer- und Beitragszahler wäre das Finanzierungsdefizit bedeutend größer.

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Übersicht 3:

Arbeitsförderungsgesellschaften, Teilnehmer und Durchschnittsgrößen 1)



Land

Zahl der ABS

Zahl der Teilnehmer

Durchschnitts-größe

Anteil der ABM- Teilnehmer in ABS an allen Teilnehmern in %

Mecklenburg-
Vorpommern

49

11.143

227

7,4

Brandenburg

86

11.611

135

11,8

Sachsen-Anhalt

46

24.031

522

22.9

Sachsen

58

49.414

851

12,2

Thüringen

28

27.547

984

6,3

Berlin-Ost

66

6.090

92

27,3

Gesamt

333

129.836

390

13,3

1) Stichtag 31.3.1992
Quelle: Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Nürnberg

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Übersicht 4:

Teilnehmer in ABS nach Maßnahmen 1)



Land

Teilnehmer

FuU

ABM

Kurzarbeit

Sonstige

Mecklenburg-
Vorpommern

11.143

2.611
(23,4%)

4.047
36,3%)

4.150
(37,3%)

335
(3,0%)

Brandenburg

11.611

1.471
(12,7%)

6.902
(59,4%)

2.517
(21,7%)

721
(6,2%)

Sachsen-Anhalt

24.031

1.362
(5,7%)

18.068
(75,2%)

4.147
(17,2%)

454
(1,9%)

Sachsen

49.414

6.875
(13,9%)

13.254
(26,8%)

21.618
(43,7%)

7.667
(15,5%)

Thüringen

27.547

9.485
(34,4%)

4.421
(16,0%)

11.781
(42,8%)

1.860
(6,8%)

Berlin-Ost

6.090

•••

5.290
(86,9%)

800
(13,1%)

•••

Gesamt

129.836

21.804

51.982

45. 013

11.037

1) Stichtag 31.3.1992
Quelle: Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Nürnberg

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So ist es im Grunde willkürlich, wenn tatsächliche oder erst befürchtete Einschränkungen der Wiedervereinigung zugeschrieben werden. Wenn sich Krisensymptome zeigen, könnte dafür genauso die Entwicklung auf dem Weltmarkt verantwortlich gemacht werden, die von den konjunkturanregenden Folgen der Wiedervereinigung für einen gewissen Zeitraum überkompensiert wurden. Das aber entspräche nicht unbedingt der westdeutschen Gefühlslage.


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