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[Seite der Druckausgabe: 53]

3. Folgen der Wiedervereinigung für die Standortqualität Westdeutschlands

Die deutsche Wiedervereinigung bedeutet für die westdeutsche Wirtschaft und die deutsche Wirtschaftspolitik eine Herausforderung, wie sie in diesem Ausmaß seit dem Wiederaufbau nach dem zweiten Weltkrieg nicht zu beobachten war. In Deutschland vollzieht sich in zugespitzter Form ein Prozeß von weltwirtschaftlicher Bedeutung. Die Umwälzungen in Mittel- und Osteuropa, der Übergang dieser Volkswirtschaften zur Marktwirtschaft und ihre Integration in den Weltmarkt eröffnen neue Perspektiven für die Weltwirtschaft:

Die neue Teilnahme von Volkswirtschaften an der internationalen Arbeitsteilung erhöht für sich genommen schon die Wachstumschancen der Weltwirtschaft insgesamt. Deutschland liegt an der Schnittstelle der westlich entwickelten Industrieländer und der östlichen sogenannten "Reformländer". Daher ist dieses Land nicht nur von der speziellen innerdeutschen, sondern auch von den Umwälzungen insgesamt besonders betroffen.

Ihre Implikationen für den Standort Deutschland - sowohl West- als auch Ostdeutschland - lassen sich nur abschätzen, wenn Annahmen über die zukünftige Entwicklung in Deutschland und der Weltwirtschaft getroffen werden. Schließlich handelt es sich bei Investitionsentscheidungen um langfristige Festlegungen, die aufgrund von Erwartungen über die Zukunft erfolgen. Und die Umwälzungen in Deutschland, Mittel- und Osteuropa liegen noch nicht lange genug zurück, um sich in jedem Fall in den statistisch erfaßbaren Standortfaktoren niederzuschlagen. Folgende, aus heutiger Sicht wohl plausible, Annahmen werden getroffen, wobei davon ausgegangen wird, daß internationale Investoren sie teilen:

  • Der Prozeß der Angleichung der Wirtschaftskraft in Ost- und Westdeutschland wird erst deutlich nach der Jahrtau

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  • sendwende abgeschlossen sein. Hohe Transferzahlungen von West- nach Ostdeutschland sind daher auch mittelfristig wahrscheinlich.

  • Bei deutlicher regionaler Differenzierung werden die Reformstaaten Mittel- und Osteuropas ebenfalls erst nach dem Jahr 2000 ihren Anpassungsprozeß abgeschlossen und zu einem Niveau ärmerer bis mittlerer OECD-Länder aufgeschlossen haben. Kriegerische Konflikte bleiben lokal begrenzt. Die Verschuldungssituation bleibt angespannt, aber spitzt sich nicht weiter zu.

  • Eine Desintegration von Weltmarktzusammenhängen im OECD-Raum findet nicht statt.

  • Der Prozeß der europäischen Integration folgt im Prinzip - auch nach dem Ergebnis der Volksabstimmung in Dänemark - den beschlossenen Plänen.


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a) Kapital: Quantität, Qualität und Kosten

Die auffälligste Veränderung beim Faktor Kapital, die durch die Wiedervereinigung induziert wurde, ist der starke Anstieg der Investitionen. Dieser Anstieg ist schon ein Ergebnis der Veränderung von Standortfaktoren. Durch die Wiedervereinigung nahm aufgrund der hohen Transfers nach Ostdeutschland und des damit verbundenen Anstiegs des Staatsdefizits die für westdeutsche Unternehmen relevante Nachfrage kräftig zu, da ostdeutsche Unternehmen diesen Bedarf nicht befriedigen konnten und/oder sich die Nachfrage nicht auf ihre Produkte richtete. Die Kapazitätsauslastung in Westdeutschland stieg an und erreichte im vierten Quartal 1990 mit fast 90 v.H. einen Höhepunkt. [Fn.16: Vgl. Deutsche Bundesbank (1992), S. 19.]

Im Zuge des Anstiegs der Kapazitätsauslastung erhöhten die Unternehmen ihre Investitionen deutlich.

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Die Annahme, daß auch weiterhin bedeutende Transfer Zahlungen von West- nach Ostdeutschland geleistet werden, impliziert auch in Zukunft "Importüberschüsse" der Region Ostdeutschland, die zu einem bedeutenden Teil aus Westdeutschland befriedigt werden dürften. Insofern werden westdeutsche Unternehmen auch weiterhin von der ostdeutschen Nachfrage profitieren. Es ist freilich zu erwarten, daß sich diese zunehmend internationalisiert, d.h. ausländische Konkurrenten zunehmend Marktanteile gewinnen werden. Ein Indiz ist hier die mittlerweile in Ostdeutschland höhere Quote an Importautos bei Neuzulassungen als in Westdeutschland. Der dennoch insgesamt positive Nachfrageeffekt wird vermutlich auch in Zukunft anhalten. Auf eine Verringerung der Kapitalkosten jedenfalls kann der Investitionsanstieg nicht zurückgeführt werden. Im Gegenteil: Zumindest die - nominalen - Zinssätze sind deutlich gestiegen, von 1989 auf 1990 ergab sich ein Sprung von mehr als zwei Prozentpunkten. Für sich genommen, ist dies eine negative Entwicklung des Standortfaktors Kapitalkosten. Freilich sind für Investitionsentscheidungen die erwarteten Realzinsen und nicht die vereinbarten Nominalzinsen von Bedeutung. Die an der tatsächlichen Inflationsentwicklung gemessenen Realzinsen sind auch nur 1990 (gegenüber 1989) angestiegen, um 1991 wieder zurückzugehen; wegen des Anstiegs der in Westdeutschland wirksamen monetären Gesamtnachfrage hatte angesichts zunehmend ausgelasteter Kapazitäten auch die Inflation zugenommen. Mit den so gemessenen Realzinssätzen dürften aber die erwarteten unterschätzt werden.

Die Wirtschaftssubjekte gehen nämlich offensichtlich davon aus, daß die Situation einer hohen monetären Gesamtnachfrage verbunden mit hoher Kapazitätsauslastung nicht von Dauer sein wird, und damit auch nicht daraus resultierende inflationssteigernde Tendenzen: Die langfristigen Zinssätze liegen unter den kurzfristigen, es besteht eine inverse Zinsstruktur. Auf längere Sicht wird also wieder mit geringeren

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Inflationsraten gerechnet. Hier drückt sich wohl in erster Linie das Vertrauen in die Politik der Deutschen Bundesbank aus, von der erwartet wird, daß sie einen übermäßigen Anstieg der monetären Gesamtnachfrage durch eine Begrenzung des Geldmengenwachstums verhindern wird. Es sind dann aber die erwarteten - geringeren - Inflationsraten, die von den Nominalzinssätzen abgezogen werden müßten. Die so ermittelten Realzinssätze würden über denjenigen liegen, wie sie üblicherweise berechnet werden und in Tabelle 6 wiedergegeben wurden.

Erwartet man nun, wie hier, zudem eine weiterhin hohe reale Gesamtnachfrage und gleichzeitig eine mittelfristig eher restriktive Geldpolitik der Bundesbank, so dürfte dies mit auch mittelfristig eher hohen Realzinsen für die DM verbunden sein. Somit dürfte die wahrscheinliche Entwicklung der Realzinsen in bezug auf die Investitionstätigkeit einen negativen Standortfaktor darstellen.

Hinzu kommt ein weiterer Bestandteil der Kapitalkosten, die erwartete Entwicklung der Abgaben. Die Abgabenquote ist seit 1990 wieder angestiegen (vgl. Tabelle 28). Allein schon die hohen aktuellen Staatsdefizite legen für potentielle Investoren die Vermutung nahe, daß diese in Zukunft eher weiter steigen als abnehmen, vor allem, wenn auch in Zukunft mit hohen Transfer Zahlungen nach Ostdeutschland gerechnet wird (vgl. ausführlicher Abschnitt c).

[Seite der Druckausgabe: 57]

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b) Arbeit: Quantität, Qualität und Kosten

Das quantitative Arbeitskräfteangebot in Westdeutschland ist durch Entwicklungen, die mit den Umwälzungen in Ostdeutschland, Mittel- und Osteuropa zusammenhängen, deutlich gestiegen. Diese Erhöhung beruht vor allem auf der starken Zuwanderung. Aussiedler (deutschstämmige Zuwanderer aus Osteuropa) und Übersiedler bzw. Zugezogene (Zuwanderer aus der DDR bzw. dem ehemaligen DDR-Gebiet) machten hier in den letzten Jahren den größten Teil aus.



Tabelle 21: Zuwanderung von Aus- und Übersiedlern nach Westdeutschland - 1987 bis 1991 -



Aussiedler

Übersiedler/
Zugezogene

Jahr



1987

78 458

18 958

1988

202 675

39 832

1989

377 055

343 854

1990

397 0731

ca. 350 0002

1991

221 9951

.2

1 Ab November 1990 Zahlen für die gesamte Bundesrepublik.

2 Zahl der Übersiedler/Zugezogenen wird seit dem 1.7.1990 statistisch nicht mehr erfaßt.

Quelle: BUNDESANSTALT FÜR ARBEIT (a).



Bei den Aussiedlern lag der Anteil der Erwerbspersonen konstant bei etwa 50 v.H. Über die Zahl der zugewanderten Erwerbspersonen aus Ostdeutschland liegen keine Daten vor. Hilfsweise wird hier eine Schätzung der Überschüsse der Fortzüge von Erwerbspersonen aus Ostdeutschland über die Zugänge nach Ostdeutschland und die Prognose dieser Zahl für 1992 wiedergegeben:

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Tabelle 22: Zuwanderung aus Ost- nach Westdeutschland1 - 1989 bis 1992, Erwerbspersonen -


1989

1990

1991

1992

90 000

360 000

150 000

50 000

1 gemessen an der Differenz von Fortzügen und Zuzügen von bzw. nach Ostdeutschland.

Quelle: Sperling (1992).

Aus diesen Zahlen wird bereits der Rückgang bei den Zuwanderungen deutlich, der u.a. durch die Unistellung des Aufnahmeverfahrens zum 1.7.1990 bewirkt wurde. Hierfür war aber wohl auch die mit dem Vollzug der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion verbundene Hoffnung auf eine rasche Verbesserung der Lebensverhältnisse in Ostdeutschland mit verantwortlich.

Eine Erhöhung des Arbeitskräfteangebots wirkt positiv auf die Standortqualität Deutschlands, wenn vorhandene Knappheiten beim Arbeitskräfteangebot vermindert und Stellen besetzt werden, die bisher unbesetzt blieben, also die in Abschnitt 2b diagnostizierten Engpässe gemildert werden. Hierfür muß die Qualität des - gestiegenen - Arbeitsangebotes der Nachfragestruktur entsprechen. Für Aus- und Übersiedler gilt jedoch, daß sie ihre beruflichen Qualifikationen in einem grundlegend anderen Wirtschaftssystem erworben haben. Dies scheint vor allem für Arbeitskräfte aus dem nicht-gewerblichen Bereich (z.B. Verwaltungsberufe) eine wesentliche Einschränkung für die berufliche Verwendbarkeit auf dem westdeutschen Arbeitsmarkt zu bedeuten. Für gewerbliche Arbeitskräfte liegt ein Nachteil darin, daß sie ihre Fähigkeiten in der Regel im Umgang mit einem im Vergleich zu Westdeutschland wesentlich älteren Kapitalstock erworben haben. Insofern gibt die formale Klassifikation der

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beruflichen Qualifikation der Aus- und Übersiedler nur eingeschränkt Auskunft über die Verwendbarkeit ihrer Arbeitskraft in Westdeutschland.

Ein hoher Anteil der Aussiedler hat zunächst nur schlechte Aussichten, einen Arbeitsplatz zu finden. Häufig verstreicht eine lange "Wartezeit" mit Deutsch-Sprachlehrgängen, beruflichen Weiterbildungsmaßnahmen, aber auch Arbeitslosigkeit .



Tabelle 23: Aussiedler in Westdeutschland
- 1987 bis 1991, in l 000 -


Jahr

eingereiste Aussiedler

Eintritte in Deutsch-Sprach-lehrgänge

Eintritte in berufliche Weiterbildungs-maßnahmen

Bestand an arbeitslosen Übersiedlern

1987

78

24

11

37

1988

203

80

13

73

1989

377

155

35

106

1990

3971

175

91

155

1991

2221

117

116

139

Ab November 1990: Zahlen für die gesamte Bundesrepublik.

Quelle: BUNDESANSTALT FÜR ARBEIT (a).


Der Anteil der arbeitslosen Aussiedler an allen Arbeitslosen in Westdeutschland hat sich dabei von 1,7 v.H. 1987 auf 8,4 v.H. 1991 (jeweils Ende September) erhöht. Die Vermittlungschancen für Aussiedler sind auch gering, weil etwa die Hälfte von ihnen keine abgeschlossene Berufsausbildung vorweisen kann. Als ein in Bezug auf die Standortqualität positives Merkmal der Aussiedler kann hervorgehoben werden, daß ihr Durchschnittsalter deutlich unter dem der westdeutschen Bevölkerung liegt. Dadurch könnten Probleme, die sich aus der sich verschlechternden Altersstruktur in Westdeutschland ergeben, gemildert werden.

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Um die Qualifikationsstruktur der zugewanderten Erwerbspersonen aus Ostdeutschland abzuschätzen wird hier der Bildungsstand der Erwerbsbevölkerung der DDR 1988 mit der der Bundesrepublik 1987 verglichen. Es zeigt sich, daß die formale Qualifikationsstruktur nur bei der technischen Ausbildung große Unterschiede aufwies. Geht man davon aus, daß die Erwerbspersonen ohne Bildungsabschluß bei den Übersiedlern/Zugezogenen nicht überrepräsentiert sind. könnte man die formale berufliche Qualifikation der Übersiedler als gut bewerten.



Tabelle 24: Bildungsstand der Erwerbsbevölkerung Bundesre-publik und DDR - 1988/87, in v.H. -



DDR (1988)

Bundesrepublik (1987)

Gesamtzahl der Erwerbspersonen

100

100

Mit Bildungsabschlüssen

78,7

72,5

davon:



Hochschulbildung

7,0

9,9

Technische Ausbildung

15,8

7,0

Lehrlingsausbildung mit berufsqualifi-zierender Abschlußprüfung

55,9

55,6

Quelle: Klodt (1990).


Auf gute Chancen der zugewanderten Arbeitskräfte aus Ostdeutschland auf dem westdeutschen Arbeitsmarkt deuten die Zahlen für arbeitslose Übersiedler hin. Diese waren nicht so hoch, wie man angesichts der starken Zuwanderung hätte vermuten können. Die durchschnittliche Zahl arbeitsloser Übersiedler ist von 45 483 im Jahre 1989 auf 74 983 im Jahre 1990 angestiegen. Ende Mai 1991 wurde dieses Merkmal zum letzten Mal von den Arbeitsämtern erhoben; dort waren zu diesem Zeitpunkt nur noch 41 288 Übersiedler/Zugezogene arbeitslos gemeldet. [Fn.17: Vgl. zu den Zahlenangaben Bundesanstalt für Arbeit (a).] Nur etwa ein Fünftel der arbeitslosen Übersiedler/Zugezogenen besaß keine abgeschlossene Be

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rufsausbildung. Seitdem die Anspruchsrechte der Zuwanderer aus Ostdeutschland auf Sozialversicherungsleistungen zum 1.7.1990 geändert wurden, bestehen auch kaum noch Anreize für Ostdeutsche nach Westdeutschland überzusiedeln, wenn sie hier noch keinen Arbeitsplatz in Aussicht haben.

Inzwischen hat die Pendlerbewegung von Ost nach West die Zuzüge aus Ostdeutschland (1991) in ihrem quantitativen Ausmaß überholt. Obwohl auch Beschäftigte von West- nach Ostdeutschland pendeln (35 000 im Juli 1991 nach Schätzungen des Sachverständigenrates) [Fn.18: Vgl. Sachverständigenrat (1991), S. 107.] , waren aber per saldo 1990 etwa
68 000 und 1991 etwa 357 000 mehr Ostdeutsche in Westdeutschland tätig als umgekehrt. Für 1992 wird ein durchschnittlicher Pendlersaldo von 550 000 bei weiter steigen der Tendenz prognostiziert. [Fn.19: Vgl. Arbeitsgemeinschaft.]

Ein wesentlicher Unterschied zur Zuwanderung besteht darin, daß die Pendlertätigkeit häufig nur auf eine begrenzte Dauer angelegt ist. Die individuelle zeitliche Begrenzung der Pendlertätigkeit kann einen Vorteil für die Standortqualität Westdeutschlands bedeuten. Da die Bereitschaft der ostdeutschen Pendler zeitlich befristete Arbeitsverhältnisse oder Leiharbeitsverhältnisse einzugehen, höher sein dürfte als bei westdeutschen Arbeitnehmern, könnte sich daraus ein Flexibilitätsgewinn für westdeutsche Unternehmen bei der Besetzung ihrer Arbeitsplätze ergeben. Die Arbeitsmarktregulierungen, die die Dispositionsfreiheit der Unternehmen bei Beschäftigungsentscheidungen einschränken, verhindern jedoch, daß die Unternehmen den durch die Pendlertätigkeit grundsätzlich möglichen Flexibilitätsgewinn voll ausschöpfen können. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß diese Beschränkungen auch die Pendlertätigkeit behindern. Die Zahl der Leiharbeitsverhältnisse in Westdeutschland hat im Zuge der verstärkten Arbeitskräftewanderung von Ost- nach Westdeutschland jedenfalls nicht in dem Maße zugenommen, wie man dies hätte erwarten können.

[Seite der Druckausgabe: 62]

Über die soziodemographische Struktur der Pendler liegen aus Umfragen gewonnene Angaben vor.



Tabelle 25: Sozio-demographische Struktur der Pendler von Ost- nach Westdeutschland - 1991, in v.H. -



Erwerbstätige in Ostdeutschland insgesamt

Pendler nach Westdeutschland

Höchster Bildungsabschluß



gering

30

12

mittel

56

72

Abitur

14

16

Beruflicher Bildungsabschluß



noch in Ausbildung

3

2

ohne Abschluß

3

4

Lehre

61

69

höherer Abschluß

24

12

Hochschule/Uni

9

8

Stellung im Beruf



un- und angelernte Arbeiter

11

22

Facharbeiter

31

43

Vorarbeiter/Meister

4

1

einfache Angestellte

14

8

qualifizierte Angestellte

15

11

hochqualifizierte Angestellte

15

7

sonstige

10

10

Quelle: DIW (1992 a) .


Die Qualifikation der Pendler kann also insgesamt als gut bezeichnet werden. Insbesondere der hohe Facharbeiteranteil dürfte wesentlich zu einer Entschärfung des Facharbeitermangels in Westdeutschland beitragen. Der geringe Anteil der Angestellten korrespondiert mit der bereits geäußerten Vermutung, daß es diesem Personenkreis besonders schwer fallen dürfte, ihre Arbeitskraft auf dem westdeutschen Arbeitsmarkt zu verwerten. Ein weiteres positives Merkmal der Pendler ist, daß ihr Durchschnittsalter mit 31 Jahren (ge

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genüber 38 Jahren als Durchschnitt aller Erwerbstätigen in Ostdeutschland) auch gegenüber den westdeutschen Erwerbstätigen wesentlich niedriger liegt.

Aus- und Übersiedler bzw. Pendler haben das quantitative Arbeitsangebot in Westdeutschland erhöht. Auch konnten Engpässe bei einzelnen Qualifikationen und Berufen gemildert werden, und so ein wichtiger Nachteil des Standorts Deutschland wenn wohl auch nicht ausgeglichen, so doch deutlich gemildert werden. Hier ist ein positiver Effekt der Wiedervereinigung auf die Qualität Westdeutschlands als Investitionsstandort festzustellen.

Wie in Abschnitt 2b dargelegt wurde, waren die achtziger Jahre in der Bundesrepublik durch eine zurückhaltende Entwicklung bei den Lohnkosten gekennzeichnet. Seit 1990 sind die Lohne Jedoch auch in nationaler Wahrung gerechnet deutlich starker gestiegen als die Arbeitsproduktivität, und damit auch die Lohnstückkosten.



Tabelle 26: Entwicklung der Lohnstückkosten (LSK) im Verar-beitenden Gewerbe Westdeutschlands und Wechsel-kursentwicklung - 1989 bis 1992, Basis 1989=100-


Jahr

absolute LSK1

relative LSK1

nominaler effektiver Wechselkurs

relative LSK2

1989

100,0

100,0

100,0

100,0

1990

105,0

99,9

105,7

105,5

1991

111,2

100,7

104,5

105,3

19923

114,6

102,2

105,6

108,0

l In nationaler Währung; 2 In gemeinsamer Währung; 3 I. Quartal Lohnstückkosten = Bruttoeinkommen aus unselbständiger Arbeit •/• reale Bruttowertschöpfung).

Zur Erläuterung vgl. Tabelle 10.

Quelle: KOMMISSION DER EUROPAISCHEN GEMEINSCHAFTEN (1992), eigene Berechnungen.

[Seite der Druckausgabe: 64]

Nachdem die Lohnstückkosten in nationaler Währung 1990 und 1991 um 5 v.H. bzw. 5,9 v.H. gestiegen sind, deutet sich auch für 1992 ein Anstieg um etwa 5 v.H. an. Die Erhöhungen der letzten Jahre liegen damit weit über dem Durchschnitt der Jahre 1979-1989 (etwa 3,3 v.H.). Betrachtet man allerdings die Entwicklung der Lohnstückkosten im Verhältnis zu den anderen Industrieländern, so stellt man fest, daß sich die relative Position Westdeutschlands - in nationaler Währung gerechnet - von 1989 bis 1991 nicht wesentlich verändert hat. Für dieses Jahr deutet sich aber an, daß die Lohnstückkosten stärker steigen als in den Konkurrenzländern. Zusammen mit der nominalen Aufwertung der DM ergibt sich von 1989 bis zum l. Quartal 1992 ein Anstieg der relativen Lohnstückkosten in gemeinsamer Währung von 8 v.H. Dieser Anstieg bedeutet für Westdeutschland eine Einbuße bei der preislichen Wettbewerbsfähigkeit und damit einen Standortnachteil.

Der starke Anstieg der Lohnkosten in den letzten Jahren hängt indirekt auch mit der Wiedervereinigung zusammen:

Die - möglicherweise nur vorübergehende - Sonderkonjunktur in Westdeutschland erleichterte die Durchsetzung hoher Lohnforderungen. Ein weiterer vereinigungsbedingter Einfluß auf die Lohnkostenentwicklung geht von den Lohnnebenkosten aus. So sind die Beitragssätze für die Arbeitslosenversicherung aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland gestiegen und eine Anhebung der Sätze für die Rentenversicherung ist aufgrund der Zahlungen für Ostdeutschland für das Jahr 1993 vorgesehen.

Als einen entgegengesetzten Einfluß auf die Lohnkostenentwicklung hätte man erwarten können, daß die durch den Zusammenbruch der DDR ermöglichte hohe Zuwanderung von Arbeitskräften und die später einsetzende Pendlertätigkeit von Ost- nach Westdeutschland und die damit zunehmende Konkurrenz auf dem westdeutschen Arbeitsmarkt ein Ansteigen

[Seite der Druckausgabe: 65]

der Lohnstückkosten verhindert. Dies war bisher nicht der Fall. Es ist aber zu erwarten, daß sich die ökonomischen Faktoren mittelfristig zumindest der Tendenz nach durchsetzen und eine Abflachung des Lohnanstieges bewirken. Auch ein stärkerer Druck in Richtung auf eine Lohnspreizung ist zu erwarten. Zur Zeit deuten Einzelinformationen darauf hin, daß sich der Umfang der Schwarzarbeit vor allem im ehemaligen Zonenrandgebiet erhöht hat.

Zu dem üblichen Zusammenhang zwischen der Entwicklung der Lohnkosten und der Standortqualität kommen in der speziellen Situation, die jetzt in Deutschland vorliegt, noch weitere Aspekte hinzu. Wegen der Koppelung der Löhne in Ostdeutschland an die westdeutsche Lohnentwicklung bedeutet ein kräftiger Lohnanstieg im Westen, daß die Löhne auch in Ostdeutschland ansteigen und so den Aufschwung dort verzögern. Damit bleibt auch der Bedarf an öffentlichen Transferleistungen von West nach Ost hoch, mit entsprechenden Wirkungen auf die öffentlichen Haushalte. Diese Belastungen führen über eine Abgabenerhöhung und/oder Zinssteigerung zu einer Verschlechterung der westdeutschen Standortqualität.

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c) Staat und politische Rahmenbedingungen

Mit am auffälligsten ist der Einfluß der Wiedervereinigung auf den westdeutschen Staatshaushalt. Zwar ist eine Trennung des Bundeshaushaltes in Ost und West nur unter recht willkürlichen Annahmen möglich, sie wird im Rahmen der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung aber weiterhin vorgenommen. Dieses Konzept wird auch im folgenden benutzt, um den Einfluß der Wiedervereinigung in Ost- und Westdeutschland getrennt zu analysieren. Die Unsicherheit bei der Zuordnung einzelner Größen sollte dabei freilich beachtet werden.

[Seite der Druckausgabe: 66]

Der Umfang der westdeutschen Staatstätigkeit hat sich seit 1990 wieder deutlich erhöht. Sowohl bei der Abgaben- als auch bei der Staatsquote hat sich der Trend zu ihrer Verringerung zumindest vorerst umgekehrt. Die Abgabenquote hat im Jahre 1991 mit 42,3 v.H. wieder einen Wert erreicht, der etwa dem des Jahres 1982 entspricht. Ähnlich verhält es sich mit der Staatsquote (49 v.H. im Jahre 1991).



Tabelle 27: Übertragung des Staates an die übrige Welt
- Westdeutschland 1988 bis 1991, in v.H. des
Bruttosozialprodukts -


Jahr

laufende Übertragungen

Vermögensübertragungen

1988

1,49

0,12

1989

1,38

0,13

1990

3,12

0,24

1991

5,85

0,90

Quelle: STATISTISCHES BUNDESAMT (f); eigene Berechnungen.

Bei der Struktur der Ausgaben ist eine deutliche Verschiebung hin zu den Übertragungen festzustellen. Dies überrascht nicht, handelt es sich hierbei schließlich auch um die laufenden und Vermögensübertragungen (Investitionszuschüsse) an die übrige Welt, die diejenigen von West- nach Ostdeutschland einschließen. Zusammengenommen hat sich ihr Anteil am BSP von 1989 bis 1991 etwa vervierfacht. Die Übertragungen insgesamt (an die übrige Welt und inländische Sektoren) haben so, am Bruttosozialprodukt gemessen, ihren Anteil deutlich erhöht und fast 26 v.H. erreicht. Der Anteil des Eigenverbrauchs des Staates und die Bruttoinvestitionen dagegen nahmen leicht ab. Innerhalb der Staatsausgaben gerechnet, hat der Anteil der Investitionen - wegen des Anstiegs der Übertragungen - jedoch deutlich abgenommen, von 5,2 v.H. im Jahre 1989 auf 4,7 v.H. im Jahre 1991. Die

[Seite der Druckausgabe: 67]

"Umverteilungsaufgabe", in erster Linie von West nach Ost, hat deutlich an Gewicht gewonnen. Während die Übertragungen im Jahre 1989 noch 47,8 v.H. der Staatsausgaben betrugen, waren es 1991 52,8 v.H.



Tabelle 28: Einnahmen und Ausgaben des Staates

- Westdeutschland 1988 bis 1991, in v.H. des Bruttosozialprodukts -

Jahr

1988

1989

1990

1991

Einnahmen





Insgesamt

44,9

45,5

44,8

45,7

Steuern

24,3

24,9

23,7

25,1

Sozialbeiträge

17,4

17,1

16,9

17,2

Ausgaben





Insgesamt

47,0

45,3

46,0

49,0

Übertragungen

22,3

21,6

22,8

25,9

Staatsverbrauch

19,6

18,7

18,3

18,0

Bruttoinvestitionen

2,3

2,3

2,3

2,3

Finanzierungssaldo

-2,2

0,2

-1,9

-3,3

Quelle: STATISTISCHES BUNDESAMT (f), eigene Berechnungen.


Die in der VGR vorgenommene Trennung der "Übertragungen in die übrige Welt" läßt weder eine Quantifizierung der Übertragungen nach Ostdeutschland noch eine Unterscheidung in konsumptiv oder investiv wirkende Übertragungen zu. Zudem sind nicht alle Übertragungen, die dem Staat zugerechnet werden können, erfaßt. Insgesamt dürften die staatlichen Transfers von West- nach Ostdeutschland im Jahre 1991 rund 139 Mrd. DM betragen haben und auch dieses Jahr weiter ansteigen. Die Bundesbank schätzt, daß davon etwa 45 Mrd. DM speziell für investive Zwecke geleistet wurden, also rund ein Drittel. [Fn.20: Vgl. Deutsche Bundesbank, Monatsberichte, Nr. 3, 1992.]

In diesen Angaben sind auch die zinsverbilligten Darlehen der Kreditanstalt für Wiederaufbau einge

[Seite der Druckausgabe: 68]

schlossen, die in der VGR nicht beim Staatssektor verbucht werden. Im Finanzierungsdefizit des Staatskontos sind etwa die Kreditaufnahme der Treuhandanstalt und der Kreditausgleichsfond nicht enthalten. Im Jahr 1991 ist die Verschuldung der Treuhandanstalt um reichlich 20 Mrd. DM angestiegen. Letztlich müssen auch hier verbleibende Defizite vom Bund übernommen werden.

Auf der Einnahmeseite zeigt sich im Jahre 1991 gegenüber 1990 ein Wiederanstieg der gesamtwirtschaftlichen Steuerquote. Sowohl der Solidaritätszuschlag als auch die Erhöhung einzelner Verbrauchsteuern schlagen sich hier nieder. Wegen der Änderungen der Steuergesetze und durch den starken Umsatzanstieg hat sich bei den Steuereinnahmen von 1989 bis 1990 das Gewicht der indirekten Steuern deutlich erhöht.

Nach dem Wegfall des Solidaritätszuschlages dürfte diese Tendenz noch deutlicher werden. Im allgemeinen ist ein hoher Anteil indirekter Steuern eher positiv für die Standortqualität einzuschätzen, da diese Steuern von den Unternehmen leichter überwälzt werden können und bei der Ausfuhr erstattungsfähig sind.

Vorwiegend wurden die gestiegenen Ausgaben freilich über einen Anstieg der Staatsverschuldung finanziert. Die Neuverschuldung des Staates erreichte 1991 das absolut höchste Niveau seit dem Bestand der Bundesrepublik, relativ zum BSP betrug sie (in der Abgrenzung der VGR) im Jahre 1991 3,3 v.H., ein Wert, der auch früher schon erreicht oder übertroffen wurde, zum letzten Mal 1982. Eine Alternative zur Kreditaufnahme ist die Finanzierung der gestiegenen Ausgaben durch Steuern (oder eine Ausgabenkürzung). Hätte man das Defizit des Jahres 1991 durch Steuern finanzieren wollen, hätte das Steueraufkommen um immerhin reichlich 13 v.H. höher ausfallen müssen.

[Seite der Druckausgabe: 69]

Bei Niveau und Struktur staatlicher Einnahmen und Ausgaben sind somit Entwicklungen im Rahmen der Vereinigung der beiden deutschen Staaten festzustellen, die sich auf die Attraktivität Westdeutschlands als Standort für Investitionen negativ auswirken:

  • Der Wiederanstieg der Abgabenquote erhöht die aktuelle direkte und indirekte Belastung der Wirtschaft.

  • Der Wiederanstieg der Staatsquote zeigt, daß privaten Aktivitäten relativ weniger Raum gegeben wird.

  • Der hohe Anteil der Kreditfinanzierung läßt potentielle Investoren zukünftige Steuererhöhungen befürchten.

  • Der Rückgang staatlicher Investitionen birgt die Gefahr in sich, daß die wirtschaftsnahe Infrastruktur in Westdeutschland nicht in dem Maße ausgebaut oder erneuert wird, wie es sonst der Fall wäre.

Diese Tendenzen sind besonders bedenklich, da auch in der absehbaren Zukunft mit hohen Belastungen im Rahmen der Wiedervereinigung zu rechnen ist, also weiterhin hohe Übertragungen von West- nach Ostdeutschland erfolgen dürften. Das sehen auch internationale Investoren. Falls jedoch in Zukunft staatliche Ausgaben deutlich in den Bereichen gekürzt werden, die eher dazu dienen, das Wachstum zu hemmen (also insbesondere Subventionen) und es auf diesem Wege gelingt, das Finanzierungssaldo zu verringern und die staatlichen Investitionen zu steigern, werden diese Tendenzen zu keiner nachhaltigen Verschlechterung des Investitionsstandortes Westdeutschland führen. Es ist gerade die Unsicherheit, ob dies gelingt, die sich zur Zeit negativ auswirkt.

Mit der deutschen Wiedervereinigung sind neue Anforderungen an die wirtschaftsnahe Infrastruktur in Westdeutschland entstanden. Mit der Öffnung der innerdeutschen Grenze und dem Umbruch in den östlichen Nachbarländern steigen die

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Verkehrsströme zwischen West und Ost. Neuankommende Bürger aus Ostdeutschland, Aussiedler und Einwanderer suchen Wohnungen, benutzen die Straßen, konsumieren öffentliche Dienstleistungen. Ähnliche Tendenzen sind auch mit dem EG-Binnenmarkt und der Perspektive der EG-Erweiterung verbunden .

Diese Entwicklungen führen zu einem höheren Bedarf an neuen Investitionen in die Infrastruktur, als es in der Vergangenheit der Fall war. Angesichts der hohen staatlichen Defizite wird es aber besonders schwierig sein, zusätzlich zu den nötigen Ausgabenkürzungen noch Umschichtungen vorzunehmen, um diesen neuen Bedarf zu befriedigen.

Konkurrenzländer sind von diesen Entwicklungen weit weniger betroffen. Weder haben sie vergleichbare zusätzliche Lasten zu tragen, wie sie mit der Unterstützung der ostdeutschen Wirtschaft und der ostdeutschen Bürger verbunden sind, noch ergeben sich dort ähnlich gravierende neue Anforderungen an die Infrastruktur. Beides zusammen begründet die Befürchtung, daß der im internationalen Vergleich hohe Rang bei der Infrastruktur in Westdeutschland nicht gehalten werden kann und sich in dieser Hinsicht eine Verschlechterung der relativen Standortqualität ergibt, um so mehr als in Kapitel 2 schon während der achtziger Jahre ein Zurückfallen bei den Infrastrukturinvestitionen diagnostiziert wurde. Angesichts des Nachholbedarfes in Ostdeutschland gerade in Bezug auf die Infrastruktur ist wohl zu erwarten, daß solche Ausgaben in Zukunft prioritär dort getätigt werden. Von einer gesamtdeutschen Perspektive aus gesehen ist dies auch durchaus sinnvoll. Gleichwohl fällt damit Westdeutschland im Standortwettbewerb zurück.

Die politischen und sozialen Rahmenbedingungen, die für die westdeutsche Wirtschaft gelten, sind von der Wiedervereinigung nicht unbeeinflußt geblieben. Die Wiedervereinigung

[Seite der Druckausgabe: 71]

stellt eine große Herausforderung für die deutsche Politik dar. Durch die Wiedervereinigung ergibt sich ein zusätzlicher Bedarf an Flexibilität im politischen und sozialen Leben.

Die deutsche Einheit hat neben den bereits bestehenden Verteilungskonflikten zusätzlich den Verteilungskonflikt zwischen Ost- und Westdeutschland entstehen lassen, der wiederum auf die Verteilungskonflikte innerhalb Westdeutschlands zurückwirkt. Die Verteilungsprobleme in einer Volkswirtschaft lassen sich leichter lösen, wenn ein jährlich wachsendes Volkseinkommen zur Verfügung steht. Wenn aber zumindest ein Teil der in Westdeutschland zusätzlich erwirtschafteten Einkommensteile über eine längere Periode hinweg nach Ostdeutschland transferiert werden muß, um den Lebensstandard dort an das westdeutsche Niveau heranführen zu können, dürfte dies auch den Verteilungskonflikt in Westdeutschland verschärfen.

Um die öffentliche Verschuldung trotz der vereinigungsbedingten Lasten in vertretbarem Rahmen halten zu können, sind Ausgabensenkungen und/oder Einnahmeerhöhungen notwendig. Zur Senkung der Ausgaben ist der Abbau von Subventionen in Westdeutschland noch notwendiger als vor der Vereinigung. Auch das Angebot an öffentlichen Gütern wird auf absehbare Zeit nicht mehr so stark steigen können wie in der Vergangenheit. Diese Änderungen werden auch Verteilungswirkungen innerhalb Westdeutschlands haben.

Erhöhungen von Steuern und Sozialabgaben sind schon durchgeführt worden, andere sind geplant und eine noch weitergehende Erhöhung der Abgabenbelastungen in Westdeutschland läßt sich nicht ausschließen. Auch dies führt zu heftigen Auseinandersetzungen um eine gerechte Verteilung der Lasten, die sich aus der deutschen Einheit ergeben. Die Arbeitnehmer versuchen höhere Abgabenbelastungen durch höhere

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Tariflohnforderungen auf die Arbeitgeber zu überwälzen. Die Arbeitgeber wiederum werden die höheren Lasten mit höheren Preisen an die Konsumenten weitergeben wollen. Die stabili-tätsorientierte Politik der Deutschen Bundesbank wird damit erschwert.

Die Arbeitgeber mahnen, daß die Wiedervereinigung zu niedrigeren Tarifabschlüssen in Westdeutschland führen sollte, damit die Ertragskraft der Unternehmen erhalten bleibt, um die notwendigen Investitionen in Ostdeutschland tätigen zu können. Diese Forderung fällt zeitlich zusammen mit dem Versuch der Gewerkschaften, nach einer Phase der relativen Lohnzurückhaltung jetzt wieder höhere Lohnansprüche durchzusetzen.

Die diesjährigen Tarifauseinandersetzungen zeigen bereits, daß die soziale Stabilität in Westdeutschland geringer geworden ist. Ein wesentlicher Faktor ist hierbei die Auseinandersetzung um die Verteilung der vereinigungsbedingten Lasten. Konzentrieren sich die gesellschaftlichen Gruppen in einem zu starken Maße auf Umverteilungskämpfe, so beeinträchtigt dies die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und die Attraktivität Westdeutschlands für Investitionen. Die Wirtschaftspolitik und die Tarifpartner stehen vor der langfristigen Aufgabe, die wirtschaftlichen Herausforderungen der Wiedervereinigung zu bewältigen, ohne daß die sich daraus ergebenden Verteilungswirkungen als zu einseitig empfunden werden. Gerät der soziale Grundkonsens ins Wanken, würde damit ein wesentlicher Bestandteil der Standortqualität Westdeutschland verloren gehen.

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d) Die Kombination der Produktionsfaktoren: Effizienz und erzielbarer Preis

Die ehemaligen Staatsbetriebe der DDR, die durch die Treuhandanstalt privatisiert wurden, sind zum überwiegenden Teil von westdeutschen Unternehmen übernommen worden. Der Erwerb von Treuhandunternehmen durch ausländische Unternehmen machte bis zum 31.12. 1991 gemessen an den Arbeitsplatzzusagen nur einen Anteil von knapp 10 v.H., gemessen an den Investitionszusagen nur einen Anteil von knapp 13 v.H. aus. [Fn.21: Vgl. Treuhandanstalt (1992).]

Auch viele Neugründungen in Ostdeutschland sind durch westdeutsche Unternehmen getätigt worden. In vielen Fällen dürften diese ostdeutschen Betriebe von der einheitlichen westdeutschen Unternehmungsleitung geführt werden.

Auch viele Vorstandspositionen von Treuhand-Unternehmen sind mit westdeutschen Managern besetzt worden. Die Treuhandanstalt selbst hat ebenfalls einen hohen Bedarf an westdeutschen Managern entwickelt. Da der Bedarf an dispositiven Tätigkeiten durch die Vereinigung zugenommen hat, auf der anderen Seite zusätzliche Arbeitskräfte mit den entsprechenden Qualifikationen und Erfahrungen in Ostdeutschland selten sind, ergibt sich durch die Wiedervereinigung eine Verknappung des dispositiven Faktors. Empirisch ist dies allerdings schwer zu belegen. Immerhin sind die bei den westdeutschen Arbeitsämtern gemeldeten offenen Stellen für besonders qualifizierte kaufmännische und Verwaltungsberufe vom Jahresende 1989 bis zum Jahresende 1990 kräftig angestiegen. [Fn.22: Vgl. Bundesanstalt für Arbeit (b).]

Allerdings erfolgen die meisten Stellenbesetzungen in diesem Bereich ohne Einschaltung der Arbeitsämter.

Würde die Vermutung der Überbeanspruchung des dispositiven Faktors zutreffen, ergäben sich negative Wirkungen auf die Standortqualität Westdeutschlands, weil befürchtet werden

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müßte, daß die Qualität der Managementleistungen und damit die Effizienz der Produktion leidet.

Die hohen Investitionen westdeutscher Unternehmen in Ostdeutschland und zunehmend auch in anderen Reformstaaten dienen vorwiegend der Markterschließung und der Ausweitung der Kapazität. Auch viele Investitionen in Westdeutschland selbst dürften - angesichts des mit der Wiedervereinigung verbundenen Nachfrageanstiegs - eine Ausweitung der Kapazitäten zum Ziel gehabt haben. Zumindest Produktinnovationen sind damit eher selten verbunden.

Hinzu kommt, daß mit der Öffnung der Märkte in den Reformstaaten nicht nur die deutschen Direktinvestitionen dort zunehmen, sondern auch - schon wegen der geographischen Nähe -, gute Chancen für deutsche Exporte in diese Gebiete bestehen. Ein hoher Bedarf besteht in diesen Ländern zur Zeit und in der Zukunft vor allem bei Investitionsgütern. Dort wie in Ostdeutschland muß der vorhandene Kapitalstock weitgehend erneuert werden. Begrenzt wird diese Nachfrage freilich durch den Mangel an Devisen. Da die internationale Gemeinschaft aber nicht umhin kommen wird, hier Unterstützung zu leisten, ist mit einem gewissen Anstieg der Importkapazität der Reformländer auf mittlere Sicht zu rechnen, der freilich eher bescheiden bleiben dürfte. Die deutsche Wirtschaft ist jedenfalls gut gerüstet, davon überproportional zu profitieren: Es sind gerade die Produkte mit hohem, aber wohl nicht höchstem Technologiegehalt, die dabei nachgefragt werden. Zumindest dies kann eine positive Entwicklung für den Standort Westdeutschland sein.

Bisher schlägt sich die (potentielle) Nachfrage der Reformländer noch nicht in den Außenhandelströmen nieder. Zwar hat der westdeutsche Handel mit diesen Staaten 1991 zugenommen (vgl. Tabelle 29). Die Zuwächse waren jedoch

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Tabelle 29: Ein- und Ausfuhr, Westdeutschland,- 1989 bis 1991 -



Einfuhr

Ausfuhr


1989

1990

1991

1989

1990

1991


Anteil

Anteil

Veränd.

Anteil

Veränd.

Anteil

Anteil

Veränd.

Anteil

Veränd.


In v. H.

in v. H.

in v. H.

in v. H.

in v. H.

in v. H.

in v. H.

in v. H.

in v. H.

, in v.H.


nach Warengruppen

Nahrungs- u. Genussm.

9,6

9,4

6,9

9,1

15,2

4.6

4,5

-2.6

4.9

10,1

Rohstoffe, tier. Fette

6,9

5,6

-11.6

4,7

-4,3

2,2

2.1

-6.7

2.1

2.5

Brennstoffe. Schmierm.

7,6

8,3

18,8

7,8

8,4

1.2

1,3

3,8

1.2

-3.0

Chem. Erzeugnisse

9,4

9,0

4.1

8,4

7.8

13,0

12.7

-1,7

12,7

0,6

Bearb. Waren n.B.

18.7

17,8

3,8

16,6

7,0

18,3

17.7

-3.1

17,1

-2,3

Maschinenbau u. Fzg.

30.5

32,3

15,4

35,2

25,3

48,6

49,4

1,8

49,0

0,1

dar. Strassenfzg

7,1

8,4

28,5

10,3

40.4

16,9

16.8

0,0

15,7

-5,8

Maschinen- bauerzg. u.a.

23,3

23,9

11,4

24,9

19.9

31,7

32.5

2,7

33,2

3.1

Andere Fertigwaren

14,5

15,1

13,3

16,1

22,8

10,9

11,2

2,9

11,3

1,8

Sonstiges

2,9

2,4

-9,5

1.8

-11.8

1,2

1,3

8,5

1,8

36,9

Einfuhr insgesamt

100,0

100,0

8,7

100,0

15,2

100,0

100,0

0,3

100,0

0,8


nach Regionen

Westl.Industriel.

82,7

82,5

8,5

82,3

14,8

85,6

85,4

0,0

84,2

-0,6

dar. EG

51,1

52,0

10,8

52,5

16.1

55.0

54,5

-0,7

55,1

1.9

and. Europa

15,7

15,9

10,6

15,1

8,9

18,4

18.8

2,3

18.1

2,6

aussereurop.

15,9

14,5

-0,8

14,7

16,3

12,2

12.2

-0.3

11,0

8,7

Entwicklungs- länder

12,3

12,0

6,3

11,7

12,0

9,6

10,1

5,3

11.0

9,7

Staatshandels- länder

5,0

5,4

17.7

6,0

29,0

4,6

4,3

-6,3

4.6

9,6

dar. Europa

3,8

4,0

13.3

4.2

21,3

3,8

3,6

-4,3

4.0

0,9

Quelle: Wohlers (1992), statistisches bündesamt; eigene Berechnungen.


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nicht so stark, um die teilweisen Einbrüche im Handel des Vorjahres auszugleichen und damit zu wesentlichen Anteilsverschiebungen zu führen. Nach der Vereinigung entspricht die regionale Handelsstruktur der alten Länder mehr oder weniger dem Muster vor der Vereinigung. Dies bestätigt auch das Muster des Handels nach Warengruppen. Große Anteilsverschiebungen bei den mit dem Ausland gehandelten Waren sind 1991 gegenüber 1989 nicht zu verzeichnen.

Die mit den Umwälzungen in Ostdeutschland, Mittel- und Osteuropa verbundene Veränderung der Struktur der Nachfrage nach westdeutschen Produkten, die Ausrichtung der Investitionen auf Kapazitätserweiterung und die Verknappung des dispositiven Faktors bergen die Gefahr in sich, daß das bestehende Defizit bei der Produktion von Gütern mit höchsten Technologiegehalt eher noch zu-, und die Investitionen in den technischen Fortschritt eher abnehmen wird. Langfristig gesehen könnte hier eine Entwicklung eintreten, bei der Westdeutschland für solche Güter ein immer weniger attraktiver Standort wird, weil die notwendige minimale Verflechtung mit Zuliefer- und Abnehmerindustrien bei Industrien der Spitzentechnologie nicht mehr gegeben wäre. Vorerst freilich ist zu erwarten, daß aufgrund des Nachfrageanstiegs die tradionell exportstarken Industrien in Westdeutschland weiter expandieren und in diesen Bereichen auch neue ausländische Investitionen angezogen werden.

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e) Ergebnis:

Insgesamt scheinen sowohl einige der in Kapitel 2 diagnostizierten Stärken, als auch einige Schwächen, an Bedeutung verloren zu haben. So hat sich die während der achtziger Jahre konstatierte positive Entwicklung bei den Kostenkomponenten umgekehrt. Die Belastung mit Abgaben, gemessen an der Steuerquote, ist wieder angestiegen. Der Spielraum für privatwirtschaftliche Aktivitäten, gemessen an der Staats

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quote, hat wieder abgenommen. Die Belastung mit direkten und indirekten Lohnkosten, gemessen an den Lohnstückkosten in eigener Währung, hat sich beschleunigt. Der Abstand des Realzinsniveaus zu anderen wichtigen Konkurrenzländern ist nicht weiter zurückgegangen.

Die weitere Entwicklung dieser Kostenkomponenten kann von der Wirtschaftspolitik und den Tarifpartnern beeinflußt und diese negative Entwicklung bei den Standortfaktoren aufgehalten oder gar wieder umgekehrt werden. Dafür bedarf es einer strikten Politik der Haushaltskonsolidierung, die bei den Ausgaben, insbesondere den Subventionen in Westdeutschland ansetzt. Erste Schritte, die die Wirtschaftsteilnehmer wohl aber noch nicht überzeugt haben, sind hier bereits unternommen worden. Die zur Zeit spürbare Unsicherheit, ob und wie eine Haushaltskonsolidierung gelingt, wirkt sich negativ auf die Standortqualität Westdeutschlands aus. Falls ein überzeugendes Programm der Haushaltskonsolidierung vorliegt und die Bundesbank an ihrer Politik festhält, wird auch das Zinsniveau abnehmen. Und angesichts des kräftig ausgeweiteten Arbeitskräfteangebots ist mittelfristig auch eine Abflachung des Anstiegs der direkten Lohnkosten wahrscheinlich. Eine angemessene Wirtschaftspolitik vorausgesetzt, muß eine negativ zu bewertende Entwicklung der Kosten in Westdeutschland nicht von Dauer sein.

Auch mittelfristig werden freilich die Übertragungen von West- nach Ostdeutschland bedeutend bleiben. Auf die eine oder andere Art werden sie von den westdeutschen Bürgern aufgebracht werden müssen. Die Lohnnebenkosten werden schon deshalb in Zukunft eher weiter zu- als abnehmen. Und neue Ansprüche an staatliche Leistungen werden wenig Chancen auf Befriedigung haben. Hier ist in erster Linie an eine Stärke des Standortes Westdeutschland zu denken, die tendenziell weiter an Bedeutung verlieren dürfte: Der deutlich gestiegene Bedarf an Infrastrukturinvestitionen wird in einem an

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gemessenen Zeitraum wohl nicht vollständig befriedigt. Dies ist eine deutlich negative Entwicklung für diesen Standort, vor allem, wenn man bedenkt, daß die Investitionen in diesem Bereich schon während der achtziger Jahre relativ gesunken ist.

Diesen negativen Entwicklungen sind gewichtige positive Entwicklungen gegenüberzustellen. Die diagnostizierten Schwächen des Standortes Westdeutschland bei den Investitionen und dem Arbeitsangebot sind gemildert worden. Die Investitionsquote ist wieder angestiegen. Und das Arbeitsangebot hat sich kräftig ausgeweitet, trotz aller Einschränkungen auch in den Bereichen, in denen während der achtziger Jahre die Engpässe zugenommen hatten. Und von der Nachfrage aus den Ländern Mittel- und Osteuropas dürften die Wirtschaft Westdeutschlands überproportional profitieren. Diese Punkte, in denen Standortschwächen abgemildert werden, sind weniger offensichtlich als die negativen Entwicklungen bei den Kosten, sie werden für die Unternehmen erst langsam spürbar. Eine Gefahr mag aus der neuen Nachfragestruktur freilich dann resultieren, wenn die Unternehmen ihre Forschungs- und Entwicklungsanstrengungen vernachlässigen und - auch wegen der Abgabe von Managementkapazität nach Ostdeutschland - der dispositive Faktor zunehmend zu einem Engpaß wird. Letzteres kann zu einer deutlichen Standortverschlechterung führen, denn auch Manager sind international nur eingeschränkt mobil. Ein gutes und quantitativ ausreichendes nationales Angebot ist hier wichtig.

Insgesamt besteht eine Chance, daß langfristig die positiven Entwicklungen aufgrund der Wiedervereinigung überwiegen. Dies setzt aber voraus, daß Wirtschaftspolitik und Tarifpartner den hohen Anforderungen, den dieser geschichtlich einmalige Prozeß an sie stellt, genügen. Insbesondere muß akzeptiert werden, daß hohe reale Transfers nach Ostdeutschland notwendig sind. Nur so kann eine Spirale immer

[Seite der Druckausgabe: 79]

heftiger ausgetragener Verteilungskämpfe vermieden werden und damit auch die Gefahr, daß die Stabilität der Rahmenbedingungen als ein wichtiges positives Element des Standortes Westdeutschland verloren geht.

Vielleicht kann diese Herausforderung sogar dazu führen, daß insgesamt Mängel behoben werden, die die Standortqualität schon lange beeinträchtigen, wenn eine Akzeptanz für die Aufgabe alter Gewohnheiten entsteht, eigentlich längst überfällige Maßnahmen bei der Verbesserung der Ausgaben- und Einnahmenstruktur des Staates getroffen und Regulierungen, die den Wettbewerb und die Flexibilität hemmen, abgeschafft werden.

Das Ergebnis einer Veränderung der Standortfaktoren wird häufig an der Entwicklung der Direktinvestitionen gemessen. Nehmen diese zu, wird davon ausgegangen, daß sich die relative Standortqualität eher verbessert hat. Da hier der Standpunkt vertreten wird, daß die kurzfristig spürbaren Veränderungen in Westdeutschland eher negativ waren, wäre eine Verminderung ausländischer Direktinvestitionen zu erwarten. Dies war tatsächlich der Fall. [Fn.23: Vgl. Deutsche Bundesbank, Monatsberichte.]

Allerdings können aus so kurzfristigen Veränderungen bei den ausländischen Direktinvestitionen keine weitreichenden Schlüsse gezogen werden. Als Erklärung reicht schon der konjunkturelle Abschwung in denjenigen Ländern aus, die traditionell die höchsten Direktinvestitionen in Deutschland tätigen. Zudem bestehen auch konzeptionelle Vorbehalte gegenüber der Verwendung der Direktinvestitionen, insbesondere der Salden, als Indikator für die Standortqualität. Eine stark exportorientierte Wirtschaft wie die deutsche muß sich auch mit direkten Investitionen im Ausland engagieren. Daraus mögen auch negative Salden der Direktinvestitionen für Deutschland resultieren.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | August 1999

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