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[Seite der Druckausgabe: 39]

6. Zusammenfassung und Ausblick: Vom Wegwerfartikel zur abfallarmen Produktlinie

Die Bundesrepublik steht vor einem Müllkollaps, sowohl in den alten als auch in den neuen Ländern. Während in den alten Bundesländern die Erfolge der Marktwirtschaft Jahr für Jahr einen gewaltigen Müllberg auftürmen, wirken in den neuen Ländern Verantwortungslosigkeit, Ineffektivität und Mängel aus der real-sozialistischen Vergangenheit nach. Angesichts fehlender oder unter Umweltgesichtspunkten völlig unzureichender Entsorgungseinrichtungen stehen die neuen Länder vor der Aufgabe, eine moderne, umweltverträgliche und müllvermeidende Abfallwirtschaft im Wettlauf gegen die Müllwoge aufzubauen, die mit der ersehnten Wohlstandsgesellschaft einherzugehen droht.

Beide Problemlagen machen deutlich, daß das abfallwirtschaftliche Einbahnstraßenkonzept von der Produktion über den Konsum einer Ware zum Wegwerfen und Beseitigen der nicht mehr brauchbaren Reste in eine Sackgasse führt. Während man auf dem Gebiet der früheren DDR die Ergebnisse dieser Unbekümmertheit augenfällig an den vielen tausend wilden Müllkippen registrieren kann, hat es die effizientere Bundesrepublik eine Zeitlang verstanden, mit einer reibungslos funktionierenden Müllabfuhr den Abfall aus dem Gesichtskreis von Herstellern und Konsumenten zu schaffen, durch Verbrennung, Einlagerung auf Deponien oder schlicht durch Wegschaffen des Mülls ins Ausland oder in die frühere DDR.

Nicht immer wird die Kurzsichtigkeit dieser Einbahnstraße so deutlich, wie mit dem Beitritt der neuen Länder zur Bundesrepublik, der die scheinbar weggeschafften Müllberge plötzlich wieder ins Land versetzte. Von den Lieferanten teuer bezahlt, aber von den damals Verantwortlichen in der DDR allzu billig gelagert, zwingt der einst leichtfertig als entsorgt angesehene Müll nunmehr zu hohen Aufwendungen, um Erfordernissen des Umweltschutzes Genüge zu tun. In den alten Ländern haben rationellere Produktionstechnologien, die Innovationsfähigkeit der Betriebe sowie eine sich zunehmend um ihre Umwelt sorgende Öffentlichkeit dazu geführt, daß sowohl die Müllverbrennung als auch die Mülldeponierung auf einem technisch hohen Standard angelangt sind, mit Rauchgaswäsche, Filtern, Basisabdichtungen und Sickerwasserreinigungen. Aber auch die beste Nachsorge-Technologie stößt einmal an ihre Leistungsgrenzen: Moderne Müllverbrennungsanlagen mögen pro

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verbrannter Tonne Müll weniger Schadgase und Giftpartikel emittieren als alte, doch völlig vermeiden läßt sich die Luftbelastung nicht. Müllkippen sind nicht beliebig auffüllbar, sie haben eines Tages ihre Aufnahmefähigkeit erreicht. Und der Export von Müll ins Ausland ist selbst dann keine dauerhafte Lösung, wenn man die dort verursachten Umweltfolgen ignoriert, denn die hochindustrialisierte Bundesrepublik kann es sich nicht leisten, die Müllabnahme von der Verläßlichkeit und Güte des Auslands abhängig zu machen. Die lineare Betrachtungsweise, die nur von der Produktion zum Konsum und von dort zum Wegwerfen schaut, muß von einem Denken in Kreisläufen und Rückkopplungen abgelöst werden: Müllvermeidung und -verwertung als Maßnahme zur Eindämmung der Müllflut setzt voraus, daß schon bei der Konzipierung und Produktion von Waren daran gedacht wird, wie die vom Verbraucher nicht mehr gewünschten Reste wirtschaftlich und umweltpolitisch vertretbar wieder in die Produktion zurückgeführt werden können.

Damit stellen sich Herausforderungen an die Politik, die Wirtschaft und an den Verbraucher.

Den für die Abfallwirtschaft zuständigen Bundes- und Landesministerien stehen verschiedene Instrumente zur Verfügung, um die Weichen in Richtung einer auf Vermeidung und Verwertung zielenden Entwicklung der Abfallwirtschaft zu stellen und diese Entwicklung zu fördern. Das Abfallgesetz und die daran anknüpfenden Rechtsverordnungen räumen der Bundesregierung die Möglichkeit ein, durch Produktanforderungen auf die Vermeidung und Verwertung von Abfällen Einfluß zu nehmen und mit technischen Anleitungen für eine Abfallbehandlung zu sorgen, die in der Öffentlichkeit als umweltschonend akzeptiert wird. Finanzielle Förderungen beim Bau von Beseitigungsanlagen, bei der Entwicklung abfallvermeidender Produktionstechnologien und Verwertungsmöglichkeiten können Anreize setzen. Die Länder können darüber hinaus die Kooperationen zwischen der kommunalen und privaten Abfallwirtschaft unterstützen, die Abfallberatung organisieren und mit mittel- und langfristigen Abfallwirtschaftskonzepten zielstrebig die Müllvermeidung und -verwertung sowie die Entwicklung umweltfreundlicher Entsorgungstechnologien fördern.

Die Wirtschaft muß mit der Schaffung abfallarmer Produktionstechnologien, mit der Organisation eines Marktes für Recyclingprodukte, mit der Produktion reparaturfreudiger und langlebiger sowie leicht wiederverwertbarer

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Güter und durch Rücknahme der vom Verbraucher übriggelassenen Reste ihrer Produkte zur Verminderung des Abfallaufkommen beitragen. Mit der Entwicklung leistungsfähiger Umwelttechnologien kann sie darüber hinaus zur Verbesserung der auch in Zukunft nötigen nachsorgenden Beseitigungstechnologien der Müllverbrennung, -behandlung und Deponierung sorgen. Die in der Produktion schon vielfach anzutreffende Verwertung von Anfallprodukten, die Bereitstellung neuartiger Verbrennungsverfahren wie der Pyrolyse und der Rotierenden Wirbelschichttechnologie sind ebenso Schritte in die richtige Richtung wie der Aufbau des Dualen Systems und die Koordination zwischen Chemie- und Automobilindustrie zur Entwicklung wirtschaftlich wiederverwertbarer Kunststoffe für Kraftfahrzeuge.

Nicht zuletzt ist der einzelne Bürger gefordert. Die durch Gewöhnung erworbene Vorliebe für bequeme und preiswerte Müllabfuhr wird sich in Zukunft nur dann befriedigen lassen, wenn die Verbraucher mit umweltbewußten Kaufentscheidungen und mit tatkräftiger Unterstützung von Sammelsystemen für die Wertstofferfassung dazu beitragen, ihre Mülltonne weniger rasch zu füllen. Aber auch die verbreitete Orientierung am Sankt-Florians-Prinzip, die zwar Müllbeseitigung erwartet, aber die dafür notwendigen Anlagen nicht "vor der eigenen Haustüre" wünscht, wird sich ändern müssen. Selbst dann, wenn die Vermeidungs- und Verwertungsstrategien Erfolg haben, besteht Bedarf an neuen Kapazitäten für die Müllverbrennung und Deponierung, sei es, um Restmengen zu beseitigen, sei es, weil die erwünschten Maßnahmen zur Reinhaltung von Luft- und Wasser das Aufkommen an Sondermüll erhöhen.

Die Innovation in der Abfallwirtschaft erfordert Anstrengungen und ist mit Kosten verbunden, deren Akzeptanz mit der Einsicht wachsen muß, daß es heute darum geht, die Altlasten von morgen zu vermeiden. Die wilden Kippen in den neuen Ländern, Problemdeponien wie Vorketzin, Altlasten überall in der Bundesrepublik sowie übervolle Deponien in den alten Ländern führen augenscheinlich vor, daß die Kosten, die man in der Abfallwirtschaft zu Lasten der Umwelt einspart, später mit einem Vielfachen in Rechnung gestellt werden. Langfristig ist ein Wirtschaftsstandort nicht mehr zu halten, wenn er nicht gegen die Müllflut vorgesorgt hat, möglichst durch eine vorausschauende Produktionsplanung, die nicht nur den Verkauf, sondern auch den Verbleib ihrer Produkte im Auge hat - und auch die Herkunft der

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Rohstoffe, denn das Denken in Produktlinien darf nicht an Landesgrenzen Halt machen:

Während die Müllexporte in das Ausland heute von der Öffentlichkeit skeptisch beobachtet werden, finden die mit den Rohstoffimporten in den Erzeugerländern ausgelösten Müllprobleme noch viel zu wenig Beachtung. Wie gewaltig diese Abfallberge sind, erahnt, wer bedenkt, daß die Produktion eines Kilogramms Platin, mit dem heute die Katalysatoren der "umweltfreundlichen" Kraftfahrzeuge hierzulande beschichtet werden, in den Herkunftsländern 400 Tonnen Abfall hinterläßt. Auch das aus Chile importierte Kupfer und das Chrom aus Südafrika türmen in den Lieferländern Abraum und Schlacke auf.

Wenn man in der Bundesrepublik umweltfreundliche Produktlinien kreiert und dabei für umweltverträglich hält, was für uns umweltverträglich ist, wird im Grunde der gleiche Fehler gemacht wie früher: Man produziert weiter auf Kosten der Umwelt und verbannt die wahrnehmbaren Folgen möglichst lange aus dem Gesichtskreis, was kaum mehr im eigenen Land, aber mit Hilfe andere Länder möglich ist - eine Zeitlang. Doch auf längere Sicht nützt es der Bundesrepublik wenig, sich zu einer prosperierenden Umweltnation auf Kosten anderer Länder, vorzugsweise der dritten Welt, zu entwickeln. Schon jetzt, wo es "nur" darum geht. Umweltschäden zu korrigieren, die man sich früher in der Bundesrepublik und in der DDR geleistet hat, müssen gewaltige Anstrengungen erbracht werden. Niemand kann vorhersehen, wie lange die Abschiebung der hier nicht gelösten Probleme in andere Länder gutgehen wird, aber eines ist gewiß: Je länger sich der reiche Norden im ökologisch anspruchsvoller werdenden Ambiente sein "business as usual" auf Kosten des Südens leistet, um so heftiger wird er mit den ausgelagerten Folgekosten seines Wohlstands einmal konfrontiert, morgen, in ein paar Jahren oder in den nächsten Generationen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Juli 1999

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