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2. Zwischen betriebswirtschaftlichem Kalkül und volkswirtschaftlicher Vernunft - grundlegende Aufgaben der Sanierung

Nach Maßgabe betriebswirtschaftlicher Kosten-Nutzen-Rechnungen ist die Chemieindustrie der neuen Länder heute nicht überlebensfähig. Aufwand und Kosten stehen zu niedrige Erlöse gegenüber, so daß private Geldgeber sich ohne eine zügige und tiefgreifende Sanierung kaum bereit finden dürften, Kapital in Chemiebetriebe der ehemaligen DDR zu investieren. Hinzu kommt, daß der Anteil der Chemieproduktion der neuen Länder am Umsatz der Gesamtchemie in der heutigen Bundesrepublik nur 6 bis 8 Prozent beträgt, mithin die Chemieindustrie der alten Bundesrepublik weitgehend in der Lage wäre, den ostdeutschen Markt mit Produkten zu bedienen. Kaum verwunderlich also, daß aus den alten Ländern der Bundesrepublik Stimmen laut werden, die für eine Aufgabe der Chemiestandorte in der ehemaligen DDR plädieren und vorschlagen, die attraktiven Produktionsbereiche mit marktgängigen Produkten aus den Unternehmen auszugliedern und zu privatisieren, den Rest zu liquidieren und an den ehemaligen Standorten Industrieparks mit mittelständischen Unternehmen einzurichten.

Doch was manchem unter einer rein betriebswirtschaftlichen Perspektive als wünschenswert erscheint, sieht unter volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten betrachtet anders aus. Die Schließung unrentabler Betriebe würde nicht nur kurzfristig zu einem starken Anstieg der Arbeitslosenzahlen führen, sondern mancherorts, wie im Dreieck Halle-Merseburg-Bitterfeld, die Entwicklungsfähigkeit ganzer Regionen beeinträchtigen, sei es, weil qualifizierte Arbeitskräfte rasch abwandern, sei es, weil die mittelständische Industrie einen wichtigen Partner und Abnehmer in der Region verliert und unter der mangelnden Kaufkraft im Krisengebiet leiden muß. So mögen zwar die unmittelbaren betriebsbezogenen Stillegungskosten unrentabler Betriebe niedriger sein als die Kosten der Weiterführung einer verlustreichen Produktion. Doch wenn man die volkswirtschaftlichen Folgen einer Stillegung ebenfalls berücksichtigt und die Kosten für Zahlungen von Arbeitslosengeld, den Verlust regionaler Kaufkraft sowie die Auswirkungen einer Stillegung auf das wirtschaftliche Wachstum in der Region einkalkuliert, dann kann es sich als günstiger erweisen, ein verlustreiches Unternehmen eine Zeitlang zu unterstützen. Die dafür aufzubringenden Mittel dürften häufig geringer sein als die beschriebenen Opportunitätskosten der Stillegung.

Allerdings gibt es zwischen der zeitweiligen staatlichen Subventionierung eines Unternehmens aus volkswirtschaftlichem Interesse und der raschen Sanierung unter betriebswirtschaftlichen Kalkülen keinen ökonomischen Königsweg. Weil weder die

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volkswirtschaftlichen Kosten einer Stillegung noch die betriebswirtschaftlichen Risiken einer Produktionsfortführung "objektiv" zu ermitteln sind, lassen sich die konkret zu treffenden Entscheidungen über das Schicksal der einzelnen Betriebe mit ökonomischen Argumenten nicht ausreichend begründen. Niemand kann heute eine "objektive" Bewertung der Opportunitätskosten einer Stillegung vornehmen, weil schon die Antwort auf die Frage, welche Auswirkungen einer Stillegung zu beachten sind, sehr unterschiedlich ausfallen kann. Werden nur die Zahlungen von Unterstützungsleistungen für die betroffenen Arbeitnehmer einkalkuliert? Wie läßt sich abschätzen, wann jemand wieder neue Arbeit gefunden hat? Welche Annahmen macht man über die Auswirkungen einer Stillegung auf die Beschäftigungsmöglichkeiten in anderen Branchen? Wie werden die Auswirkungen möglicher sozialpolitischer Unruhen in einer Region kalkuliert, wie der Verlust an Motivation, Engagement und Qualifikation? Und weiter: Wann gilt ein Unternehmen im Prinzip als sanierungsfähig? Wenn es in zwei, drei oder wenn es in fünf Jahren schwarze Zahlen zu schreiben verspricht?

Mit anderen Worten: Die Antwort auf die Frage nach dem vertretbaren Maß staatlicher Subventionen für einen heute nicht rentablen Chemiebetrieb kann nicht "errechnet" werden, sie ist von politischen Zielsetzungen abhängig und mit politisch zu verantwortenden Entscheidungen zu begründen. Nicht zuletzt sind ja auch die persönlichen Auswirkungen für jeden von Arbeitslosigkeit betroffenen Menschen nicht mit dem Kalkül ökonomischer Vernunft ausreichend zu würdigen. Man mag es prinzipiell für sinnvoll oder auch nur für unvermeidbar halten, einer großen Zahl von Menschen mehrere Monate, ja vielleicht sogar ein paar Jahre Arbeitslosigkeit zuzumuten, um wirtschaftliche Strukturveränderungen zu ermöglichen, die mittel- und langfristig eine größere ökonomische Stabilität versprechen als die künstliche Aufrechterhaltung nicht überlebensfähiger Betriebe. Aber die konkrete Gestaltung dieses Übergangs läßt sich nicht allein mit wirtschaftlichen Kosten-Nutzen-Kalkülen meistern, sondern nur unter Berücksichtigung von Maßnahmen, die die betroffenen Menschen nicht nur zu Opfern der Modernisierung machen, sondern eine glaubhafte Perspektive bieten.

Daher müssen die konkreten Sanierungsschritte vier Kriterien genügen: Die Sanierung muß auf sozialverträgliche Weise die Schaffung konkurrenzfähiger Betriebe anstreben, die in der Lage sind, umweltverträglich zu produzieren. In der Chemiebranche werden sich diese Ziele nicht verwirklichen lassen, wenn man die Verbundbeziehungen zwischen den einzelnen Betrieben nicht ausreichend berücksichtigt.

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a) Das Ziel: konkurrenzfähige Unternehmen

Wie wenig die ehemals unter planwirtschaftlicher Protektion arbeitenden Betriebe der ehemaligen DDR heute den Anforderungen der Marktwirtschaft gewachsen sind, zeigen die drastischen Produktionseinbußen in den neuen Ländern. Marktverluste bis zu 70 Prozent für die Chemie AG Bitterfeld-Wolfen, Marktverfall auf dem Grundstoffsektor für die Sächsische Olefinwerke AG Böhlen mit Auslastung des dort betriebenen Crackers von nunmehr nur noch 60 Prozent und einem Preisrückgang des dort hergestellten Ethylens auf 70 Prozent zwischen Anfang und Sommer 1991 sowie eine Einbuße des durchschnittlichen Monatsumsatzes der Buna AG in den ersten fünf Monaten des Jahres 1991 im Vergleich zum zweiten Halbjahr 1990 auf rund 61 Prozent beleuchten schlaglichtartig die existentiellen Gefährdungen für die Chemieindustrie der neuen Länder.

Gewiß, nicht der gesamte Absatzrückgang ist "hausgemacht". Die weltweite Verschlechterung der Chemiekonjunktur und der Zusammenbruch der Nachfrage aus den neuen Ländern, in der Sowjetunion und in anderen osteuropäischen Staaten haben einen gewichtigen Anteil an dem Rückgang der Chemieproduktion. So wirkt sich zum Beispiel der Zusammenbruch der Textilindustrie, die ehedem ihre Waren, staatlich unterstützt, in der Bundesrepublik unter Selbstkostenpreis absetzen konnte, auf die Kunstfaserabnahme und auch auf die Farbenindustrie aus. Die Ostexporte sind schwieriger geworden, weil die potentiellen Abnehmer, anders als früher, die Lieferungen nun in knappen Devisen zahlen müssen und die Betriebe aus der ehemaligen DDR nunmehr keine bevorzugte, weil politisch erwünschte Sonderstellung für Lieferungen mehr einnehmen. Doch unterstreichen diese Marktverluste letztlich, daß die zukünftigen Überlebenschancen der Chemieindustrie nicht nur von technischen Innovationen und der Hebung des Umweltstandards abhängen, sondern auch von der Entwicklung neuer Produktlinien sowie der Herausbildung eines im Wettbewerb erfahrenen Managements.

Ein Kernziel der Sanierung muß die Steigerung der Produktivität sein. Während die Löhne mittlerweile rund 60 Prozent des Niveaus der alten Bundesländer erreicht haben, liegt die Arbeitsproduktivität in den Chemiebetrieben der neuen Ländern zwischen 30 und 40 Prozent der Leistungen im alten Bundesgebiet. Neben der Schaffung ausreichender Anreize setzt die Produktivitätssteigerung vor allem die Modernisierung des veralteten Kapitalstocks voraus.

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So soll über die Hälfte der Gebäude und Ausrüstungen in den Chemiebetrieben der ehemaligen DDR seit mehr als 20 Jahren in Betrieb sein. Als besonders veraltet gilt heute der Kapitalstock von Pharma Halle, der Filmfabrik Wolfen sowie der Buna AG. In vielen Betrieben des Raumes Halle-Merseburg lag das Verhältnis von Investitionen zu Abschreibungen bei 1,5 und weniger. Hinzu kommt, daß Altanlagen selten ausgesondert wurden, sondern Investitionen vor allem der Erweiterung, weniger der Erneuerung dienten. In zahlreichen Betrieben arbeiten daher verschlissene Anlagen neben hochmodernen Einrichtungen.

Die Modernisierung der Produktionsmittel darf sich allerdings nicht darauf beschränken, alte Anlagen gegen neue auszutauschen. Da das Spezialisierungsprofil der Chemieindustrie in den neuen Ländern nicht als zukunftsweisend anzusehen ist, muß die Modernisierung auch mit Umschichtungen von Produktionsbereichen verknüpft werden. So waren zum Beispiel 1989 im Vergleich zur erfolgreichen westdeutschen Chemie die Produktionsanteile der anorganischen Industriechemikalien wie Syntheseammoniak und kalzinierte Soda zu hoch. Das gleiche gilt für organische Industriechemikalien wie Acetylen, Methanol, Ethanol und Essigsäure sowie für Dieselkraftstoff und Schmieröle. Auch einige Spezialerzeugnisse für den privaten Konsum wie Seifen, Haushaltswaschmittel und Fußbodenpflegemittel haben einen zu hohen Anteil an der Produktpalette, ebenso Produkte für die gewerbliche Verwendung wie Synthesekautschuk, Zellulosefasern, Teerfarbstoffe, synthetische Klebstoffe, Leder- und Textilhilfsmittel.

Darüber hinaus erschwert der hohe Anteil an Grundchemikalien die Behauptung der ostdeutschen Chemie unter den Konkurrenzbeziehungen des Weltmarktes, denn der Kapitalbedarf für die ökologische und ökonomische Sanierung ist in diesen Produktionsbereichen besonders hoch, während die Arbeitsplatzeffekte von Investitionen eher gering ausfallen. Nicht zuletzt die Entwicklung der bundesrepublikanischen Chemieproduktion im zweiten Quartal 1991 unterstreicht den Vorteil eines Umstiegs von Grundchemikalien auf höherwertige Produkte. So konnte gegenüber dem Vorjahreszeitraum die Produktion konsumnaher Produkte wie Körperpflegemittel sowie von Pharmaprodukten gesteigert werden. Doch bei anorganischen und organischen Grundstoffen war die Mengenentwicklung im Vergleich zum Vorjahr rückläufig.

Unter Berücksichtigung einer langfristig stabilen Absatzsicherung wäre daher eine Umlenkung, wenigstens eine Diversifizierung der stark auf die Herstellung von Grundchemikalien ausgerichteten Chemieindustrie nötig. Dafür ist zum Beispiel die Erzeugung hochwertiger Produkte der Erdölchemie ebenso anzustreben wie der

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Ausbau der Produktion von Polymeren und Pigmenten, Pharmazeutika und Körperpflegemitteln.

Die Erneuerung des Kapitalstocks sowie die Umorientierung auf zukunftsfähige Produktlinien stellt zwar notwendige, keineswegs aber schon hinreichende Voraussetzungen für die Konkurrenzfähigkeit der Chemieindustrie in den neuen Ländern dar. Hinzu kommen muß ein innovationsfähiges und im Wettbewerb erfahrenes Management. Die meisten Betriebe in der ehemaligen DDR setzten ihre Produkte vor allem im Inland sowie in den osteuropäischen Ländern ab. Diese Märkte waren abgeschottet vom Konkurrenzdruck des Weltmarktes, der Absatz wurde zudem mit staatlichen Subventionen gefördert. Nun, da diese staatlichen Schutzmaßnahmen wegfallen und billige Importe in die neuen Länder dringen, gilt es, sich gegen internationale Konkurrenz zu behaupten, und das nicht nur auf den bisher bearbeiteten Märkten, sondern auch auf noch zu erschließenden Märkten im westlichen Ausland. Da die ostdeutschen Betriebe zumeist nur Produktionsstätten waren, ohne ausreichend entwickelte Vertriebsorganisationen und in der Regel ohne Niederlassungen im Ausland, ist das Management bisher auf den Konkurrenzkampf auf anderen Märkten nicht ausreichend vorbereitet, es fehlt die für das internationale Geschäft notwendige "business culture".

Die mit der ökonomischen und ökologischen Sanierung verbundenen Kosten in Höhe dreistelliger Milliardenbeträge sind allerdings vom Staat - der über die Treuhandanstalt Besitzer der Großchemie ist - alleine nicht aufzubringen. Daher bemüht sich die Treuhandanstalt - als derzeitige Eigentümerin der ostdeutschen Chemiebetriebe - um eine rasche Privatisierung der Unternehmen. Auch das in vielen Bereichen fehlende moderne Fertigungs-Know-how für Produkte, die den Qualitätsansprüchen des Weltmarktes sowohl im Hinblick auf Gebrauchswert und Ästhetik als auch im Hinblick auf umweltpolitische und sicherheitstechnische Standards gerecht werden, läßt sich nicht durch staatliche Lenkung, sondern nur durch die Einbeziehung unternehmerischer Erfahrungen aus den alten Ländern in die neuen Länder transferieren.

Die Privatisierung als Zwischenziel für die Sanierung der Chemieindustrie bedeutet allerdings nicht den Verzicht auf staatliche Anschubhilfen. Auch in den alten Ländern der Bundesrepublik haben staatliche Eingriffe und Stützungen Krisenbranchen am Leben erhalten. Schon in den frühen fünfziger Jahren hatte Ludwig Erhard eine Investitionsabgabe für florierende Industriezweige zugunsten der unter starkem internationalen Wettbewerbsdruck stehenden Branchen Kohle und Stahl durchgesetzt.

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Gerade auch die Einbeziehung ausländischer Investoren als potentielle Käufer könnte es notwendig machen, daß die Treuhandanstalt eine Zeitlang Betriebe unterstützt, deren Privatisierung Ende 1991 noch nicht gesichert ist. Schließlich verstärkt das Interesse ausländischer Investoren auch den Druck auf inländische Kapitalgeber, die sich zu einer Übernahme von Investitionsrisiken bereit finden könnten, um zu verhindern, daß Konkurrenten sich Standortvorteile und eine qualifizierte und motivierte Arbeitnehmerschaft sichern.

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b) Der Rahmen: die Sozialverträglichkeit von Sanierungsmaßnahmen

Versuche, das international wettbewerbsfähige Produktionsvolumen der Chemieindustrie in den neuen Ländern einzuschätzen, kommen zu dem Ergebnis, daß rund 40 bis 60 Prozent des Volumens von 1989 den Anforderungen des Weltmarktes gerecht werden können. Zwar kann ein Teil des aus ökonomischen und ökologischen Gründen stattfindenden Arbeitsplatzverlustes durch Fluktuation, Vorruhestand und Abbau des Altersüberhangs aufgefangen werden, dennoch wird mit der Sanierung die Arbeitslosigkeit zunehmen.

Vor allem Problemgruppen ohne besondere berufliche Qualifikationen leiden unter dem Arbeitsplatzabbau, aber auch Jugendliche, die wegen ihres Alters noch keinen sozialen "Bonus" gegen die drohenden Entlassungen aufweisen können. In den wirtschaftlich von der Großchemie abhängigen Regionen sorgt man sich daher vor sozialen Katastrophen. So sind zum Beispiel in Halle-Neustadt die aus den Chemiebetrieben entlassenen Menschen bisher weder vom Mittelstand noch von anderen Industriezweigen aufzufangen. Im Arbeitsamtbezirk Merseburg gab es im Januar 1991 bei einer Erwerbslosenquote von 6,4 Prozent 74 000 Kurzarbeiter, der größte Teil davon kommt aus der Chemie. Da besonders die Leistungsträger unter den Erwerbstätigen mobil sind, droht die Gefahr einer selektiven Auszehrung des regionalen Qualifikationspotentials und damit einer Behinderung des wirtschaftlichen Um- und Aufbaus in den Krisenregionen.

Staatliche Leistungen wie Arbeitslosengeld und -hilfe, Kurzarbeitergeld, Sozialhilfe und Wohngeld können soziale Harten zwar kurzfristig etwas abfedern, aber um dem Arbeitswunsch und der Leistungsbereitschaft der in den neuen Ländern lebenden Menschen Genüge zu tun, müssen vor allem Beschäftigungsperspektiven eröffnet werden, vorzugsweise durch Förderung von Investitionen und Neugründungen, aber auch durch Einrichtung von Beschäftigungsgesellschaften, die ihre Mitarbeiter auf neue Aufgaben vorbereiten.

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So ist es zwar das vordringliche Ziel der Treuhandanstalt, die Betriebe so zu sanieren und zu privatisieren, daß in einem überschaubaren Zeitraum in möglichst großer Zahl wettbewerbsfähige Arbeitsplätze entstehen. Doch wenn Wettbewerbsfähigkeit sich nicht oder nicht so schnell wie geplant einstellt, muß die Treuhandanstalt zur Sicherung von Arbeitsplätzen in Krisenregionen mit Kommunen, Landesbehörden und der Arbeitsverwaltung zusammenarbeiten, um durch Gründung von Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaften den Arbeitnehmern Hoffnung auf eine berufliche Zukunft zu geben.

Neben der Schaffung von Beschäftigungsperspektiven sollte eine um soziale Verträglichkeit bemühte Sanierungspolitik sich auch um Verständigung mit den Belegschaften der betroffenen Betriebe bemühen. So berichten Betriebsräte aus den Chemiebetrieben heute von großer Unruhe unter ihren Kolleginnen und Kollegen, die sich nicht mehr damit zufriedengeben, daß zwar Lösungen oft in Aussicht gestellt werden, private Investoren aber nach wie vor ausbleiben. Der drohende Verlust von Arbeitsplätzen und die Ungewisse Zukunft dämpft die Leistungsbereitschaft und die Motivation in den Belegschaften, obwohl das Engagement der Menschen notwendig ist, um die Überlebensfähigkeit des Betriebes unter Beweis zu stellen. Wenn dann noch, wie häufig beklagt, Betriebsräte ihren Kollegen mitteilen müssen, daß es ihnen trotz vieler Versuche nicht gelungen ist, bei der Treuhandanstalt einen Termin für die Erörterung der konkreten Situation "vor Ort" zu bekommen, ist es kaum verwunderlich, daß sich Ängste und Sorgen mit Verbitterung mischen und die Arbeitnehmer in den neuen Ländern sich fragen, warum in der alten Bundesrepublik Unternehmen oft viele Jahre staatlich gestützt wurden, während man den Betrieben in den neuen Ländern offenbar nur kurze Zeiträume für die Gesundung einräumen will.

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c) Die Voraussetzung: Entlastung der Umwelt

Die Vernachlässigung von Umweltschutzinvestitionen hat die chemische Industrie der früheren DDR zu einem der größten Umweltverschmutzer Europas werden lassen. Im Raum Bitterfeld-Halle-Merseburg ist die Luft mit Schwefeldioxid, Staub und organischen Schadstoffen überfrachtet gewesen. Das Wasser ist wegen starker Verschmutzungen nur noch zu einem geringen Teil für die Trinkwasseraufbereitung zu nutzen. Schadstoffeinträge aus Deponien sickern in das Grundwasser, so daß vielerorts die Trinkwasserqualität als kritisch für die Gesundheit der Bevölkerung angesehen wird.

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Eine der am stärksten belasteten Regionen Europas ist der Kreis Bitterfeld, wo laut einer Untersuchung des Umweltbundesamtes, Berlin, schwere Gesundheitsschäden bei Kindern aufgetreten sind. Danach würden dort lediglich zehn Prozent der Kinder bis zu drei Jahren einen normalen Gesundheitszustand aufweisen. Die Achtjährigen in Bitterfeld seien im Durchschnitt drei bis fünf Zentimeter kleiner sowie ein Kilogramm leichter als gleichaltrige Kinder in Wismar und Rostock. Bronchitis und Reizhusten sind dort überdurchschnittlich weit verbreitet. Und auch der Anteil werdender Mütter, die während ihrer Schwangerschaft mit Komplikationen rechnen müssen, ist dort größer als zum Beispiel in Wismar. Vor allem die zahlreichen Deponien mit ihren zum Teil hochgiftigen Industrieabfällen gelten als eine Ursache für den schlechten Gesundheitszustand in dieser Region.

Einige gravierende Umweltbelastungen sind nach Stillegungen und Produktionseinschränkungen bereits zurückgegangen. So reduzierte sich in der Buna AG nach Abbau der Carbid- und Acetylenproduktion auf ein Zehntel der Ausstoß von Stäuben, Abgasen, Abfällen, giftigen Abwässern sowie der umweltbelastende Verbrauch an Kohle und Elektroenergie. Die bis 1993 beabsichtigte völlige Stillegung dieser Produktionsbereiche wird zu einer weiteren Umweltentlastung führen. Auch Einschränkungen und Stillegungen im Bereich der Chlor- und Natronlaugenproduktion entlasten die Umwelt, so zum Beispiel von Quecksilberemissionen. In Zukunft bringen der Bau von Entschwefelungs- und Luftzerlegungsanlagen, die Inbetriebnahme einer biologischen Endreinigung für die Abwasser sowie die sachgerechte Entsorgung von Chemikalien wie Quecksilber, Chlor-Kohlenwasserstoff-Verbindungen und Cyaniden eine weitere Verringerung der Umweltbelastungen. Und schließlich wird ein neues Steinkohlekraftwerk oder ein nach modernem technischen Standard gebautes Braunkohlekraftwerk auf dem Buna-Gelände sowie die Umstellung der Energieversorgung des Unternehmens auf Erdgas die Luftbelastungen erheblich vermindern.

Auch in Leuna, Bitterfeld und Wolfen haben Stillegungen und Produktionseinschränkungen die größten Umweltübel abgestellt. In Bitterfeld reduzierten sich nach der Abschaltung von nahezu der Hälfte aller Anlagen, darunter auch der Hütte zur Erzeugung von Primäraluminium, Luft- und Abwasserbelastungen. Außerdem geht die Abwasserbelastung nach Stillegung der Düngemittelproduktion, dem Ausstieg aus der Ammoniakerzeugung sowie durch Aufarbeitung von Ammoniak und Schwefelwasserstoff aus Raffinerieabwässern weiter zurück. Und das Ende der Chemiefaserproduktion in Wolfen verringert die Umweltbelastungen ebenso wie die Stillegung der Düngemittelproduktion und der Ausstieg aus der Ammoniakerzeugung in Leuna.

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Dennoch besteht in den vier Großunternehmen nach Schätzungen eines von der Treuhandanstalt in Auftrag gegebenen Gutachtens allein für die Sanierung der verbleibenden Produktion ein ökologisch und sicherheitstechnisch bedingter Investitionsbedarf von mindestens 1,5 Milliarden DM. Davon entfallt der größte Anteil, 60 Prozent, auf die Leuna AG, rund 20 Prozent auf Bitterfeld und der Rest, zu je gleichen Teilen, auf Buna und Wolfen. Ein großer Teil der Investitionen in Leuna muß aufgebracht werden, um die aus der Raffinerie stammenden Schwefelwasserstoff- und Schwefeldioxidbelastungen der Luft abzubauen und die Emissionen von Stickoxiden und von Ammoniak einzuschränken. In Wolfen wird sich die Umweltsanierung vor allem auf den verbleibenden Produktionsbereich Filme sowie auf die Energieversorgung konzentrieren.

Da mit Fördermitteln zur Zeit nicht einmal ein Fünftel der gesamten 1,5 Milliarden DM abgedeckt sind, ist der größte Teil der Investitionen für die Sanierung der laufenden Produktion von den Unternehmen und von privaten Investoren aufzubringen, wobei rund 70 Prozent der Investitionen in den nächsten zweieinhalb Jahren zu tätigen sind.

Neben der Sanierung der laufenden Produktion ist die Beseitigung der ökologischen Altlasten erforderlich. In Leuna sind Millionen von Quadratmetern durch Mineralöl und Phenole belastet. Ungenügend gesicherte Schadstoffdeponien sowie große Mengen kontaminierter Bauschutt gefährden in Bitterfeld Mensch und Umwelt. Und in Buna sind Zigtausende Tonnen quecksilberverseuchten Bodens sowie belasteter Bauschutt zu entsorgen. Schließlich haben in Wolfen die Abfallprodukte der Viskoseerzeugung sowie organische Lösungsmittel zu schweren Bodenvergiftungen beigetragen. Auch der als Auffangbecken für Chemikalien berüchtigt gewordene "Silbersee" muß dringend entsorgt werden. Als Faustregel gilt heute, daß rund ein Drittel des Geländes der vier Großbetriebe stark und ein weiteres Drittel gering kontaminiert ist. Hinzu kommen Altlasten durch stillgelegte Betriebe und Produktionsbereiche.

Zwar steht auf dem Gelände der großchemischen Betriebe mit einem runden Drittel der Gesamtfläche noch genügend Fläche zur Verfügung, um auf unbelastetem Boden mit Investitionen zu beginnen. Dennoch stellen die Altlasten für den wirtschaftlichen Aufschwung der Region ein großes Hindernis dar. Da bisher noch nicht alle Altlasten erfaßt sind, schlummern in der Region Risiken, deren Ausmaß und deren Beseitigungskosten nur unzureichend abzuschätzen sind. Die mittlerweile an allen vier Standorten gegründeten Sanierungsgesellschaften zur Beseitigung von Altlasten verrichten daher nicht nur umweltpolitisch, sondern auch wirtschaftspolitisch wün-

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schenswerte Arbeiten. Hinzu kommt, daß diese Gesellschaften, finanziert über Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Beschäftigungsmöglichkeiten bieten, möglicherweise mit längerfristigen Perspektiven, wenn es gelingt, die bei der Altlastensanierung gesammelten Erfahrungen zu nutzen, um aus den heute noch von öffentlichen Fördermitteln abhängigen Firmen privatwirtschaftlich geführte Unternehmen der Umwelttechnologie zu formen. In Zusammenarbeit mit den Chemiebetrieben könnte die Umgestaltung des ehemaligen umweltpolitischen Hinterhofs zu einer zukunftsweisenden Region in Angriff genommen werden, die emissionsarm sowie rohstoff- und energiesparend produziert, mit einem großen Anteil an Recyclingprodukten und einer engen Zusammenarbeit der Großchemie mit spezialisierten Klein- und Mittelbetrieben.

Das Beratungsbüro Bitterfeld der Stiftung Arbeit und Umwelt der IG Chemie-Papier-Keramik unterstützt daher Bemühungen um die Einrichtung von betrieblichen Sanierungsgesellschaften. Das Büro berät bei der Entwicklung von Konzepten für den Verbleib demontierter Anlagenteile und für die zukünftige Nutzung des sanierten Geländes. Der vom Bitterfelder Büro organisierte Erfahrungsaustausch der Sanierungsgesellschaften kann helfen, die Erstbewertung und Gefährdungsabschätzungen mit eigenem Personal und Know-how durchzuführen, statt teure Westgutachter damit zu beauftragen. Zudem dient die Beratungsarbeit auch der Einhaltung arbeitsschutzrechtlicher Standards, die nicht durch nachlässigen Umgang ungenügend ausgebildeter ABM-Kräfte mit dem Gefährdungspotential der Altlasten unterlaufen werden dürfen. Daher engagiert sich das Beratungsbüro für die Entwicklung von Ausbildungskonzepten für "Sanierungsfacharbeiter".

Neben dem Bereich der Altlastensanierung arbeitet das Beratungsbüro auch an der Entwicklung von Modellen zur Umorientierung von Betrieben auf Spezialunternehmen für Kunststoffrecycling. Der in vierzig Jahren Mangelwirtschaft herausgebildete Erfahrungsschatz bei der Wiederverwertung von Abfallstoffen bietet eine Chance zur Kooperation auch westlicher Kunststoffhersteller mit auf Recycling spezialisierten Betrieben in den neuen Ländern. Zusammen mit dem Kunststoffverein an der Technischen Hochschule Merseburg und unterstützt von der Landesregierung Sachsen-Anhalts versucht das Beratungsbüro in den vier Landkreisen Bitterfeld, Halle, Merseburg und Saalkreis eine Kooperation von ortsansässigen Fachkräften mit Industriepartnern aus dem Westen zu initiieren. Ziel dieser Kooperationen ist der Aufbau eines Netzwerkes von privaten Entsorgern, kommunalen Fuhrämtern, kunstoffproduzierender und -verarbeitender Industrie, das für einen möglichst sortenreinen Rücklauf von Kunststoffabfällen in die Produktion sorgt.

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d) Die Zusatzbedingung: Erhalt der Verbundwirtschaft

Während die Treuhandanstalt mittlere und kleinere Unternehmen bei einem zufriedenstellenden Angebot ohne gravierende Rückwirkungen auf andere Unternehmen verkaufen kann, ist dies bei den in Verbundwirtschaft arbeitenden Großbetrieben der Chemiebranche nicht der Fall. Die Unternehmen sind mittels Rohstoff- und Produktleitungen untereinander vernetzt, so daß beim Verkauf einzelner Unternehmensbereiche die Versorgung mit Rohstoffen und Produkten bisher belieferter Unternehmen sichergestellt sein muß. So existieren zum Beispiel zwischen Leuna und Buna Produktleitungen für Kohlenwasserstoffe, Sauerstoff und Methan; aus Böhlen wird Ethylen für Buna geliefert. Die Chemie AG Bitterfeld bezieht Methan und Kohlendioxid aus Leuna, Polyvinylchlorid und Polyurethan aus Buna, und die Leuna AG versorgt den Cracker in Böhlen mit Produkten aus der Rohölverarbeitung ebenso Werke in Zeitz, Lützkendorf und Webau.

Wenn beim Verkauf einzelner Produktionsbereiche der Fortbestand gewachsener Verbundbeziehungen nicht gewährleistet wird, dann erschwert das die Privatisierung der an den Verbund angeschlossenen Unternehmen. Die betriebswirtschaftlich als vorteilhaft angesehene Aufgabe einer Produktion könnte die Kapazitätsauslastung und die Kosten eines Vorlieferanten erheblich beeinträchtigen, so daß sich dort möglicherweise eine bisher rentable Produktion nicht mehr lohnt. Eine unkoordinierte Privatisierung des Crackers in Böhlen würde zum Beispiel zu einer Störung der Ethylenversorgung anderer Betriebe führen. Außerdem ist zu befürchten, daß mögliche Produktüberschneidungen, zum Beispiel auf dem Kunststoffsektor, die Privatisierung von Leuna und Buna behindern. Bei der Buna AG hängen zum Beispiel rund 70 Prozent des für 1995 eingeplanten Umsatzes vom Ethylen ab, das zur Zeit ausschließlich von den Sächsischen Olefinwerken in Böhlen bezogen wird.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Oktober 1999

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