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Politikinformation Grossbritainnien 1999 / Heinz Albert Huthmacher. - [Electronic ed.]. - London, 2000. - 21 S. = 78 Kb, Text . - (Politikinformation Grossbritannien ; 1)
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2000

© Friedrich-Ebert-Stiftung


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Das Wichtigste auf einen Blick

  • Die politische Zustimmung in Großbritannien für die amtierende Regierung Blair dauert an. Im Jahresverlauf lag die regierende Labour Party in der Wählergunst um durchschnittlich 20-25% vor der konservativen Opposition.

  • Nach hoffnungsvollem Start ist in den deutsch-britischen Beziehungen in der 2. Jahreshälfte eine gewisse Ernüchterung eingekehrt. Die politischen und innerparteilichen Reaktionen in Deutschland auf das Schröder/Blair-Papier vom Juni wurden in Großbritannien als Zeichen zunehmender Distanz der Regierung Schröder gegenüber Tony Blair interpretiert.

  • Mit der Bildung schottischer und walisischer Regionalparlamente und -regierungen am 1. Juli, der ersten Koalitionsregierung zwischen Labour und Liberaldemokraten in Edinburgh sowie der im November abgeschlossenen ersten Phase der Reform des House of Lords befindet sich Großbritannien verfassungspolitisch auf dem Weg in die europäische Moderne.

  • Der Abschluß der Friedensverhandlungen in Nord-Irland im November mit der Bildung einer Regionalregierung in Belfast unter Einschluß der verfeindeten Unionisten und Republikaner ist für Tony Blair persönlich und politisch ein großer Erfolg.

  • Bei anderen innenpolitischen Reformvorhaben, z.B. in der Gesundheits-, Bildungs- und Sozialpolitik, blieb der angekündigte Durchbruch jedoch aus.

  • Im Berichtjahr verblieb die britische Wirtschaft auf einem insgesamt stabilen Wachstumskurs bei einem gleichzeitig weiteren Rückgang der registrierten Arbeitslosen und neuem Rekord in der Beschäftigtenzahl. Die Bank of England hat in der 2. Jahreshälfte aus konjunturellen Gründen eine Kurskorrektur an der Zinsfront vorgenommen und die Leitzinsen wieder erhöht.

  • Der laufende Haushalt bringt u.a. eine moderate Umverteilung zugunsten einkommensschwacher Familien und Rentner.

  • In der Frage des EURO-Beitritts Großbritanniens hält die Regierung Blair an ihrer abwartenden Position des prepare-and-decide offiziell fest. Nach der herben Wahlniederlage Labours bei der Europa-Wahl im Juni sowie angesichts zunehmender EURO-Skepsis in der britischen Bevölkerung erscheint eine Verschiebung des EURO-Referendums auf einen später als angekündigten Termin nach der nächsten Parlamentswahl aber wahrscheinlich.


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Einleitung

Zweieinhalb Jahre nach dem historischen Wahlsieg vom Mai 1997 steht der britische Premierminister Tony Blair weiterhin unangefochten an der Spitze einer Labour-Regierung, die nach Meinung der Mehrheit der britischen Bevölkerung ihre Sache bislang gut gemacht hat. Alle Meinungsumfragen des Jahres 1999 bestätigen einen stabilen Trend: Die regierende Labour Party lag von Januar bis Dezember 1999 relativ konstant bei rund 50% der Stimmen (+- 5 %) und behauptete damit ihren großen Vorsprung in der Wählergunst gegenüber der konservativen Opposition um bis zu 25% .

Auch die Popularität Tony Blairs als Parteiführer und Regierungschef blieb 1999 ungebrochen. Nur ¼ der britischen Wähler/-innen haben ihm gegenüber eine dezidiert kritische Meinung, dagegen sind etwa 60% mit ihm und seiner Regierungspolitik am Ende des Jahres zufrieden. In den eigenen Reihen und unter Labour-Anhängern genießt Tony Blair eine noch weitaus höhere Zustimmung: Bis zu 85% halten ihn für einen 'guten' Regierungschef.

Die aktuelle Stimmungsaufnahme am Ende des Berichtjahres zeigt, daß die breite Wahlallianz Labours aus Arbeiter- und Mittelschichten von 1997 weitgehend erhalten geblieben ist und daß für Tony Blair die Aussichten auf eine Wiederwahl – voraussichtlich im Frühjahr 2001 – derzeit kaum besser sein könnten. Im Rückblick auf den zum Teil dramatischen Ansehensverlust nahezu aller Vorgängerregierungen (einschließlich Margret Thatchers) nach den ersten zwei Jahren ihrer Amtszeit ist die andauernde politische Zustimmung im Lande für die amtierende Regierung aus britischer Sicht ein bemerkenswertes Ergebnis zur Halbzeit der 1. New Labour-Regierung unter Tony Blair.

Manche Beobachter sehen die Stärke der Regierung vor allem in der anhaltenden Schwäche der konservativen Opposition. Mit Ausnahme der im Juni durchgeführten Wahlen zum Europa-Parlament ist es der Tory-Partei unter William Hague auch 1999 nicht gelungen, auf mehr als 30% Zustimmung in den Meinungsumfragen zu klettern. Politisch geschwächt durch eine Serie politischer Affairen (der ehemaligen Tory-Minister Hamilton und Aitken) und Rücktritte (des konservativen Kandidatens für die Wahl des Londoner mayors, Lord Archer, sowie des Mitglieds des Schattenkabinetts, Shaun Woodward, der im Herbst zur Labour Party übertrat) sowie durch fortdauernde parteiinterne Auseinandersetzungen zwischen moderaten und rechtskonservativen Anhängern ist die eher farblose Führung der konservativen Partei in den Augen der meisten Briten weder politisch noch personell zur Zeit eine wählbare Alternative. Über die Hälfte (ca. 54%) der britischen Bevölkerung und knapp 50% der Tory-Mitglieder sind mit der konservativen Opposition unzufrieden. Die Kritik richtet sich insbesondere an den jungen, aber profilosen, Parteiführer William Hague, der in den britischen Medien als 'Gefangener der alten Thatcher-Garden' porträtiert und als 'little boy in big man´s shoes' karikiert wird. Politik und Führungsstil William Hagues fanden selbst in seiner eigenen Partei 1999 nie mehr als 40% Zustimmung. Dies ist das schlechteste Ergebnis eines britischen Oppositionsführers seit 1945. Unter diesen

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Vorzeichen könnte sich der ehemalige und rechtskonservative Verteidigungsminister aus der Major-Ära, Michael Portillo, nach seiner Wiederwahl in das britische Unterhaus im November für Hague als Parteivorsitzenden weniger als eine zusätzliche Stütze denn als potentielle Bedrohung erweisen.

Der Verfall konservativer Macht erleichtert Tony Blair die Durchsetzung seiner Politik, erklärt die für ihn günstigen Umfragewerte aber nur zum Teil. Mit Blick auf das Jahr 1999 waren andere politische und vor allem ökonomische Gründe für die weitere Zustimmung zur Regierung Blair ebenso ausschlaggebend: die Meinungsführerschaft und klare Haltung des Premierministers im Kosovokrieg, der Durchbruch in den Friedensverhandlungen in Nord-Irland), eine stabile Wirtschaftsentwicklung mit einer anhaltend positiven Grundstimmung in der Industrie und an den Finanzmärkten sowie – mit Abstrichen – die Fortsetzung des innenpolitischen Reformprogramms.

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Deutsch-Britische Beziehungen:
ein Neuanfang mit Hindernissen


Für die politischen Beziehungen zwischen Deutschland und Großbritannien war 1999 ein wechselvolles Jahr zwischen Harmonisierung und Distanz. Die britische Regierung hatte den Wahlsieg der rot-grünen Koalition im September 1998 in Bonn nachdrücklich begrüßt und auf verschiedenen Kanälen ihr Interesse an einer Intensivierung der Beziehungen mit der neuen Bundesregierung unter Bundeskanzler Gerhard Schröder zum Ausdruck gebracht. Auch die britische Presse zeigte sich mehrheitlich optimistisch und knüpfte hohe Erwartungen an den neuen sozialdemokratischen Bundeskanzler. Mit Gerhard Schröder, so der Grundtenor der Medien, habe die Mehrheit der deutschen Wähler erstmals einen Repräsentanten der deutschen Nachkriegsgeneration in das führende Amt gewählt und damit für eine symbolträchtige Erneuerung der deutschen Politik plädiert.

Die Hoffnungen der britischen Regierung unter Tony Blair an die neue deutsche Bundesregierung richteten sich vorrangig auf ein doppeltes Ziel: engeres Zusammenwirken im Sinne eines gleichberechtigten Dreiecks zwischen Bonn/Berlin, Paris und London, das den Briten hilft, ihren Weg nach Europa zu finden, sowie eine programmatische Annäherung beider Regierungen unter dem Begriffspaar 'Dritter Weg/Die Neue Mitte'. Durch eine verstärkte europapolitische wie konzeptionell-inhaltliche Kooperation mit dem neuen sozialdemokratischen Bündnispartner in Bonn versprach sich der britische Premierminister eine nachhaltige Unterstützung seiner EU- und EURO-Politik im eigenen Land.

Die Tatsache, daß sich Gerhard Schröder im deutschen Wahlkampf und auch danach medienwirksam nicht ungern als 'Herr Blair' portraitieren ließ, hat man in London als schmeichelhaft empfunden, gleichwohl wissend, daß der neue deutsche Bundeskanzler – im

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Unterschied zum britischen Premierminister – mit einer doppelten Hypothek zu Beginn seiner Regierungszeit belastet war: der fehlenden Modernisierung seiner Partei sowie einem latenten Machtkonflikt mit dem neuen Finanzminister und Parteivorsitzenden Oskar Lafontaine.

Vor dem Hintergrund dieser britischen Perzeption der neuen deutschen Politik und zur Wahrung ihrer eigenen Interessen war die britische Regierung zu Beginn der Amtszeit Gerhard Schröders bestrebt, die Position des neuen Bundeskanzlers innenpolitisch zu stärken und ihm – so weit möglich – die Verfolgung seines politischen Kurses zu erleichtern.

Der Antrittsbesuch des Bundeskanzlers in London im Dezember 1998 wurde von britischen Regierungskreisen als Bestätigung ihrer Hoffnungen auf einen Neuanfang empfunden, zumal beide Regierungschefs für die kommenden Jahre die Entwicklung der beiderseitigen Beziehungen auf allen Ebenen ankündigten. Dies sollte übereinstimmend nicht nur für die Regierungskontakte im engeren Sinne, sondern auch für die Parlaments- und Parteibeziehungen sowie die Arbeitskontakte zwischen den politischen Verwaltungen gelten.

Die politische Interessenlage der Blair-Regierung am Ausbau der bilateralen Beziehungen entsprach auch den europapolitischen Absichten der neuen Bundesregierung, Großbritannien zu einem gleichrangigen Partner im Dreieck Berlin, Paris und London aufzuwerten, ohne die empfindsamen deutsch-franzöischen Beziehungen als Motor der EU-Integration zu gefährden. Sie traf darüber hinaus auch auf ein spürbares Interesse Bundeskanzler Schröders sowie des neuen Chefs des Bundeskanzleramtes, Bodo Hombach, an dem von Tony Blair entwickelten Konzept des 'Dritten Weges'.

Sowohl die deutsche EU-Ratspräsidentschaft im 1. Halbjahr als auch der Kosovo-Konflikt im gleichen Zeitraum waren aus bilateraler Sicht – wenn auch nicht frei von Differenzen in Einzelfragen – deutlich gekennzeichnet durch eine enge Abstimmung und gewollte Harmonisierung der Grundlinien der Politik beider Regierungen.

Insbesondere die im Kosovo-Konflikt durch den erstmaligen Einsatz deutscher Soldaten spürbar gewordene Bereitschaft Deutschlands, machtpolitische Verantwortung zu übernehmen, wurde von der britischen Regierung unterstützt. London sah darin eine im realpolitischen Sinne 'Normalisierung' deutscher Politik und einen wichtigen Schritt Deutschlands zu einem – auch militärpolitisch – gleichrangigen Partner am 'high table' der Großmächte. Das vorrangig moralisch begründete Vorpreschen des britischen Premierministers in der Frage des Einsatzes von Bodentruppen gegen den serbischen Aggressor, das die NATO kurzzeitig zu spalten drohte, hat die Beziehungen zur Bonner Regierung auch deshalb nicht erkennbar belastet, weil sich die britische Regierung der verfassungsmäßig und politisch bedingten vorsichtigeren Haltung der Bundesregierung stets bewußt blieb und eine politische Überforderung des deutschen Bündnispartners vermied.

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Die nach dem militärischen Ende des Kosovo-Konfliktes verstärkt einsetzenden politischen und diplomatischen Vorstöße der EU-Staaten um eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik bestimmten auch die sicherheitspolitische Agenda zwischen Deutschen und Briten im weiteren Verlauf des Jahres. Die hierzu auf dem EU-Gipfel in Köln im Sommer formulierten Weichenstellungen führten zu einer Intensivierung der Gespräche zwischen London und Berlin nicht nur auf Regierungs-, sondern auch auf Parlamentsebene. Sie zeigten Übereinstimmung im Grundsätzlichen, jedoch auch zum Teil erhebliche Einschätzungsunterscheide in Einzelfragen (insbesondere zum Verhältnis gegenüber den USA). Die im November für die deutsche Seite eher überraschende britisch-französische Initiative zum Aufbau einer europäischen rapid reaction force folgte der Logik des Köln-Gipfels und machte deutlich, daß sich die britische Regierung ein Recht auf Eigenständigkeit in Sicherheitsfragen vorbehält.

Zur programmatischen Annäherung über eine neue sozialdemokratische Politik im Globalzeitalter hatten sich beide Regierungschefs noch Ende 1998 über die Einrichtung einer bilateralen Arbeitsgruppe unter Federführung des Leiters des Bundeskanzleramtes, Bodo Hombach, und des Blair-Vertrauten und damaligen Handelsministers Peter Mandelson verständigt, die sich im Frühjahr regelmäßig zu Arbeitssitzungen in Bonn und London trafen. Doch der Abschluß des gemeinsamen Berichtes der Arbeitsgruppe verzögerte sich – weniger aufgrund von Formulierungsproblemen und dem noch im Dezember 1998 erzwungenen Ausscheiden Peter Mandelsons aus dem Blair-Kabinett, sondern hauptsächlich wegen regierungsinterner Auseinandersetzungen in Bonn über den neuen politischen Kurs der Bundesregierung. Die im Frühjahr durch Finanzminister Lafontaine ausgelöste Debatte um eine Harmonisierung des Steuerrechts in der EU sowie – grundlegender – über die Frage nationaler Handlungsfähigkeit in einer globalisierten Weltwirtschaft legte den kabinettsinternen Machtkonflikt auch gegenüber den deutschen Partnern im Ausland offen.

Im Unterschied zur britischen Presse, die diese interne Auseinandersetzung in der neuen Bundesregierung begierig aufgriff und den deutschen Finanzminister ob seiner Aussagen als den 'gefährlichsten Mann Europas' (Sun) apostrophierte, enthielt sich die britische Regierung weitgehend einer offiziellen Stellungnahme. Beobachtern vor Ort gegenüber ließen britische Regierungsvertreter jedoch erkennen, daß sie den von Oskar Lafontaine propagierten Kurs einer stärken politischen Intervention in die Gesetze des Marktes auch bilateral für wenig hilfreich hielten.

In diesem Zusammenhang wurden im Umfeld Tony Blairs kurzzeitig Gedankenspiele entwickelt, die Position Gerhard Schröders durch einen verstärkten Rede-Einsatz von New Labour-Vertretern nach Deutschland zu stärken, die jedoch von der anschließenden politischen Entwicklung überholt wurden.

Der überraschende Rücktritt Oskar Lafontaines vom Amt des Finanzministers und als Parteivorsitzender im März 1999 war aus britischer Sicht die erwartete – wenn auch frühzeitige – Lösung des Machtkampfes der sozialdemokratischen 'Doppelspitze', aus dem

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der deutsche Bundeskanzler als Sieger hervorging. Damit schienen die vorherigen Unsicherheiten in Whitehall über den politischen Kurs in Bonn ausgeräumt und der Weg frei zu sein für einen erneuten Anlauf zur Intensivierung der politischen und programmatischen Kontakte. Ausdruck dafür war der Abschluß und die Veröffentlichung des gemeinsamen Berichts der bilateralen Arbeitsgruppe, der von beiden Regierungschefs am 8. Juni in London der internationalen Presse als 'Der Weg nach vorne für Europas Sozialdemokraten – ein Vorschlag von Gerhard Schröder und Tony Blair' vorgestellt wurde.

Im Rückblick betrachtet war diese gemeinsame Initiative der harmonische Höhepunkt der beiderseitigen Beziehungen im Berichtjahr. Das sogenannte Schröder/Blair-Papier zeigte die beiden Regierungschefs programmatisch auf gemeinsamem Kurs und vereint im Bemühen, 'realitätstaugliche Antworten auf neue Herausforderungen in Gesellschaft und Ökonomie zu entwickeln' und aus sozialdemokratischer Sicht eine neue politische Vision für das 21. Jahrhundert zu entwerfen.

Die öffentliche – und Labour-interne – Resonanz auf das Schröder/Blair-Papier in den Wochen nach seiner Vorstellung blieb in Großbritannien jedoch eher blaß. Mit seiner Betonung auf Deregulierung und mehr Flexibilität auf den europäischen Arbeitsmärkten, der weitgehenden Absage an eine nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik zugunsten einer 'Angebotspolitik von links' sowie der Idee eines aktivierenden Sozialstaates, entsprach das Schröder/Blair-Papier in seinen Grundtönen mehr der New Labour-Philosophie denn klassischer sozialdemokratischer Politik kontinental-europäischen Strickmusters.

Der in diesem Papier anvisierte Politikwandel u.a. hin zu einer Strategie wirtschaftlicher Dynamik, für mehr Eigenverantwortung der Bürger und eine strenge öffentliche Finanz- und Ausgabenpolitik wurde von den – seriöseren – britischen broadsheets und weeklys aber überwiegend zustimmend kommentiert. Lediglich der linksliberale Guardian beklagte, daß die Franzosen bei diesem bemerkenswerten europäischen Projekt vor der Tür gelassen worden seien und empfahl der britischen Regierung dem wirtschaftspolitischen 'Experiment' der Franzosen unter Ministerpräsident Jospin mehr Sympathie entgegenzubringen.

Jenseits aller politischen Rhetorik war dieser erste deutsch-britische Programmentwurf überhaupt für die Regierung Tony Blairs aus mehrfachen Gründen von beträchtlicher politischer und insbesondere europapolitischer Bedeutung. Dafür sprach nicht zuletzt auch der – maßgeblich auf Drängen Tony Blairs fixierte – Zeitpunkt der Vorstellung des Papiers zwei Tage vor der britischen Europa-Wahl. Durch den politisch-philosophischen Schulterschluß mit der neuen Bundesregierung erhoffte sich der britische Premierminister nicht nur eine zusätzliche innenpolitische Unterstützung seiner EU-Politik und Kompensation für den durch die Nichtmitgliedschaft in der zum 1.1.1999 gebildeten Währungsunion eingebüßten Einfluß Großbritanniens, sondern zugleich die argumentative Untermauerung seines – vorrangig innenpolitisch motivierten – Anspruches auf britische Meinungsführerschaft in der EU. In dem gemeinsamen Papier sah die Regierung Blair eine neue Chance, der gegenüber Europa eher skeptisch eingestellten Mehrheit der britischen

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Bevölkerung zu zeigen, daß diese Regierung nicht nur aktiv für die britischen Interessen in der EU eintritt, sondern den Modernisierungsfahrplan in Europa maßgeblich bestimmt.

In deutlichem Kontrast zur Reaktion in Großbritanien löste das Schröder/Blair-Papier in Deutschland – vor allem innerhalb der SPD wie auch regierungsintern – eine heftige, überaus kontrovers geführte Debatte um den 'Dritten Weg' aus, bei der die ablehnenden Stimmen überwogen. Diese Kritik – wiewohl in ihrer Heftigkeit überraschend – kam aus britischer Sicht nicht unerwartet. Sie bestärkte britische Regierungskreise in ihrer Einschätzung, daß die SPD mehrheitlich (noch) nicht bereit war, eine inhaltliche Modernisierung nach dem Vorbild New Labours zu akzeptieren. Die öffentliche Relativierung durch Berater Tony Blairs, daß es nicht nur einen, sondern mehrere 'Dritte Wege' gebe, hat die Kritik in Deutschland weitgehend unberührt gelassen. Dies wurde von britischen Regierungskreisen ebenso aufmerksam wie enttäuscht registriert wie die in Deutschland offenbar abnehmende Popularität Tony Blairs selbst, der in deutschen Presseorganen und unter linken Kritikern des 'Dritten Weges' – in bemerkenswertem Gleichschritt mit rechtskonservativen britischen Medien – vom jugendlich-dynamischen Parteiführer zum eifernden 'Missionar', zynischen Populisten und alter ego Margret Thatchers 'mit einem Lächeln' mutierte.

Der zeitgleiche Rückzug Bodo Hombachs aus der deutschen Politik sowie die im Herbst einsetzende Serie von Wahlniederlagen der Regierungskoalition in verschiedenen Bundesländern nährten in London Zweifel an der politischen Standfestigkeit des Bundeskanzlers. Sie wuchsen in dem Maße wie Gerhard Schröder in seinen politischen Äußerungen im weiteren Verlauf des Jahres auf vernehmbare Distanz zum gemeinsamen deutsch-britischen Papier ging und gleichzeitig wieder programmatische Nähe zum 'modern socialism' (L. Jospin) der französischen Regierung zu suchen schien. Die britische Presse zog daraus den – von Regierungskreisen nicht widersprochenen – Schluß, daß Deutschland nicht 'blairisiert' (Times) werden wolle und aus machtpolitischen Gründen Gefahr laufe, in alte politische Fahrwasser zurückzurudern – einen Eindruck, den auch die britische Regierung mit Blick auf die folgenden Sachkonflikte im Herbst als nicht abwegig empfinden mußte.

Die Weigerung der Bundesregierung, das Importverbot für britisches Rindfleisch zum 1. Januar 2000 aufzuheben und so auf die von London heftig kritisierte französische Linie einzuschwenken sowie die Auseinandersetzung um die von London abgelehnte Einführung einer EU-weiten Quellensteuer, von deutschen Regierungskreisen als Ausdruck 'britischen Protektionismus' bezeichnet, waren mehr als nur atmosphärische Störungen in den beiderseitigen Beziehungen. Die Intervention des Bundeskanzlers zur Rettung des notleidend gewordenen Baukonzerns Holzmann sowie seine dezidiert ablehnende Haltung zum feindlichen Übernahmeangebot des britischen Mobilfunk-Riesen Vodafone an Mannesmann im November machten aus britischer Sicht zusätzlich deutlich, daß die politische Kluft zwischen Berlin und London zum Ende des Jahres größer geworden war. Den Grund dafür sah die britische Presse weitgehend übereinstimmend in einer Rückkehr der deutschen Bundesregierung zu 'alter Politik' – 'old-fashioned interventionism', so die

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Financial Times – und in für sie falschen politischen Zugeständnissen des Bundeskanzlers an die Linken in der SPD.

Mit Blick auf die deutsch-britischen Beziehungen am Ende des Jahres drängt sich der bleibende Eindruck auf, daß die von beiden Seiten zu Beginn geweckten Erwartungen nicht erfüllt werden konnten, sondern einer gewissen Ernüchterung über die Politik des jeweiligen Partners gewichen sind.

So wie die frühen Hoffnungen des Bundeskanzlers, durch den programmatischen Schulterschluß mit Tony Blair innenpolitisch zu punkten, am Widerstand seiner Partei und der Wähler (vorerst) gescheitert sind, so mußte der britische Premierminister am Ende des Jahres einsehen, daß die vermeintliche EU-weite Anziehungskraft seines 'Dritten Weges' schwächer geworden ist. Dies ist für Tony Blair als portraitierter Meinungsführer innerhalb der europäischen Sozialdemokratie nicht nur programmatisch ein Rückschlag. Auch für seine europapolitische Strategie haben die bilateralen Beziehungen 1999 keine erkennbaren Fortschritte gebracht, vielmehr droht die deutsche Bundesregierung als erhoffter Bündnispartner für die unausweichliche innenpolitische Auseinandersetzung mit der wachsenden Zahl der EURO-Skeptiker und konservativen Anti-Europäer im Lande verloren zu gehen. Dennoch und vielleicht gerade deshalb bleibt die britische Regierung am Ausbau der Beziehungen zur 'Berliner Republik' – einschließlich der jungen politischen Nachwuchsgeneration beider Seiten – sowie an einer Fortsetzung der programmatischen Debatte über die Zukunft der europäischen Sozialdemokratie nachhaltig interessiert.

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Innenpolitische Reformen der Regierung Blair

Im Berichtjahr hat die Regierung Tony Blairs ihr politisches Reformprogramm für ein 'neues Großbritannien' (new Britain) bei Konzentration auf die schrittweise Erfüllung ihrer 1997 gegebenen Wahlversprechen – mit eher gemischtem Erfolg – fortgesetzt. Eine aktuelle Zwischenbilanz des 'Blair-Projekts' 1999 zeigt z.T. erhebliche Fortschritte in solchen Bereichen wie Nord-Irland und Verfassungsreformen, während in anderen zentralen Politikfeldern wie Gesundheit, Bildung und Sozialpolitik der angekündigte Durchbruch zur Modernisierung des Landes auch 1999 nur in Ansätzen erkennbar blieb.

1. Devolution und Verfassungsreform

In den übrigen EU-Staaten weitgehend unbemerkt, begann am 1. Juli 1999 in Großbritannien mit der Bildung einer schottischen und einer walisischen Regionalregierung eine neue politische Zeitrechnung. Ihr waren am 6. Mai zeitgleich und in Form eines modifizierten Verhältniswahlrechts (additional member system) durchgeführte Wahlen zu einem 129-köpfigen schottischen Parlament – dem ersten seit 300 Jahren – sowie einer 60-

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köpfigen walisischen Versammlung vorausgegangen, aus denen die Partei Tony Blairs – leicht angeschlagen – als Sieger hervorging.

Der feierliche Amtsantritt der beiden neuen Regionalregierungen unter Führung einer Lib-Lab coalition in Edinburgh (Regierungschef: der Ex-Schottland-Minister Donald Dewar) und einer Labour-Minderheitsregierung in Cardiff unter Leitung des ehemaligen Ministers für Wales, Alun Michael, markiert den Start in ein neues britisches Zeitalter der Dezentralisierung. Mit ihren beiden Regionalparlamenten und –regierungen erhalten Schotten und Waliser erstmals regionale Zuständigkeiten für die Ressorts Gesundheit, Verkehr, Erziehung, Umwelt, innere Sicherheit, Wirtschaftsentwicklung und Wohnungsbau sowie – im Falle Schottland – auch eine begrenzte Autonomie in der Einkommenssteuerpolitik.

Der durch die beiden Volksabstimmungen in Schottland und Wales 1998 eingeleitete und mit der Einrichtung der beiden Regionalregierungen 1999 noch längst nicht abgeschlossene Prozeß der devolution führt nicht nur zu einer (begrenzten) Verlagerung politischer Machtbefugnisse vom staatlichen Zentrum an die Peripherie. Dies allein wäre aus britischer Sicht bereits historisch zu nennen. In Verbindung mit weiteren Vorhaben der Regierung Blair – wie der Einführung von direkt gewählten Oberbürgermeistern in den Großstädten, darunter in London im Mai 2000 – wird dieser Prozeß die traditionelle Struktur Großbritanniens als zentralistischer Staat auf Dauer verändern und möglicherweise beenden. Zudem: Durch die Abschaffung des traditionellen Mehrheitswahlrechts und den Übergang zu einer Form des Verhältniswahlrechts bei den Parlamentswahlen in Schottland befindet sich in Großbritannien seit 1999 erstmals eine Koalitionsregierung im Amt – mit möglicherweise weitreichenden Folgen auch für die britische Parteienlandschaft.

Eine in der ungeschriebenen Geschichte der britischen Verfassung nicht weniger historische Zäsur bedeutet die nach monatelangem Tauziehen zwischen Regierung und Oberhaus im November gesetzlich verfügte Reform des House of Lords.

Die Abschaffung der hereditary peerage und mit ihr des vererbten Rechts auf Sitz und Stimme im britischen Oberhaus für rund 650 Mitglieder ist mehr als nur die Einlösung eines weiteren Wahlversprechens Tony Blairs. Für die konservativen Kritiker der Regierungsreform geht damit zwar ein Stück britischer Tradition – und für viele Erblords ein im Wortsinne 'Zuhause' – unwiderruflich verloren. Politisch wichtiger erscheint jedoch, daß mit dem Ende der hereditary peerage zugleich auch ein neues Kapitel dieser Verfassungsinsitution beginnt und sich der Weg öffnet in einen moderneren, weil mehr demokratisch legitimierten britischen Parlamentarismus.

Die Durchsetzung der Reform wurde erleichtert durch ein Zugeständnis der Regierung an das Oberhaus zur Beschleunigung des Gesetzgebungsverfahrens: Danach können insgesamt 92 peers bis auf weiteres mit Stimmrecht an der Seite der übrigen 567 life peers Platz nehmen, die traditionell jährlich durch den Premierminister ernannt werden. Im neuen britischen Oberhaus, das wie bisher Gesetzesvorhaben der Regierung nicht blockieren, wohl

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aber verzögern kann, sitzen damit zukünftig nur noch rund 50% seiner ursprünglichen Mitglieder (659 statt 1213), wobei sich nach dem Ausscheiden der fast ausschließlich konservativen peers mit der Reform auch die politische Machtbalance im House of Lords leicht zugunsten der Labour-Vertreter geändert hat. Konservative Kritiker der Regierung sprechen deshalb von einer politischen Entmachtung des Oberhauses als dem eigentlichen politischen Ziel Tony Blairs.

Die Reform des britischen Oberhauses ist nach den Vorstellungen des britischen Premierministers mit der Abschaffung der Erb-Lords jedoch noch nicht abgeschlossen. Ihr soll in einem zweiten Schritt eine grundsätzliche Neuregelung der Befugnisse und der personellen Zusammensetzung des Oberhauses folgen. Ob diese zweite und politisch bedeutendere Reform in Richtung auf ein deutsches Bundesrats-Modell geht, ist derzeit – wohl auch für Tony Blair – noch offen. Zur zukünftigen Struktur und Funktion des reformierten britischen Oberhaus (auch gegenüber dem House of Commons) hat die britische Regierung vorerst eine Kommission unter der Leitung des angesehenen Lord Wakeham einberufen, deren Vorschläge im Januar nächsten Jahr zu erwarten sind. Gleichwohl ist mit dem Beginn der zweiten Phase der Oberhausreform sicher nicht mehr während der laufenden Amtsperiode der Regierung zu rechnen.

Mit diesen für Großbritannien einschneidenden Verfassungsreformen des Jahres 1999 befindet sich das Land zweifellos auf dem Weg in die europäische Moderne – dabei allerdings begleitet auch von allen auf dem Kontinent bekannten Problemen eines mehr föderal verfaßten Staatswesens. Nach dem Abklingen der Selbstbestimmungs-Euphorie waren die ersten Schritte der Regierungen in Edinburgh und Cardiff eher beschwerlich und gaben einen Vorgeschmack auf das, was regionale Eigenständigkeit und Koalitionen auch mitsichbringen werden: mehr innerparteiliche und koalitionsinterne Auseinandersetzungen (in Edinburgh insbesondere um die Einführung von Studiengebühren und die Höhe von Agrarsubventionen) sowie bisher weitgehend unbekannte Konflikte mit der 'Bundesregierung' über Verteilungsfragen und Ressortzuständigkeiten mit den in London weiter bestehenden Ministerien für Schottland und Wales.

2. Nord-Irland

Der Durchbruch bei den Friedensverhandlungen in Nord-Irland Ende November war für Tony Blair nicht nur persönlich, sondern vor allem auch innenpolitisch ein großer Erfolg. Der britische Premierminster hatte sich aktiv in den monatelangen Nervenkrieg zwischen Unionisten und Republikaner eingeschaltet und dabei ein hohes Maß seiner politischen Glaubwürdigkeit als 'Friedensvermittler' riskiert. Die Bildung des 108-köpfigen nord-irischen Parlaments sowie die Wahl einer Regionalregierung in Belfast unter der Leitung eines first ministers, des Unionisten David Trimble, am 29. November ist ein weiteres historisches Datum und aus britischer Sicht zweifellos eines der wohl wichtigsten innenpolitischen Ereignis des Jahres überhaupt.

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Mit der Zusammenkunft des Provinzparlaments sowie dem Amtsantritt der 12-köpfigen Northern Ireland Executive unter der erstmaligen Beteiligung der Hauptantagonisten – Unionisten und Republikaner – wird das Kernelement des sogennanten 'Karfreitagsabkommen' vom Frühjahr 1998 implementiert, das in einem sich anschließenden Referendum die überwältigende Zustimmung der nord-irischen Bevölkerung erfahren hatte. Letztlich möglich wurde die Übereinkunft durch eine Kompromißformel des beauftragten Unterhändlers, des US-Senators George Mitchell, sowie ein Abrücken der Unionisten unter ihrem Vorsitzenden, David Trimble, von der Blockade-Position des 'no guns, no government'. Das Zugeständnis der republikanischen Sinn Fein Partei, einen Beauftragten für die zum Mai 2000 vorgesehene vollständige Abgabe der IRA-Waffen zu ernennen, ermöglichte ihren Eintritt in die – im Juli an der Frage der decommissioning im ersten Anlauf gescheiterten – Provinzregierung (mit den Ressorts Gesundheit und Bildung). Wenngleich der neue nord-irische Friedensschluß die bislang nachhaltigste Aussicht auf eine Zivilisierung der politischen Verhältnisse und damit eine Abkehr von einem jahrzehntelangen Bürgerkrieg im 'Hinterhof' Großbritanniens eröffnet, so steht mit der längst nicht gesicherten Abgabe der IRA-Waffen einerseits und dem damit unmittelbar verknüpften Verbleib der Unionisten in der Provinz-Regierung der eigentliche politische Test für die Dauerhaftigkeit des Friedensprozesses noch aus.

3. Gesundheitspolitik

Die sich im Dezember abzeichnende Grippeepidemie in Großbritannien führte zu einer ebenso dramatischen wie bekannten Winterkrise im staatlichen Gesundheitswesen NHS (National Health Service) mit landesweiten Versorgungsengpässen. Wie kaum in einem anderen öffentlichen Dienstleistungsbereich wirken sich im NHS die unter Margret Thatcher in den 80er Jahren durchgesetzten Rationalisierungsmaßnahmen krisenhaft aus, die in Verbindung hauptsächlich mit einer – auch unter New Labour – fortgesetzten eher restriktiven Lohn- und Gehaltspolitik im gesamten öffentlichen Sektor, schlechten Arbeitsbedingungen sowie fehlender Investititonsmittel zum Ausbau des Versorgungsnetzes zu einer chronischen Unterversorgung mit Krankenschwestern, Ärzten und Krankenhausbetten im NHS beigetragen haben.

Zwischen 1982 und 1997 wurde in den NHS-Krankenhäusern rund 25% aller Betten abgebaut. Großbritannien verfügt heute mit nur noch 2 Betten pro 1000 Einwohner über die geringste Bettenkapazität in der EU (Deutschland: 6,9 Betten pro 1000 Einwohner). Im gleichen Zeitraum gingen rund 30% aller Arbeitsplätze im NHS (Ärzte, Krankenschwestern und –pfleger) verloren, und dies bei gleichzeitig jährlich ansteigenden Patientenzahlen. Die Folge: NHS-Krankenhäuser arbeiten selbst in Normalzeiten mit einer Bettenauslastung von über 90% am Rande ihrer Kapazität. Hinzu kommt, daß die überwiegend älteren Patienten aufgrund fehlender Altersheim- und Pflegeplätze überproportional lange in den Krankenhäuser verbleiben müssen und so kurzfristige Notaufnahmen erschweren.

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Immerhin ist es der britischen Regierung 1999 aber gelungen , die Zahl der NHS-Patienten, die auf eine Krankenhausbehandlung warten mußten, gegenüber 1997 auf derzeit insgesamt 1,1 Millionen leicht zu senken. Sie ist damit nach eigenen Angaben auf einem guten Wege, ihr Wahlversprechen – Kürzung der Wartelisten bei den sog. in-patients um 100.000 – bis zum Jahre 2001 zu erreichen. Allerdings bleiben die Wartezeiten der NHS-Patienten für eine Operation bzw. eine Facharztuntersuchung gegenüber 1997 unverändert hoch: 1999 mußte jeder 20. NHS-Patient mehr als 12 Monate auf eine Krankenhausbehandlung und mußten insgesamt rund 500.00 Patienten länger als 13 Wochen – 1/3 davon über ein halbes Jahr – auf eine Untersuchung beim Facharzt warten.

Die Strukturprobleme im NHS sind seit langem bekannt. Sie wurden jedoch auch von der Regierung Blair bislang nicht entschieden genug angepackt – auch, weil dafür durch die restriktive Haushaltspolitik der Jahre 1997-1998 die nötigen Gelder fehlten. Dies soll nach Regierungsangaben in den nächsten Jahren anders werden. Die von Schatzkanzler Gordon Brown für den Zeitraum 1999-2001 in Aussicht gestellten zusätzlichen NHS-Mittel in Höhe von real rund 10 Mrd. DM pro Jahr sollen die Versorgungssituation im öffentlichen Gesundheitswesen nachhaltig verbessern – darunter 17 neue Krankenhäuser, eine 1999 erstmalig eingerichtete 'helpline' NHS Direct (ein telefonischer Beratungsdienst für Patienten durch Krankenschwestern), sowie neue sogenannte walk-in-centres in Supermärkten und Apotheken, die einen direkteren Zugang zur allgemeinmedizinischen Versorgung ermöglichen sollen. Demgegenüber betonten britische Gesundheitsexperten, daß solche Initiativen ebenso wie die angekündigten Regierungsgelder – die eine reale Steigerung der öffentlichen Ausgaben im NHS auf 5-Jahres-Basis von eher bescheidenen 4% ausmachen – allenfalls geeignet sind, die ohnehin krisenhafte Situation nicht weiter zu verschlechtern. Noch immer gibt die britische Regierung für den Einzeletat Gesundheit in Höhe von rund 130 Mrd. DM/jährlich etwa 1% des Bruttoinlandsprodukts weniger aus als im europäischen Durchschnitt.

4. Bildungswesen

Im Bereich der Erziehung, dem erklärtermaßen wichtigsten politischen Vorhaben der laufenden Amtszeit, hat die Blair-Regierung im Berichtjahr insbesondere ihrer Schulpolitik schärfere Konturen vermitteln können. Für ihre bildungspolitischen Prioritäten bis zur nächsten Wahl – Modernisierung und bessere Ausstattung der öffentlichen Schulen, kostenlose Kindergartenbetreuung der 3-4-jährigen, Weiterbildung der Lehrer und Erzieher sowie Sonderprogramme zur Förderung begabter Schüler/-innen vor allem in den Stadtzentren – stellt die Labour-Regierung von 1999 bis 2001 zusätzliche öffentliche Mittel in Höhe von umgerechnet ca. 60 Mrd. DM zur Verfügung. Damit steigt der Bildungsetat bis zur Wahl jährlich um real durchschnittlich 5,2 %. (gegenüber 1,7% unter John Major). Im Mittelpunkt ihrer Schulpolitik steht für die Regierung Blair jedoch weiterhin die Einlösung des Wahlversprechens, bis zum Ende der Regierungszeit die Klassengrößen bei den 5-7-jährigen unter 30 Schüler/-innen zu senken. Nach offiziellen Angaben befindet sich die Regierung – nicht zuletzt dank der Einstellung von mehr Lehrern und dem Ausbau von

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Klassenräumen – hierbei 'auf Kurs': Danach ist es gelungen, die Anzahl der Schüler/-innen in Klassen mit mehr als 30 von rund 485.000 (Anfang 1998) auf rund 200.000 zum Ende des Berichtjahres zu senken. Kritiker verweisen hier jedoch auf gleichzeitig steigende Schülerzahlen pro Klasse in den weiterführenden staatlichen Schulen (secondary education).

Daneben setzt die Blair-Regierung schulpolitisch verstärkt auf eine allgemeine Anhebung des Leistungsniveaus durch eine grundlegende Reform der staatlichen Curricula sowie mehr Leistungskontrolle bei Schülern und Lehrern. Dazu hat die britische Regierung 1999 neue Vorschläge angekündigt, die den Wettbewerbsgedanken auch im öffentlichen Schulwesen Großbritanniens einführen: bessere Verdienstmöglichkeiten für – gemessen an den Examensnoten der Schüler/-innen – erfolgreiche Lehrer und Schulleiter auf ein in der freien Wirtschaft vergleichbares Niveau (performance related pay). Bei unterdurchschnittlichen Examensergebnissen jedoch drohen Gehaltseinbußen und Schulschließungen bzw. die Übernahme von Schulen durch private Träger, wie 1999 im Londoner Stadtteil Hackney und Liverpool bereits durchgeführt.

5. Reform des 'Sozialstaates'

Mit ihrem Amtsantritt hat die Labour-Regierung einen Sozialstaat übernommen, der diesen Namen aus kontinentaler Sicht kaum verdiente: 1997 lebten in Großbritannien rund 4 Mio. Kinder in Armut, mehr als 1 Mio. arbeitswillige Behinderte und Kranke und rund 900.000 Alleinerziehende waren ohne Beschäftigung, 3 Mio. Rentner lebten unterhalb der Armutsgrenze.

Zur Lösung dieser Soziaplrobleme lehnte die Regierung Blair von Anfang an aus grundsätzlichen wie haushaltspolitischen Überlegungen eine Politik der reinen Ausgabensteigerung im Sozialbudget (Gesamtumfang für Sozialleistungen an Rentner, Arbeitslose, Familien und Behinderte jährlich rund 330 Mrd. DM) ab und zielt stattdessen auf die Beseitigung der Strukturprobleme im britischen welfare state, um die vorhandenen Mittel effizienter und sozial gerechter zu verteilen.

Der angestrebte 'Umbau' des Sozialstaates richtet sich auf eine engere Verbindung von Sozialstaat und Arbeitsmarkt nach dem Grundprinzip 'Arbeit für die, die arbeiten können, soziale Sicherung für die, die es nicht können'. Die aktive Teilhabe am Arbeitsmarkt ist – so ein Kerngedanke der Blairschen Sozialphilosophie – der beste Weg heraus aus Armut und sozialer Ausgrenzung. Sie ermöglicht zudem politisch eine dauerhafte und angemessene soziale Grundsicherung für die Schwachen der Gesellschaft. Deshalb konzentriert die britische Regierung ihre sozialpolitischen Reformbemühungen darauf, möglichst viele arbeitsfähige Bezieher von Sozialleistungen in den Arbeitsmarkt zu (re)integrieren.

Als Instrumente auf dem Weg zu einem modernen Sozialstaat setzt die britische Regierung im Kern auf den Dreiklang 'aktiver' Sozialsysteme, d.h. individuelle Betreuung und Unterstützung des Einzelnen statt passiver Auszahlung von Sozialleistungen, die – auch

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steuerpolitisch flankierte – Schaffung von Arbeitsanreizen sowie die strikte Durchsetzung des Prinzips der Bedürftigkeit unter Anrechnung der tatsächlichen Einkommensverhältnisse (means-tested benefits). Mit der Möglichkeit, staatliche Sozialleistungen bei fehlenden Gegenleistungen der Empfänger zu entziehen bzw. zu kürzen, definiert sie zudem gedanklich und politisch das Verhältnis zwischen Bürger und Staat neu.

Nach einem eher glücklosen Start unter der ersten Sozialministerin, Harriet Harman, hat die Blair-Regierung in den vergangenen beiden Jahren sozialpolitisch Tritt gefaßt und 1998/99 eine Reihe von Maßnahmen auf den Weg gebracht. Dies gilt insbesondere für das zum 1. April 1998 eingeführte Beschäftigungsprogramm New Deal for jobs zur Beseitigung der Jugendarbeitslosigkeit, über das bereits mehrfach berichtet wurde.

Mit einer Mischung aus Lohnsubvention für die beteiligten rund 50.000 Unternehmen, individueller Betreuung durch personal adviser, Aus- und Weiterbildungsangeboten zur Erhöhung der Beschäftigungsfähigkeit der arbeitslosen Jugendlichen (employability), aber auch Sanktionen für sich verweigernde Teilnehmer durch Kürzung des staatlichen Arbeitslosengeldes unterscheidet sich das britische New Deal-Programm deutlich von kredit- oder steuerfinanzierten Beschäftigungsprogrammen alter Prägung. Es wurde im Laufe der beiden vergangenen Jahre auf weitere Zielgruppen, darunter nichtbeschäftigte Alleinstehende (zumeist Frauen), Behinderte sowie Langzeitarbeitslose über 25 Jahren und ältere Arbeitslose über 50 ausgedehnt.

Aus der Sicht der britischen Regierung ist das New Deal-Programm bisher ein großer Erfolg. Nach vorliegenden offiziellen Angaben haben in den ersten 1½ Jahren des Programms rund 145.000 arbeitslose Jugendliche unter 24 Jahren (= ca. 43% der Absolventen) eine neue und dauerhafte Beschäftigung auf einem nichtsubventionierten Arbeitsplatz in der Privatwirtschaft gefunden (Stand Oktober 1999). Kritiker des Programms verweisen dagegen auf Defizite – den hohen Anteil von Abgängern 'aus unbekannten Gründen' (ca. 28%) sowie die Tatsache, daß immerhin 13% der Abgänger wieder zu Empfängern anderer Sozialleistungen geworden sind.

Dennoch kann die britische Regierung – nicht zuletzt mit Hilfe des New Deals – auf eine insgesamt positive Entwicklung bei der Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit seit 1997 verweisen: Im Berichtjahr sank die Arbeitslosenquote bei jugendlichen Arbeitslosen zwischen 18-24 Jahren weiter und lag mit knapp 11% um insgesamt 2% unter dem Niveau von 1997. Im gleichen Zeitraum konnte die Langzeitarbeitslosigkeit bei Jugendlichen sogar um mehr als 60% gesenkt werden. Damit waren am Ende 1999 in Großbritannien noch 67.000 Jugendliche länger als 12 Monate ohne Beschäftigung.

Neben der Fortsetzung der arbeitsmarktpolitischen Offensive des New Deal hat die britische Regierung 1999 im Steuer- und Abgabenrecht eine Reihe von Änderungen vorgenommen, um die Arbeitsaufnahme für Leistungsempfänger auch finanziell attraktiver zu machen. Dies gilt vor allem für die 1998 bereits angekündigte Einführung eines neuen working family tax credit (WFTC) zum Oktober des Jahres, der zu einer spürbaren Entlastung

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einkommensschwacher Familien mit mindestens einem beschäftigten Familienmitglied führt. Der WFTC ist ein nichtrückzahlbarer Gehaltzuschuß, der an die Stelle der ergänzenden Sozialhilfe (familiy credit) tritt und von den Arbeitgebern ausgezahlt wird. Er gararantiert Niedrigverdienern – zusammen mit höheren Kinder- und anderen Freibeträgen – ein Mindesteinkommen von 200 GB-£/Woche und wirkt sich unterhalb bestimmter Einkommensgrenzen als negative Einkommenssteuer aus.

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Zum 'System Blair'

Die Durchsetzung der von Tony Blair angekündigten Modernisierung des Landes verlangt auch ein effizientes Regierungsmanagement (modern governance). Der gegenwärtige und für das 'System Blair' kennzeichnende präsidiale Führungsstil erleichtert die Durchführung der Regierungspolitik, schafft mehr Kohärenz in der Formulierung und Darstellung der Politik und blockiert bisher die für Labour-Regierungen der 60er und 70er Jahre verhängnisvollen Machtkämpfe und Ressortstreitigkeiten innerhalb des Kabinetts. Unter Tony Blair werden personalpolitische Entscheidungen nicht diskutiert, sondern – meist widerstandsfrei – exekutiert, wie die beiden Kabinettsumbildungen 1999 (mini-reshuffles) mit dem Wiedereintritt des parteiintern umstrittenen neuen Nord-Irland Ministers, Peter Mandelson, in die Regierung gezeigt haben.

Ein zentralistisches Regierungsmanagement birgt jedoch auch Risiken – durch mangelnde politische Abstimmung im Vorfeld von Regierungsinitiativen, die weitaus höhere Abhängigkeit vom politischen Instinkt des Premierministers und seiner Berater sowie durch die für das Blair-System geradezu typische Zentralsteuerung der Pressearbeit durch eigene spin doctors. Die von ihnen betriebene mediengerechte Vermarktung von Regierungspolitik führt im Ergebnis nicht selten zu einem für Bürger wie Beobachter bisweilen schwer zu durchschauendes Gewirr von ständig neu angekündigten Regierungsinitiativen (review bodies, reform commissions , action zones u.a.m.) und konkreter Politik und erschwert so eine objektive Beurteilung der Leistungen der Regierung.

Zudem: Wo – wie im Falle Blair – Regierungspolitik von der Spitze aus formuliert und umgesetzt wird, wächst die Kritik der Medien sowie aus den Reihen der Ministerialbürokratie und dem Kabinett selbst. Regierungsmitglieder fühlen sich durch die von Tony Blair kurz gehaltenen wöchentlichen Kabinettssitzungen, die mehr Ankündigungs- denn Beratungscharakter haben, nicht selten zu Statisten der Regierungspolitik degradiert. Von Tony Blair bereits durchgeführte Strukturreformen in der Whitehall-Bürokratie – wie z.B. die Einrichtung neuer und ihm direkt unterstellter Arbeitsgruppen (units) mit eigenen Politikzuständigkeiten und Koordinierungsaufgaben gegenber den Ministerien – signalisieren einen weiteren Einflußverlust der Einzelressorts. Noch bleibt die interne Kritik am Blair-System verhalten und richtete sich 1999 mehr gegen den engen und jungen Führungszirkel in No. 10 Downing Street als gegen den Premierminister selbst, dessen

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persönliche Autorität als Architekt New Labours und Wahlsieger mit einer absoluten Parlamentsmehrheit außer Frage steht.

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Wirtschaftliche Entwicklung und Haushaltspolitik

Im Berichtzeitraum ist die von manchen Wirtschaftsexperten für 1999 vorausgesagte Rezession ausgeblieben. Der für die britische Wirtschaft der vergangenen Jahrzehnte geradezu typische Kreíslauf des boom-and-bust fand nicht statt. Mit einem erneuten Anstieg des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von 1,8% (Deutschland: 1,4%) wächst die britische Wirtschaft derzeit zwar langsamer als noch in den beiden Vorjahren. Sie hat jedoch die sich noch zu Anfang des Jahres abzeichnenden Ermüdungserscheinungen durch einen neuen Wachstumsschub in der zweiten Jahreshälfte – vor allem durch einen boom im Bereich moderner Technologiemärkte wie Internet und Mobilfunk – überwunden und verbleibt insgesamt auf einem stabilen Wachstumskurs. Für 2000 wird sogar mit einem Wirtschaftswachstum in Höhe von rund 3% gerechnet.

Die Zahl der registrierten Arbeitslosen fällt weiter. Im Dezember waren in Großbritannien saisonbereinigt insgesamt 1,19 Millionen offiziell als arbeitslos gemeldet, so wenige wie seit 1980 nicht mehr. Mit einem Rückgang von rund 132.000 Arbeitslosen gegenüber 1998 beträgt die Arbeitslosenquote in Großbritannien zum Jahresende 4,1%. Auch unter Berücksichtigung der wesentlich aussagekräftigeren ILO-Kriterien sinkt die Zahl der Arbeitslosen: von 1,87 Millionen im Jahre 1998 auf nunmehr 1,72 Millionen. Dies entspricht einer Arbeitslosenquote von 5,9% (Stand: September 1999) mit dem für Großbritannien bekannten höheren Anteil arbeitsloser Männer.

Die Zahl der Beschäftigten wird 1999 voraussichtlich ein neues Rekordniveau erreichen. Bis einschließlich September 1999 stieg die Beschäftigtenzahl auf insgesamt 27,5 Mio. und damit auf Jahresbasis um weitere rund 325.000, mit deutlicherem Anstieg der Zahl der Vollbeschäfttigten gegenüber Teilzeitbeschäftigten und bei Rückgang befristeter Beschäftigungsformen.

Gefahren für eine stabile Wirtschaftsentwicklung in Großbritannien könnten sich mittelfristig vor allem durch den 1999 weiter boomenden Häuser- und Wohnungsmarkt (Anstieg der Hauspreise gegenüber dem Vorjahr um 13%) sowie durch die erneut anziehende Verbrauchernachfrage (der Anstieg des verfügbaren Jahreseinkommens lag 1999 bei durchschnittlich 4,9%) ergeben, mit denen die Inflationsspirale wieder in Gang gesetzt werden könnte. Trotz einer insgesamt gleichbleibenden Geldwertstabilität im Berichtjahr (Inflationsrate: + 2,2%) hat die seit 1997 unabhängige Bank of England – nach Zinssenkungen in der ersten Jahreshälfte – im Herbst die Leitzinsen in einem moderaten Doppelschritt von jeweils 0,25% auf derzeit 5,5% wieder erhöht. Weitere Zinserhöhungen sind nicht ausgeschlossen. Diese Kurskorrektur in der Zinssetzung hat wesentlich zu dem

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weiteren Anstieg des Pfundkurses in der zweiten Jahreshälfte – insbesondere gegenüber dem EURO – beigetragen. Im Berichtjahr und damit seit Einführung des EURO ist das britische Pfund gegenüber der neuen europäischen Währung um rund 16% gestiegen.

Die wesentlich wechselkursbedingten Rezessionserscheinungen in der exportorientierten und verarbeitenden britischen Industrie der Jahre 1997/98 scheinen jedoch nachzulassen. Im Berichtjahr hat sich die Auftragslage und auch die Produktivtät in der verarbeitenden Industrie deutlich gebessert (+ 5,2%).

Am 9. März 1999 legte der britische Schatzkanzler dem Unterhaus den bislang 3. Haushalt der Blair-Regierung bis zum April nächsten Jahres vor. Mit einem policy-mix aus moderaten Staatsausgaben, gezielten Steuererleichterungen bei gleichzeitiger Anhebung vor allem indirekter Steuern bestätigt er den bisherigen wirtschafts- und finanzpolitischen Kurs der Blair-Regierung.

Zu den von Gordon Brown angekündigten Einzelmaßnahmen im Haushaltsjahr 1999/2000 gehören vor allem eine Senkung des Eingangssteuersatzes von 23% auf 22% ab April 2000, die Einführung eines im Wahlkampf 1997 zugesagten neuen Eingangssteuersatzes in Höhe von 10% auf die ersten rund DM 4.500,-- für einkommensschwache Familien mit einem Jahreseinkommen von bis zu ca. DM 17.500 ab 1. April 1999, eine weitere Senkung der Unternehmenssteuern (corporation tax) auf 30% für Großunternehmen und auf 20% für kleinere und mittlere Betriebe, eine deutliche Erhöhung des Kindergeldes von 11 GB-£ pro Woche auf 15 GB-£ für jedes 1. Kind und auf 10 GB-£ für jedes weitere Kind ab April 2000 sowie eine einmalige Erhöhung des staatlichen Heizkostenzuschusses auf 100 GB-£ für die rund 8 Millionen Rentner-Haushalte.

Zusätzliche Einnahmen im laufenden Haushaltsjahr erwartet sich das Treasury durch die Abschaffung bestimmter Steuerbegünstigungen für Hausbesitzer sowie des Freibetrages für kinderlose Verheiratete, eine Erhöhung der Versicherungsabgaben für Besserverdienende (mit einem Jahreseinkommen von über 26.000 GB-£) und Selbständige sowie eine deutliche Anhebung der Verbrauchssteuern auf Benzin, Zigaretten und Tabak. Das Wahlversprechen von 1997, die Einkommensteuer nicht zu erhöhen, sondern langfristig zu senken, zwingt die britische Regierung auch im Haushaltsjahr 1999/2000 zu einer weiteren deutlichen Erhöhung der indirekten Steuern. Der Haushalt 1999/2000 bringt gleichzeitig eine deutliche Umverteilung aus der oberen Hälfte der Einkommensschichten (darunter insbesondere gutverdienende Alleinlebende und kinderlose Ehepaare) zugunsten von Familien mit Kindern, einkommensschwachen Familien und Rentnern in einer Gesamthöhe von ca. 5,5 Mrd. GB-£. Dies entspricht einer Erhöhung des Nettoeinkommens für die unteren 10% der Einkommensskala von über 9%. Zusätzliche Steuereinnahmen aufgrund der gesunden Wirtschaftsentwicklung sowie die strikte Begrenzung laufender öffentlicher Ausgaben in den ersten zwei Jahren haben den Verteilungsspielraum für die britische Regierung größer werden lassen. Ob und inwieweit er sozialpolitisch genutzt wird, ist zum Ende des Berichtjahres offen. Fest steht, daß Gordon Brown sein haushaltspolitisches Ziel – Vorlage eines ausgeglichenen Budgets bis zum Ende der Regierungszeit – vorzeitig im

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nächsten Jahr erreichen wird. Im Berichtjahr veröffentliche Schätzungen von Wirtschaftsinstituten gehen vom einem Haushaltsüberschuß in Höhe von rund 8 Mrd. GB-£ bereits zum Ende des laufenden Haushaltsjahres aus. Über deren Verteilung wurde 1999 innerhalb der Labour-Fraktion und der Partei politisch bereits heftig gestritten, während die liberale und konservative Opposition dem Schatzkanzler vorwarf, eine 'Kriegskasse' (war chest) für die kommende Parlamentswahl anzulegen.

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Europapolitik

Am 23. Februar stellte der britische Premierminister vor dem britischen Unterhaus den EURO-Fahrplan seiner Regierung vor. Der national changeover plan beschreibt den Zeitplan für einen eventuellen Beitritt Großbritanniens zur Europäischen Währungsunion. Der Fahrplan der britischen Regierung geht von einem positiven Ausgang des geplanten EURO-Referendums aus, das 'rund vier Monate' nach der nächsten Parlamentswahl und einer entsprechenden Kabinettsentscheidung sowie der Zustimmung des britischen Parlaments stattfinden soll. Nach einer weiteren rund 2-2½ Jahre dauernde Phase der technischen Umstellung könnte die Einführung des EURO in Großbritannien aus Sicht der britischen Regierung im Jahre 2004 vollzogen werden.

Der Regierungs-Fahrplan – eher ein technisches denn ein politisches Dokument – bedeutet jedoch keine Änderung in der Substanz der britischen EURO-Politik, die weiterhin von einem positiven Ausgang des EURO-Referendums und der Erfüllung der sogenanten fünf 'ökonomischen Tests' als Voraussetzungen eines Beitritts ausgeht. An dieser Haltung des prepare-and-decide der britischen Regierung hat der national changeover plan nichts geändert.

Die unveränderte Zurückhaltung der britischen Regierung in der EURO-Frage ist vor allem innenpolitisch begründet. Nachdem noch zu Beginn des Jahres unter dem frischen Eindruck der Einführung des EURO am 1. Januar sich ein zaghafter Stimmungsumschwung zugunsten der neuen Währung abzuzeichnen schien, nahm die EURO-Skepsis in der britischen Bevölkerung im weiteren Verlauf des Jahres wieder zu. Während im Juli 1999 noch insgesamt 28% der befragten Briten für einen EURO-Beitritt votierten, sank die Zahl der erklärten EURO-Befürworter bis zum Dezember auf nur noch 17% ab. Nach vorliegenden Umfragen ist heute Großbritannien die mit Abstand EURO-skeptischste Nation der EU.

Auch unter den britischen Unternehmern schlug die Stimmung eher zuungunsten eines EURO-Beitritts Großbritanniens um. Dies galt insbesondere für die kleineren und mittleren Firmen, unter denen rund 63% die Einführung des EURO in Großbritannien ablehnen, erfaßte 1999 aber auch die bis dahin eher EURO-freundliche britische Großindustrie und die Londoner City.

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Doch nicht nur die wachsende Anti-Euro-Stimmung, mit der die Gefahr einer Niederlage beim angekündigten Referendum zum Ende des Jahres realer geworden ist, läßt die Blair-Regierung in der EURO-Frage vorsichtig – für EURO-Anhänger zögerlich – taktieren. Sie bleibt auch deshalb hier in der Deckung, um den Spagatschritt als verläßlicher Partner gegenüber den übrigen EU-Staaten einserseits und als Verfechter britischer Interessen gegenüber den zunehmend anti-europäisch eingestellten britischen Medien und Konservativen andererseits halten zu können. Es darf daher nicht verwundern, daß die für einen Stimmungsumschwung nötige EURO-Offensive der Regierung – trotz einer von Tony Blair öffentlichen Unterstützung der im Herbst neugegründeten pro-EURO-Gruppe Britain in Europe – im Berichtjahr ausgeblieben ist. Hinzu kommt, daß es auch kabinettsintern Meinungsunterschiede in der EURO-Frage gibt, die 1999 deutlicher geworden sind – insbesondere zwischen dem offenbar zunehmend EURO-skeptischen Schatzkanzler Gordon Brown und dem sich zum EURO-Befürworter wandelnden Außenminister Robin Cook.

Bei Fortsetzung dieses – vorwiegend taktisch – motivierten Kurses der Selbstparalyse läuft die britische Regierung jedoch Gefahr, sich aus einer zentralen innenpolitischen – und später wahlpolitischen – Auseindersetzung zu verabschieden und die Meinungsführerschaft der wachsenden Anzahl der EURO-Gegner zu überlassen. Von ihnen sehen nicht wenige in der Ablehnung des EURO nur einen ersten Schritt auf dem Weg zu einem vollständigen Rückzug Großbritanniens aus Europa – und treffen damit auf eine durchaus vorhandene Grundstimmung eines Teils der britischen Wähler, darunter auch der Labour-Anhänger.

Dies haben die britischen Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni 1999 deutlich gemacht, die mit einer ebenso überraschenden wie herben Niederlage für die regierende Labour Party endeten. Nach Auszählung der abgegebenen 10 Millionen Stimmen, was einer Wahlbeteiligung von nur rund 23% entsprach, lag die Labour Party mit 28% der Stimmen und 29 Sitzen deutlich hinter den britischen Konservativen, die mit einem entschiedenen anti-EURO Wahlkampf durch 35,8% der Stimmen und insgesamt 36 Sitze klarer Wahlsieger wurden. Mit ihren Wahlslogans 'In Europe, but not run by Europe' sowie vor allem 'The pound is safer with the Tories' stilisierten die britischen Konservativen – für sie erfolgreich – die EP-Wahl zu einer Protestwahl gegen die Europapolitik der Labour-Regierung sowie vor allem zu einem Mini-Referendum über den Beitritt Großbritanniens zum EURO um.

Die Partei Tony Blairs verlor gegenüber der letzten EP-Wahl 33 Sitze und fuhr – mit nur 6% der Stimmen aller Wahlberechtigten – ihr schlechtestes Wahlergebnis seit den frühen 80er Jahren ein. Besonders schmerzhaft für Labour war die mangelnde Mobilisierung ihrer Stammwähler: Ihr Anteil an der ohnehin hohen Anzahl der Nichtwähler war überproportional hoch – und dies vor allem in den traditionellen Hochburgen Labours im Nordwesten Englands (- 23% gegenüber 1997).

Die EP-Wahl von 1999 war aufgrund der geringen Wahlbeteiligung sicher keine Testwahl für 2001, wohl aber ein für die Regierung unerfreulicher politischer Lackmustest für das vorgesehen EURO-Referendum, bei dem die Anti-EURO Parteien mit 52% die Mehrheit der abgegebenen Stimmen auf sich vereinigen konnten.

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Zum Ende des Berichtjahres ist festzustellen, daß von dem durch Tony Blair bei der Vorstellung des national changeover plans angekündigten 'höheren Tempo' in der EURO-Frage nichts zu bemerken ist. Der britische Premierminister sei, so sehen es viele Pro-Europäer in den eigenen Reihen, entschieden nur in seiner 'Unentschiedenheit' und Großbritannien derzeit einfach 'noch nicht bereit' für einen EURO-Beitritt. Sie wurden in dieser Einschätzung bestärkt durch Regierungsäußerungen zum EURO in der Vorweihnachtszeit, die auf einen vorsichtigen Rückzug in der Frage des Referendum-Zeitpunkts hindeuten. Eine Verschiebung des EURO-Referendums auf einen wesentlich später als geplanten Termin nach der nächsten Parlamentswahl erscheint seitdem nicht mehr ausgeschlossen.

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Ausblick

Günstige Umfragewerte sind bekanntlich kein Blankoscheck für die Zukunft. Sie können sich ändern, denn in der Politik – so der erfahrene Harold Wilson – kann selbst eine Woche ziemlich lang sein. Mit einem abrupten Klimawechsel muß Tony Blair zwar nicht rechnen, möglicherweise aber mit einer zunehmenden Enttäuschung der Wähler und wachsender politischer Kritik in den eigenen Reihen.

Der britische Premierminister steht derzeit und mit Blick auf die nahe Zukunft vor einer doppelten Herausforderung: Bei der nächsten Parlamentswahl wird die britische Bevölkerung ihre Regierung nicht allein an der Erfüllung der Wahlversprechen (to deliver) messen, sondern mehr noch daran, ob die 1. Labour-Regierung seit 1979 gegenüber den Vorgängerregierungen die für die Bevölkerung wichtigsten Alltagsprobleme (vor allem in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Soziales, Infrastruktur und Verkehr) auch wirklich angepackt und dabei eine spürbare Verbesserung der öffentlichen Versorgung erreicht hat. Dies schließt eine Modernisierung des weitgehend privatisierten Nahverkehrs in Großbritannien vorrangig mit ein. Das größte Bahn-Unglück in der britischen Geschichte in der Nähe des Londoner Bahnhofs Paddington im Spätsommer hat auf tragische Weise den desolaten Zustand der Infrastruktur des Landes und die Defizite in der Verkehrspolitik offengelegt.

Die Beseitigung der Defizite der bisherigen Politik erfordert nicht nur zusätzliche Mittel, sondern auch einschneidende Strukturreformen, insbesondere im öffentlichen Sektor. Hier muß die britische Regierung nachlegen und vorhandene Zögerlichkeiten abbauen. Was für die 1997 neue und im Amt unerfahrene Regierung Blair noch politisch klug war – die Konzentration auf das pragmatisch Machbare – , könnte sich bald als politische Hypothek erweisen. Im zweiten Anlauf wird die Meßlatte der Bevölkerung höher liegen – nicht zuletzt durch die von Tony Blair selbst rhetorisch ('one of the most radical governments in history') immer wieder geweckten Erwartungen. Die Schließung der bestehende Lücke zwischen

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politischen Versprechen und Alltagsrealität im cool Britania wird deshalb für die Labour-Regierung in den nächsten 1½ Jahren das vorrangige Ziel sein müßen.

Die Zukunft des 'Blair-Projektes' hängt neben der Wiederwahl 2001 auch davon ab, wie es dem Premierminister und Parteiführer gelingt, die 'Kritik von links' einzugrenzen und ihre Anhänger für seinen Kurs zu gewinnen. Mit den 1999 in Kraft getretenen – und unter den konservativen Regierungen Thatcher und Major nur schwer vorstellbaren – neuen Sozialgesetzten (erstmalige Einführung eines nationalen Grundlohns, Ausweitung der Anerkennungsrechte der Gewerkschaften in den Betrieben) hat Tony Blair die grundsätzlich eher skeptischen großen Gewerkschaftsführer vorerst besänftigen können. Gleichwohl zeigten sich im Berichtjahr Abgeordnete und Anhänger Old Labours weiterhin enttäuscht über politische Fortschritte im sozialen Bereich und in Verteilungsfragen und kritisierten offen den autoritäten Führungsstil Tony Blairs.

Hauptvertreter dieser Kritik sind vor allem die rund 50-70 linken Labour-Abgeordneten im Unterhaus, die sich als das soziale Gewissen der Regierung begreifen und mehrfach bereits gegen sozialpolitische Vorhaben der eigenen Regierung gestimmt haben, zuletzt im November beim Gesetz über welfare und pension reform, das u.a. die Anspruchsvoraussetzungen für Witwen- und Behindertenrenten schärfer faßte. Zu einer gewissen Führungsfigur linker Unzufriedenheit hat sich 1999 der populäre Ken Livingston entwickelt, der – gegen das 'Blair-Establishment' und den vom Premierminister favorisierten Kandidatenkollegen, Ex-Gesundheitsminister Frank Dobson, – unbeirrt und mit wachsender Unterstützung der Londoner Bevölkerung seine Labour-Kandidatur für den Londoner Oberbürgermeister-Posten bei der Wahl im Mai 2000 anstrebt.

Der politische Einfluß Old Labours auf die Regierungspolitik Tony Blairs ist aber ebenso begrenzt wie die Aussicht der mit New Labour politisch heimatlos gewordenen linken Intelligenz, programmatisch zur Weiterentwicklung des 'Blair-Projekts' beitragen zu können. Die derzeit bestehende geistige Distanz zwischen Premierminister und den intellektuellen Altlinken seiner Partei könnte nicht größer sein. Für ihn gehören sie – ebenso wie die Tories und alle rückwärtsgewandten Kräfte im Lande – zu den forces of conservatism, die Tony Blair in seiner Grundsatzrede auf dem Parteitag im September als die neuen Feinde eines modernen Großbritannien im nächsten Jahrhundert ausgemacht hat. Es soll aus seiner Sicht nach einem 'Jahrhundert der Konservativen' zu einem 'Jahrhundert der wahrhaft radikalen Kräfte' werden. Doch zunächst muß der britische Premierminister – möglicherweise schon bald – erst einmal eine weitere Wahl gewinnen. Bis dahin und erst recht danach bleibt das 'Blair-Projekt' ein britisches Modell, das es lohnt, aufmerksam und im Detail weiterverfolgt zu werden. Voreilige Wertungen aus der Ferne verbieten sich.


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