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l. Von Plansollvorgaben zur Marktbehauptung. Die ostdeutsche Chemieindustrie im Wandel

Mit ihren rund 300 000 Beschäftigten Ende der achtziger Jahre stellte die chemische Industrie in der ehemaligen DDR einen bedeutenden Industriezweig dar, mit starker Konzentration auf den Raum Halle-Bitterfeld-Merseburg. In dieser Region Sachsen-Anhalts wurden etwa ein Drittel der Chemieerzeugnisse in der früheren DDR produziert. Rund ein Viertel der Industriebeschäftigten - etwa 10 Prozent aller Beschäftigten - auf dem Gebiet des neuen Bundeslandes arbeiteten 1989 in der Chemieindustrie, die damit nach dem Maschinen- und Fahrzeugbau die mit Abstand meisten Arbeitnehmer in Sachsen-Anhalt beschäftigte.

Da die Versorgung der Chemieindustrie mit Energie sowie mit Grundstoffen sich auf Braunkohle stützte, hatte sich in dieser Region über Jahrzehnte ein enger Verbund zwischen dem Braunkohlenbergbau und der -verarbeitung sowie der Chemieindustrie entwickelt.

Von den 155 000 Menschen, die noch 1989 in der Chemieindustrie Sachsen-Anhalts Beschäftigung fanden, waren die meisten, rund 70 Prozent, in den vier Großbetrieben Buna, Leuna, Bitterfeld und Wolfen tätig. So arbeiteten Ende der achtziger Jahre etwa
30 000 Menschen in dem damaligen VEB Chemiekombinat Bitterfeld, vor allem in der Herstellung von anorganischen Grundchemikalien, Soda, Pflanzenschutzmitteln, organischen Farbstoffen, Waschmitteln sowie Fotochemikalien und Aluminium. Auch die VEB Chemische Werke Buna, Schkopau, verfügten Ende der achtziger Jahre über rund 30 000 Mitarbeiter, die neben synthetischem Kautschuk, PVC, Lösungsmitteln und Grundchemikalien Kunststoffprodukte wie Fußbodenbeläge, Profile und Schläuche herstellten. Ebenso viele Beschäftigte hatten die VEB Leuna-Werke mit ihrem Produktionsschwerpunkt bei der Herstellung von Mineralölprodukten, Methanol, Kunststoffen und -harzen, technischen Gasen, Leimen und Katalysatoren. Und das VEB Fotochemische Kombinat Wolfen bot rund 16 000 Menschen Arbeit, unter anderem mit der Produktion von Fotomaterial, Magnetbändern und Fotochemikalien.

Mit der demokratischen Wende in der ehemaligen DDR, der Schaffung einer Wirtschafts- und Währungsunion und schließlich dem Beitritt der neuen Länder zur Bundesrepublik sieht sich die Chemieindustrie plötzlich Produktions- und Absatzbedingungen gegenüber, denen sie nach vierzig Jahren sozialistischer Planwirtschaft zunächst nicht gerecht werden kann. Die Innovationsschwäche der Zentralverwal-

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tungswirtschaft, die Abkopplung von Anpassungsimpulsen eines sich weltweit entwickelnden und rasch verändernden Marktes, bürokratische Fehlentscheidungen und nicht zuletzt die allen offiziellen Verlautbarungen spottende reale Unbekümmertheit gegenüber Umweltverschmutzungen belasten die Ausgangsposition der Chemieindustrie in den neuen Ländern für den Wettbewerb auf einem international hart umkämpften Markt.

Um die im realen Sozialismus chronisch knappen Devisen einzusparen, konnte die Chemieindustrie der ehemaligen DDR nicht in ausreichendem Maße auf Rohstoffimporte zurückgreifen. Vielmehr war sie gezwungen, einheimische Braunkohle als Rohstoffbasis zu nutzen. So lieferte die Braunkohle die Grundlage für rund ein Fünftel der Ammoniakproduktion, für knapp ein Drittel der Phenol- und für rund 13 Prozent der Methanolherstellung in der ehemaligen DDR.

Etwa 12 Prozent der jährlichen Braunkohlenförderung in der DDR wurden auf dem Gebiet der neuen Bundesländer von der Chemieindustrie veredelt, zum Teil in Anlagen, die wegen ihres überholten technischen Standards und der von ihnen ausgehenden Umweltbelastungen schon im Laufe der sechziger Jahre hätten stillgelegt werden sollen. Doch ansteigende Rohölpreise Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre schoben die Umstellung der ineffektiven und umweltbelastenden Carbochemie auf eine petrochemische Rohstoffbasis immer wieder hinaus. Auf diese Weise ließen sich zwar Devisen einsparen, allerdings nur um den Preis eines im internationalen Produktivitätsvergleich zu hohen wirtschaftlichen Aufwands: die Kosten für die carbochemischen Zwischenprodukte lagen zum Teil über den Erlösen für die Endprodukte, die sich damit gegen die Konkurrenz der Petrochemie auf den internationalen Märkten nicht behaupten konnten.

Auch der Mangel an Mitteln für Erneuerungsinvestitionen sowie die in der Planwirtschaft fehlenden Innovationsanreize verschlechtern heute die Marktchancen der ostdeutschen Chemieindustrie. Veraltete Produktionsanlagen, teilweise noch aus der Vorkriegszeit stammend, belasten nicht nur die Umwelt in einer nicht mehr akzeptierten Weise, sondern erfordern, gemessen an internationalen Standards, auch einen zu großen Material- und Energieaufwand in der Produktion. Zudem begünstigte das geringe Investitionsvolumen in der Vergangenheit die Aufrechterhaltung überalterter Standorte, obwohl eine Konzentration auf einige modernisierte Produktionsstätten langfristig effizienter gewesen wäre. Und schließlich verhinderte die zentralistische Absicherung lokaler und regionaler Beschäftigungsmöglichkeiten eine Anpassung der Produktionsstruktur an internationale Standards. Alte Standorte wurden aus poli-

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tischem Kalkül, nicht wegen ihren Wirtschaftlichkeit erhalten, so daß in den Regionen die Umschichtung auf eine langfristig aussichtsreiche moderne Industrie- und Gewerbestruktur blockiert war.

Doch nicht nur die technisch und organisatorisch veraltete Produktionsstruktur, auch das "Marketing" der heutigen Chemieindustrie trägt an der Last der früheren Innovationsschwäche: Unter der zentral gelenkten Planerfüllungswirtschaft konnte sich nur eine geringe Sortimentsbreite entwickeln, bei einem Qualitätsstandard, der mangels Emeuerungsschüben nicht ausreichte, um Produkte wie Lacke, Farben, Kosmetika, fotochemische Erzeugnisse und Waschmittel in gewünschtem Maße auf Westmärkten abzusetzen. Die Produktpalette der Chemieindustrie der neuen Ländern ist daher nicht ausreichend an Markterfordernisse angepaßt. Zudem hat das staatliche Außenhandelsmonopol die Herausbildung eines international erfahrenen und mit guten Kontakten ausgestatteten Managements behindert. Leitende Mitarbeiter verfügen daher nicht über ausreichende Marktkenntnisse und -beziehungen.

Schließlich ruinierte die planwirtschaftlich reglementierte Chemie ihre Umwelt. Aus den Schloten und Rohren der Chemiewerke quellen aggressive Gase wie Chlor und Chlorwasserstoff, sowie Schwermetalle und Giftgase, zum Beispiel chlorierte Kohlenwasserstoffe, Chemikalien, die zum Teil krebserregend wirken können. Allein im Kreis Merseburg sollen, so die Schätzungen, pro Jahr 7 500 Tonnen des Lebergiftes Vinylchlorid und im Raum Bitterfeld mehrere Hundert Tonnen Tetrachlorkohlenstoff an die Umwelt gelangt sein. Auf dem Gelände von Chemiebetrieben lagerten, oft ungenügend gesichert, hochgiftige Stoffe. Deponien wurden mit giftigem Müll vollgestopft, ohne für eine ausreichende Versiegelung zum Schutz von Boden und Grundwasser zu sorgen. Selbst Eingangskontrollen und Inventarisierungen der Einlagerungen, beides für die langfristige Beherrschbarkeit von Giftmülldeponien notwendig, fanden nicht statt, so daß Grundwasserbelastungen und Gasemissionen die Gesundheit der Bevölkerung gefährden. Darüber hinaus sind mehrere Millionen Quadratmeter Betriebsgelände auf den Grundstücken der ehemaligen Chemieindustrie durch umweltschädliche Stoffe verunreinigt, ja verseucht.

Unter den neuen Wettbewerbsbedingungen des Marktes macht sich die innovations-hemmende Wirkung einer Jahrzehnte währenden staatlichen Protektion für die Chemieindustrie drastisch bemerkbar. Weil Abnahme- und Bestandsgarantien des realsozialistischen Staates den Anpassungsdruck und die Konjunktureinflüsse auf die ehemalige Chemieindustrie abpufferten, konnte zwar zunächst sozialpolitische Stabilität erreicht werden - doch nur um den Preis eines wachsenden Produktivitäts-

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rückstands zum internationalen Niveau. Die in jeder dynamischen Volkswirtschaft stattfindende Umwälzung der Produktionsstrukturen führt zwar kurz- und mittelfristig zu unerwünschten sozialen Härten, sichert aber langfristig die Ausrichtung der Volkswirtschaft an international wettbewerbsfähigen Standards, sei es in der Branchenstruktur, beim Know-how, bei den Erzeugnissen und vor allem auch bei der Qualifikationsstruktur der arbeitenden Menschen. Kurz: In dynamischen Volkswirtschaften werden ständig Ressourcen aus krisenanfälligen Produktionszweigen in zukunftsträchtige Zweige umgelenkt. Wie wenig diese Modernisierung der früheren DDR gelungen war, zeigt nicht zuletzt die Personalproduktivität der Chemieindustrie in den neuen Ländern. Die Pro-Kopf-Leistung der Chemiebeschäftigten liegt dort bei nur rund 30 Prozent des Niveaus in den alten Ländern.

Es ist daher auch nicht erstaunlich, daß die Chemieindustrie mit dem Zusammenbruch der staatlichen Bestandsgarantien wider wirtschaftlicher Vernunft erhebliche Absatzeinbußen und Produktionseinschränkungen verzeichnen mußte. So fiel die Warenproduktion zwischen Ende 1989 und Herbst 1990 auf rund die Hälfte. Entsprechende Einbrüche lassen sich auch bei den Beschäftigtenzahlen feststellen. Mit dem Übergang zur Wirtschafts- und Währungsunion sahen sich zum Beispiel die Sächsischen Olefinwerke AG, Böhlen, gezwungen, die unrentable und umweltbelastende Carbochemie stillzulegen. Auch die dort betriebenen Anlagen zur Erdölverarbeitung waren weder technologisch noch von ihren Kapazitäten her betrachtet wettbewerbsfähig. Sie fuhren große Verluste ein und mußten Ende 1990 ihren Betrieb einstellen, mit der Folge, daß zwischen Juli 1990 und Dezember 1991 ein Personalabbau auf 40 Prozent stattfindet.

Die Zahl der in den vier Großbetrieben Sachsen-Anhalts beschäftigten Menschen ging bereits bis Ende 1989 auf knapp 80 000 zurück, um bis zum l. Mai 1991 noch einmal auf rund 58 000 zu fallen. In der Chemie AG Bitterfeld arbeiteten Ende 1989 noch 17 500 Beschäftigte, im Mai 1991 nur noch 12 800. Die Zahl der Arbeitsplätze in der Filmfabrik Wolfen schrumpfte im gleichen Zeitraum von 16 800 auf 10 500, in der Buna AG von
18 200 auf 14 600 und in Leuna von 28 000 auf 20 200. Rund 22 000 der insgesamt in den vier Betrieben Beschäftigten arbeiten kurz, davon drei Viertel mit Nullstunden.

Zwar ließ sich ein Teil des bisherigen Arbeitsplatzschwunds durch Abwanderungen, Vorruhestand und Abbau des Altersüberhangs abfangen, aber weitere Arbeitsplatzverluste sind zu befürchten, denn die Unternehmen der Großchemie in Leuna, Buna, Bitterfeld und Wolfen gelten heute aus rein betriebswirtschaftlicher Sicht nicht als

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wettbewerbsfähig. Allein die bisher geplanten Sanierungsmaßnahmen sollen bis 1993 noch einmal 26 000 bis 27 000 Arbeitsplätze kosten.

Falls die Sanierung jedoch nicht gelingt, hätte der dann drohende Konkurs dieser Unternehmen gravierende wirtschaftliche Folgen für die Region Bitterfeld-Halle-Merseburg. Dort findet zur Zeit rund die Hälfte aller Beschäftigten Arbeit in der Chemieindustrie, in Merseburg sind es sogar mehr als 75 Prozent. Das Ende des Chemiestandorts Sachsen-Anhalt ließe nicht nur die Arbeitslosigkeit stark ansteigen, zudem würden noch mehr Fachkräfte abwandern, die nicht zuletzt zur Sanierung von Altlasten dringend gebraucht werden. Die vier Großbetriebe Sachsen-Anhalts beschäftigten etwa 4-5 Prozent ihrer Arbeitnehmer in den Forschungs- und Entwicklungsabteilungen; rund drei Viertel aller Forschungs- und Entwicklungskapazitäten des Raumes Halle werden von der chemischen Industrie gestellt.

Während die Bitterfelder Forschungs- und Entwicklungsschwerpunkte vor allem in den Bereichen anorganische Chemikalien wie Chlor, Schwefelsäure und Stickstoffsalze sowie auf dem Gebiet der organischen Farbstoffe, der Pflanzenschutz- und Schädlingsbekämpfungsmittel, der haushaltschemischen Reinigungs- und Wäschenachbehandlungsmittel, der Kunstharz-Ionenaustauscher und PVC-Pulver lagen, setzten die Leuna-Werke Forschungsschwerpunkte auf die Optimierung der Produktion von Aminoplasten und Caprolaktam - einem Rohstoff für die Erzeugung von Kunststoffasern und Werkstoffen - sowie auf den Einsatz schwerer Erdölfraktionen zur Herstellung von schwefelarmen Vergaser- und Dieselkraftstoffen, auf die Weiterverarbeitung von Methanol, bei der Katalysatorenentwicklung, die Verfahrensoptimierung für die Herstellung von Hochdruckpolyethylen sowie auf die Sortimentsentwicklung mit den Schwerpunkten Klebstoffe, flüssige Wachs- und Geschirrspülmittel und hochreine technische Gase. Die Forschungs- und Entwicklungsanstrengungen in Buna konzentrierten sich auf die Entwicklung vollautomatisierter Verfahren und Anlagen für die Vinylchloridsynthese und auf die Herstellung von Niederdruckpolyethylen, auf Technologien für die Produktion von Lösungsmitteln, auf die Optimierung der Kautschuk- und Butadienproduktion, auf biotechnologische Verfahren der Schlammbehandlung und Abwasseraufbereitung sowie auf Plastikhilfsstoffe wie Weichmacher sowie Textil- und Papierhilfsmittel und -veredelungsprodukte. Und die Filmfabrik Wolfen legte ihren Forschungsschwerpunkt unter anderem auf das Gebiet der fotographischen Aufzeichnungsmaterialien und des Fotoleiterbaus.

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Auch wenn Umfang und Arbeitsschwerpunkte der Forschungs- und Entwicklungsabteilungen im Wandel begriffen sind, weil zum Beispiel Produktionsumschichtungen auch zu Veränderungen in der Forschung und Entwicklung führen, kommt der Chemieindustrie eine zentrale Bedeutung für das Qualifikations- und Innovationspotential der Region zu. Dies spiegelt nicht zuletzt auch der Teilarbeitsmarkt für Akademiker wider: Im Großraum Halle arbeitet nahezu die Hälfte aller Beschäftigten mit Hochschulabschluß in der chemischen Industrie.

Die Bindung des hochqualifizierten Arbeitskräftepotentials an die Region ist für die Entwicklungsmöglichkeiten des Standorts von großer Bedeutung. Die international starke Stellung der Chemieindustrie in den USA, den Benelux-Ländern, der Schweiz, in Großbritannien sowie in der Bundesrepublik unterstreicht den Stellenwert einer leistungsfähigen Forschungs- und Entwicklungskapazität für den Erfolg der Chemieindustrie, der weniger von der Verfügbarkeit von Rohstoffen als von der Kreativität und Findigkeit ihrer Mitarbeiter abhängt.

Neben dem Verlust an qualifiziertem und leistungswilligem Personal würde eine Aufgabe des Chemiestandorts in Sachsen-Anhalt auch den Verzicht auf Standortvorteile wie die günstige Lage zu den sich öffnenden osteuropäischen Märkten und die hohe Akzeptanz der "Chemie" in der Bevölkerung bedeuten.

Doch die Chemieindustrie der neuen Länder trägt nicht nur an den Lasten ihrer eigenen Vergangenheit. Auch die gegenwärtig wenig günstigen Geschäftsaussichten der Chemiebranche erschweren den Wettlauf mit der Zeit bei der Umstellung von planwirtschaftlicher Ineffizienz auf marktwirtschaftliche Konkurrenzfähigkeit. So sieht der Verband der Chemischen Industrie in dem Anstieg der Steuerlasten und der Sozialabgaben ein Risiko für die weitere Konjunkturentwicklung in der bundesdeutschen Chemiebranche. Zudem seien vom Ausland weniger Nachfrageimpulse, dafür aber eine verschärfte Konkurrenz zu erwarten. Bereits seit Februar 1991 stagnieren die Erzeugerpreise gegenüber dem Vorjahreszeitraum, zum Teil gehen sie sogar zurück. Die nominalen Ausfuhren der chemischen Industrie lagen im ersten Halbjahr 1991 um rund
3 Prozent niedriger als im entsprechenden Vorjahreszeitraum, vor allem aufgrund der verminderten Nachfrage in Europa sowie im Nahen Osten. Mengenrückgänge sind insbesonders beim Export von Kunststoffen in Westeuropa und von Chemiefasern sowie in den Sparten Organika und Anorganika zu verzeichnen.

Die gedämpfte Konjunktur in der Chemiewirtschaft zwingt die Unternehmen in den alten Ländern zu einem harten Wettbewerb, mit dem die Unternehmen der neuen

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Länder vorerst nicht Schritt halten können. Zudem muß die ostdeutsche Chemieindustrie gegenwärtig Absatzeinbrüche unter den traditionellen Abnehmern im In- und Ausland verkraften. Die wirtschaftliche Umstrukturierung in den neuen Ländern läßt die Nachfrage ehemaliger Kunden sinken. Auch in den früheren staatssozialistischen Ländern Mittel- und Osteuropas sind die traditionellen Märkte zum Teil zusammengebrochen. So fehlen zum Beispiel aufgrund der zur Zeit ungeklärten Zuständigkeiten in der Sowjetunion Unterschriften unter bereits ausgehandelten Verträgen, und die Einhaltung unterschriebener Lieferverträge ist ungewiß, weil die bisher für den Abschluß verantwortlichen Institutionen mitunter gar nicht mehr existieren. Das Eilenburger Chemie-Werk GmbH hatte zum Beispiel mit Ministerien und der Plankommission der Sowjetunion Verträge über die Lieferung von 11 000 Tonnen PVC-Granulat abgeschlossen. Inzwischen sind sowohl die Plankommission als auch die Ministerien aufgelöst worden, so daß die Abnahme der vereinbarten Mengen nicht mehr sichergestellt ist. Auch der zwischen der Filmfabrik Wolfen AG und der Sowjetunion im Frühjahr 1991 ausgehandelte Exportauftrag im Umfang von 150 Millionen DM kann sicherlich kaum mehr als in voller Höhe einhaltbar gelten. Und schließlich hat die Bundesregierung Bürgschaften für Liefergeschäfte mit der Sowjetunion im Umfang von rund 11 Milliarden DM zugesagt, doch bisher sind nur Verträge im Gesamtwert von rund 6 - 6,5 Milliarden DM unterschrieben worden.

Belastet mit den ökonomischen, ökologischen und technischen Altlasten der Vergangenheit und vorangetrieben von dem Zwang, sich unter den Konkurrenzbedingungen der Marktwirtschaft zu behaupten, wird die Sanierung der ostdeutschen Chemiewirtschaft zu einer schwierigen Gratwanderung. Auf der einen Seite droht, unter der Last des Erbes, der Absturz in die endgültige Konkurrenzunfähigkeit, wenn sich die notwendige Sanierung zu lange hinzieht und damit immer teurer und schwieriger wird. Auf der anderen Seite brauchen die betroffenen Betriebe Zeit, um ihre Leistungsfähigkeit unter Beweis stellen zu können. Daher ist es erforderlich, Standorte zu sichern, Arbeitsplätze zu erhalten und neue zu schaffen, Entwicklungschancen zu bestimmen und zügig zu nutzen, ehe der Ballast der alten Unproduktivität und die Geschwindigkeit der Marktanpassungen die Hürde für die Überlebensfähigkeit der Unternehmen immer höher schrauben. Zwar besteht die Gefahr, daß staatliche Unterstützungsmaßnahmen unproduktive Strukturen festschreiben und somit zu einer Vergeudung von Ressourcen führen, aber ohne Schutz- und Übergangsmaßnahmen werden die Betriebe keine Chance haben, sich zu wettbewerbsfähigen Unternehmungen zu entwickeln.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Oktober 1999

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