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TEILDOKUMENT:



[Seite der Druckausg.: 60 ]

Glück:

Einwanderungsland würde natürlich auch bedeuten, daß wir die Kriterien von Einwanderungsländern ansetzen wer rein darf und wer nicht. Und das ist eines der großen Probleme: daß wir uns darauf natürlich nie verständigen konnten. Das hat ja letztlich auch diese Diskussionen blockiert, weil es nicht die Summe verschiedener Dinge sein kann: auf der einen Seite primär sozialpolitisch, humanitär geprägte Zuwanderungspolitik und auf der an deren Seite eine Einwanderungspolitik. Die klassischen Einwanderungsländer entscheiden ausschließlich nach Nützlichkeit. Das heißt, diejenigen, die auf diesem Arbeitsmarkt keine Chance haben, werden gar nicht hereingelassen. Und da sind wir natürlich in einer Debatte, die weit entfernt ist von dem, wie bei uns insgesamt die ganze Thematik Ausländer diskutiert wird. Das macht die Verständigung so schwierig.

Andres:

Wir kommen an dieser Debatte nicht vorbei. Wir sind pro Kopf der Bevölkerung das größte Einwanderungsland dieser Erde. Aber diese Einwanderung vollzieht sich hier völlig nach dem Zufallsprinzip. Steuerung findet nicht statt. Wir brauchen aber geregelte Verfahren, wir müssen Kriterien entwickeln, was die Integrationsbereitschaft der Migranten betrifft, wir müssen die Integrationsbereitschaft der einheimischen Bevölkerung definieren (und wir müssen die Fragen "humanitär" und sonstiges definieren). Daran führt kein Weg vorbei. Ich weiß, daß diese Debatte belastet ist, weil der Normalmensch, wenn er das Wort Einwanderungsland hört, denkt "nun sollen noch mehr kommen..." und dann geht die deutsche Debatte los. Das ist ein Grundfehler. Es ist unsere einzige Möglichkeit diesen Prozeß einigermaßen zu steuern. Ich weiß, daß das schwierig ist.

Glück:

Aber wegen der Konsensfähigkeit ist zu empfehlen, sich vom Begriff Einwanderungsland als Vokabel zu lösen und zu sagen: wir haben Zuwanderung und wir müssen aufgrund der Erfahrungen, die wir jetzt

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machen, andere Kriterien für die Steuerung der Zuwanderung entwickeln. Es muß uns gelingen, die Reizvokabel Einwanderungsland außen vor zu lassen und uns darüber zu verständigen, daß wir klarere Kriterien brauchen für die Gestaltung der Zuwanderung in Deutschland. Sonst haben wir am Schluß immer einen semantischen Streit. Natürlich kann ich auch sagen: Es findet ständig Einwanderung statt. Das ist ja nicht bestreitbar, wenn man die Statistik anschaut. Aber es findet Zuwanderung statt aufgrund unterschiedlicher Ursachen - von der Asylthematik bis zum Arbeitsmarkt. Aber wir müssen in der Summe diese Zuwanderung in Zukunft anders gestalten und darüber müßte man sich verständigen.

Okkan:

Ich würde dennoch den Blick etwas mehr auf die Menschen hier lenken. Sie haben völlig recht, es geht nicht um den semantischen Streit: Ist es Einwanderung, ist es Anwesenheit? Was ist die Anwesenheit von fast sechs Millionen Menschen? Tatsache ist: Solange keine Zu- oder Einwanderungspolitik, oder wie auch immer, besteht, und dieses Vakuum existiert bis heute, einerseits bezüglich der Problematik der hier Anwesenden, andererseits bezüglich der Regelung der Zuwanderung - solange diese Politik nicht besteht, werden wir mit verschiedenen Facetten dieses Problems zu tun haben.

Eines haben wir überhaupt nicht erwähnt, aber Sie wissen alle, daß man das in den Medien nicht hochspielt: Es gibt ein ganz großes Problem der illegalen Arbeitskräftezuwanderung. Da finde ich die Medien in den letzten Jahren sehr zurückhaltend, um die ausländerfeindlichen Ressentiments nicht weiter zu schüren. Aber es ist eine Tatsache. Die Zahlen liegen auch auf dem Tisch. Andererseits, soweit ich es von der Wirtschaft und der Wissenschaft sehe, plädieren alle dafür, daß eine Zuwanderung stattfinden muß, damit überhaupt ein Wachstum im Arbeitsmarkt vonstatten geht. Dann muß man wirklich insgesamt die Politik in Frage stellen und ich sehe die Ansätze noch nicht. Auch bei der neuen Bundesregierung noch nicht. Wenn es sie gibt, würde ich mich gerne eines besseren belehren lassen.

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Nicht nur Ankara, nicht nur Brüssel haben versagt; Bonn hat auch versagt. Wir sprechen von der Würde, von dem Respekt - das sind alles hehre Worte, nur die ganz praktische Umsetzung in der politischen Gleichstellung im kommunalen Bereich beispielsweise, fehlt. Seit 30 Jahren verweist man auf die große europäische politische Lösung, die irgendwann auf uns zukommt, und sie findet nicht statt. Das ist der erste sehr praktische Schritt mit dem wir diese Menschen wirklich motivieren, mit dem wir diese Menschen wirklich respektieren, ernst nehmen. Warum tun wir das nicht? Wir können immer sagen - jedenfalls wird mir das seit 30 Jahren so gesagt: "Wir müssen auf die große europäische Lösung warten, eine Einigung im kommunalen Wahlrecht." Und was ist in Holland passiert, was ist in Schweden passiert? Und was ist in Deutschland passiert? Das sind ganz praktische Schritte. Da können wir wirklich die abstrakte Ebene ausschalten, wo wir sagen "warum fühlen die sich benachteiligt?" Es sind die ganz kleinen Schritte, genauso wie der muttersprachliche Unterricht in der Schule, genauso wie der Islamunterricht an der Schule - wenn es den anderen Konfessionen zugute kommt, warum nicht auch den Muslimen?

Das sind sehr praktische Fragen, die gleichzeitig die andere Frage beantworten: Warum seggregieren sie sich von dieser Gesellschaft?

Andres:

Islamunterricht in deutscher Sprache.

Bagci:

Das ist Religionsunterricht in gewisser Hinsicht.

Andres:

Eine Antwort zu Herrn Glück: Wenn ich keine Angebote mache, darf ich mich nicht wundern, wenn türkische Eltern, die gerne möchten, daß ihre Kinder in Religion irgendwas erfahren, sie irgendwo anders

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hinschicken. Und ob wir damit glücklicher sind - das würde ich bestreiten.

Klose:

Ich finde der Anspruch auf Religionsunterricht für Muslime muß gewährleistet sein. Aber ich finde wir dürfen nicht die Position der türkischen Regierung akzeptieren, die darauf besteht, daß dieser Unterricht in türkischer Sprache stattfindet. Die besteht darauf. Ich habe das heute nochmal nachgelesen. Und zweitens, sollten wir die Lehrer, die Islamunterricht geben, die sollten wir hier ausbilden. Und drittens: die normale Schulaufsicht, wie bei christlichem Religionsunterricht soll da auch gelten.

Bagci:

Ich glaube, man macht hier einen Fehler. Schauen sie mal, Islam ist in der arabischen Sprache. Aber wir in der Türkei, wir machen das auf Türkisch. Das heißt automatisch, wenn Sie Jiddisch lernen wollen, dann müssen Sie das - ob Sie Deutscher sind oder jüdischer deutscher Bürger - in jeder Sprache und da geht kein Weg dran vorbei.

Ich bin überzeugt davon, daß Deutschland Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre einen großen Fehler gemacht hat - vielleicht nicht bewußt, sondern aus gutem Willen. Jeder, der sich Deutscher genannt hat, durfte Islam unterrichten. Das war falsch. Das Problem ist, daß dadurch unqualifizierte Leute unterrichtet haben. Man ist nicht gegen den Religionsunterricht.

John:

Aber doch nur, weil wir das Vakuum gelassen haben.

Bagci:

Einverstanden. Aber ich sage das ja: aus gutem Willen. Man wollte den Bedarf decken. Weil so viele unqualifizierte Leute hineingegangen sind, hat man das mißbraucht. Und heutzutage

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diskutieren wir das auch in der Türkei. Das ist nicht nur in Deutschland, sondern auch bei uns ein riesiges Problem. Und es gibt immer noch Abgeordnete aus dem Osten, Südosten, die sagen, daß wir mehr Koranschulen in der Türkei brauchen als wir bereits haben. Da gibt es auch einen Kampf zwischen Säkularisten und religiös orientierten Menschen. Aber auf Deutschland bezogen, sollte man vielleicht aus diesen Fehlern heraus in der Zukunft mehr Dialog und einen besser kontrollierten Lehrplan entwickeln, sodaß man die Probleme reduzieren kann.

Koydl:

Mein Kollege Josef Joffe pflegte immer zu sagen, wenn man den Leitartikel geschrieben hatte: "Die ersten 2 Absätze bitte wegstreichen; da haben Sie sich nur warmgeschrieben" Und er hatte im allgemeinen recht. Ähnlich ist es mit Diskussionen. Je später die Zeit, desto reizvoller werden sie. Aber wir müssen zum Schluß kommen. Sollen wir noch eine Schlußrunde machen mit Abschlußworten, die nicht unbedingt versöhnlich sein müssen? Fangen wir bei Ihnen an, Herr Glück.

Glück:

Zunächst müssen wir ganz realistisch eine ehrliche Bestandsaufnahme machen und zur Kenntnis nehmen, daß der Integrationsprozeß nicht so läuft, wie das immer unterstellt worden ist. Und daß wir bestimmte Tatsachen nicht mehr ändern können und daß wir darauf zunächst einmal die möglichen Antworten suchen müssen. Und daß wir zum zweiten aufhören müssen mit Verdrängungen, Lebenslügen, die von fast allen Beteiligten in der ganzen Geschichte mit dabei sind und wirklich Lösungen suchen müssen, wie wir die Zuwanderung künftig gestalten, nach welchen Kriterien. Wir müssen gewissermaßen Fallgruppen bilden. Wir werden daran nicht vorbeikommen, ansonsten wird sich dies auch in der deutschen Bevölkerung als Problem wieder hochschaukeln.

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John:

Ich sehe zwei große Schwierigkeiten, die wir nicht gemeistert haben, die wir besser hätten machen können aber nicht in so kurzer Zeit. Ich sehe, daß wir Defizite haben bei der Bildung und bei der Beteiligung am Arbeitsmarkt. Das ist beides änderbar, aber nicht indem wir Sonderprogramme schaffen - mal abgesehen von diesen Mütterkursen, das ist klar, solche Kurse brauchen eben Mütter nichtdeutscher Herkunft -, sondern indem wir unsere eigenen Systeme so ändern, daß Menschen, die nun mal aus anderen Kulturen kommen oder eine niedrigere Ausbildung und Qualifikation haben, in unserem System Fuß fassen können. Und das ist ganz schwierig, weil die Deutschen sagen: "Was, wegen dieser Zuwanderer sollen wir jetzt bestimmte Sicherheiten aufgeben und Niedriglöhne akzeptieren? Das wollen wir nicht". Und es haben natürlich klassische Einwanderungsländer, die da anders rangehen und einen viel offeneren Markt haben, die haben es da einfacher.

Ansonsten glaube ich, waren auch heute abend gewisse Illusionen vorhanden: Die Integration ist nicht gescheitert. Aber sie verläuft anders als wir uns das vorgestellt haben und sie wird auch noch ganz anders verlaufen. Ich will ein Beispiel nennen: Die junge Berlinerin türkischer Herkunft, die in Berlin Medizin studiert, macht ohne große Schwierigkeiten als Radiologin ein Praktikum in Istanbul. Das kann keine deutsche Medizinstudentin machen, das macht aber eine türkische. Das ist nur ein Beispiel. Oder EATA, also diese European Association of Turkish Acadamics, die betteln, die gehen zu staatlichen Stellen, um ihre 5000 Mark zusammenzukriegen, damit sie ihre Agabey-Abla-Kurse - also Große Schwester-Großer Bruder-Kurse - für die Grundschüler in Deutschland machen können. Und wenn sie sich dann treffen, treffen sie sich im Steigenberger in Deutschland oder im Hilton in Istanbul und geben für einen Abend das aus, was sie in 5 Jahren nicht zusammenkriegen. Wir haben es in immer stärkeren Maße mit Transnationalität zu tun, und die Menschen können das heute nutzen. Die Deutschen haben nun das Glück gehabt, daß wir kein Auswanderungsland sein müssen - waren wir ja auch mal, war ja alles viel schlechter-, sondern daß wir ein

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Einwanderungsland geworden sind. Und die Einwanderer nutzen diese vollen Optionen, die sie haben im Hin- und Herpendeln. Es gibt diese Einbahnstraßen-Fahrkarte nicht mehr, sondern man hat eine Pendler-Fahrkarte und pendelt kulturell hin und her, man pendelt sozial hin und her, kommunikativ. Das wird die Zukunft vieler Menschen sein. Es ist eine große Herausforderung für unsere Wahrnehmung, diese Dinge einfach zu verstehen und sie in den positiven Entwicklungen zu fördern. Es ist doch nur dienlich, wenn ein Praktikum in der Türkei gemacht werden kann oder wenn investiert wird und man wirtschaftliche Brücken aufbaut. Und wir müssen natürlich die negativen Elemente, Menschenschmuggel, Drogenhandel - all das ist auch eine Realität -, die müssen wir versuchen einzudämmen, das ist auch sehr schwierig. Aber ich glaube, daß das in diese Richtung geht. Wir haben immer gesagt: assimilieren brauchen sie sich nicht, sollen sie nicht; sie müssen sich integrieren. Und diese Integration findet in einem sehr viel größeren politischen Raum statt, als wir uns das vorstellen. Die nationalen Grenzen werden dabei überwunden und die ersten, die sie überwinden, sind die Zuwanderer, die Oberschicht der Zuwanderer, und es wird immer mehr davon geben.

Klose:

Ich knüpfe an bei der großen Frage Zuwanderungsregelung. Ich war immer dafür, daß wir eine solche Regelung brauchen. Sie ist ungeheuer schwierig, weil man Quoten festlegen muß, weil man die Interessen der Zuwanderer und die der Deutschen definieren muß. Man muß geregelte Verfahren entwickeln - und dabei gibt es immer Streitfälle. Wie die politische Diskussion dabei laufen könnte, kann ich mir vorstellen. Aber wir brauchen das - unter Einschluß der Asylproblematik. Ich war immer ein großer Freund der Institutsgarantie, aber das war nicht diskutierbar. Wir können diesen Prozeß nicht ungesteuert ablaufen lassen. Wir nehmen sehenden Auges die Destabilisierung der eigenen Gesellschaft in Kauf. Das ist das erste.

Das zweite: Der Schlüssel zur Besserung der Dinge liegt tatsächlich im Erziehungs-, im Bildungssystem, weil diejenigen, die gut

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ausgebildet sind - bis hin zur Universität oder praktischen Berufsausbildung - keine Schwierigkeiten haben, auch wenn sie pendeln. Die anderen pendeln, weil sie nicht genau wissen, was sie sind und weil sie keine Perspektive haben. Das ist das Problem.

Drittens müssen wir in der Frage Religionsausbildung eine Entscheidung treffen. Im Augenblick läuft dies sehr ungeordnet, Angebote des öffentlichen Bildungssystems gibt es nicht, die verschiedenen Gruppen wildern und zwar in einer Weise, die höchst ungut ist.

Und letztlich: Ich hoffe, daß die Initiative der gegenwärtigen Bundesregierung in erster Linie darauf abzielt, die bilateralen Beziehungen zu verbessern - und nicht auf der Basis von Vorschlägen, die sich möglicherweise ganz schnell wieder als Illusion erweisen. Es dient den deutsch-türkischen Beziehungen nicht, wenn wir ständig mit der Monstranz EU-Beitritt herumlaufen und in der anderen Hand das Schild mit der Aufschrift halten: "Ihr seid aber allzumal Sünder und deshalb könnt Ihr nicht". Daß das die bilateralen Beziehungen fördert habe ich nicht erkennen können. Auch die liberalen Professoren an den Istanbuler Universitäten sagen mir: "Wir können das nicht mehr hören, und von Euch Deutschen schon gar nicht".

Okkan:

Zur Definition des Ist-Zustandes: Ich weiß nicht, ob wir einen Prozeß als gescheitert oder nicht gescheitert bezeichnen können. Integration ist sicher ein Prozeß, da haben Sie recht. Und der läuft. Nur, wann bezeichnen wir das als gelungen, wann als nicht gelungen ? Ich würde mich gar nicht mit diesem Prozeß beschäftigen, aber ich würde sagen: die bisherige Politik ist gescheitert, bzw. die bisherige Politiklosigkeit, Konzeptlosigkeit ist gescheitert. Das hat uns gezeigt, daß prozentual nur sehr wenige auf diesem Weg integriert werden können. Ein Teil will sich sogar assimilieren, oder hat sich schon assimiliert - jeder nach seiner eigenen Facon, dagegen ist nichts einzuwenden. Aber wenn wir diese Konzeptlosigkeit beibehalten, werden wir mit den Problemen von morgen nicht fertig. Ich will das nicht wiederholen mit

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der zunehmenden Ethnisierung, mit den nationalen Gefühlen, mit den religiösen Gefühlen, die immer stärker werden und immer stärker auch in unseren Städten eine soziale Kontrolle ausüben. Vor dieser Wirklichkeit dürfen wir unsere Augen nicht verschließen. Das Staatsbürgerschaftsrecht ist sicher ein halber Schritt in die Richtung, aber die politische Gleichstellung, um auch die Nicht-Staatsbürger, die nicht Deutsche werden wollen, zu motivieren - also die Chancengleichheit in der Schule, in der Bildung, im Arbeitsmarkt - dürfen wir nicht vernachlässigen. Und im medialen Bereich.

Das hört sich alles an wie Floskeln, Schlagwörter, aber hinter jedem Begriff verbirgt sich eine Änderung der bisherigen Politik. Ohne sie werden wir nicht mit dem Problem fertig. Es ist wirklich eine Freude, wenn wir uns zum Beispiel Cem Özdemir im Bundestag angucken oder Frau Demirbüken in Berlin - jeder in seiner Partei. Aber jedesmal, wenn ich sie sehe, habe ich gleichzeitig das zwielichtige Gefühl: Was ist mit den Hunderttausenden, die auch in deren Lage sein könnten? Wie lange kann sich eines der reichsten Länder der Erde diese Intelligenzverschwendung leisten? Gerade die Intelligenz, die sehr nützlich werden könnte bei der Lösung genau der Problematik, die uns morgen droht, bei der Lösung der Problematik "wie werden wir mit der Bevölkerungsgruppe innerhalb dieser Gesellschaft fertig? Wie können wir eine Verständigung herbeiführen, ohne daß sie sich abkapseln?" Jeder verweist auf die Unterstützung, auf die Hilfe des Herkunftslandes bei der Lösung eines Problems hier - das ist ein Fluchtversuch. Das führt uns von der Verpflichtung weg, daß wir mit diesem Problem hier fertig werden müssen. Wenn die Regierungen in der Türkei in der Lage und Willens sind, beratend zu unterstützen - sehr gerne. Ich hoffe, daß sie auch in der Lage sind und sein werden. Aber wir dürfen niemals die Lösung von Problemen, die wir hier haben, von irgendeiner Unterstützung, die aus diesen Ländern kommt, abhängig machen.

Ich werde ein sehr praktisches Beispiel nennen: Der Bundesaußenminister wird die Türkei am 21. Juli besuchen. Es muß sehr deutlich zum Ausdruck kommen, daß man die Türkei bei nächster Möglichkeit - so wie das auch in Köln zur Sprache

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gekommen ist - in den Kreis der EU-Beitrittskandidaten aufnehmen will und daß Deutschland mit gutem Willen und gutem Beispiel vorangehen muß. Dafür muß die Türkei im politischen, im rechtlichen und im demokratischen Bereich aber auch ihre Schulaufgaben machen. Je deutlicher man miteinander spricht, desto normaler werden auch die Beziehungen und man wird nicht zu Verlegenheitslösungen und zu Floskeln und zu Schlagabtausch verführt, wie das in der jüngsten Vergangenheit passiert ist. Man kann ruhig etwas direkter miteinander umgehen, der Problemdruck macht das erforderlich.

Andres:

Ich bin der festen Überzeugung, daß Migration unter den Bedingungen der Globalisierung und der Informationsgesellschaft anders aussieht, als wir das aus früheren Zeiten gewohnt sind. Und das gilt nicht nur für Bildungsideen. In einer Situation, in der man in der Zwischenzeit für 400 Mark ohne Probleme zwischen der Türkei und Deutschland hin und her pendeln kann, in der Kommunikation überhaupt kein Problem ist, in der Medien über Satellitenanlagen oder sonst was in einer ganz anderen Art und Weise Verbindung herstellen, ändern sich auch die Bedingungen für Migration.

Ich finde, daß Migrationspolitik ganz oft bedeutet, harte Bretter zu bohren und in kleinen Schritten zu gehen. Große hehre Ziele, zum Beispiel das Wahlrecht, können wir jetzt lange diskutieren. Nur: Dies unter spezifisch deutschen Bedingungen zu verändern ist relativ schwierig. Diese Diskussionen sind manchmal Symbole, und die Notwendigkeit des Handelns liegt in ganz anderen wichtigen Bereichen liegt - dazu gehört zum Beispiel die Bildung, dazu gehören Arbeitsmarktchancen und viele Fragen, die hier diskutiert worden sind.

Das dritte Problem ist: Ich glaube, daß man bestimmte Zwischenetappen und Stationen viel gelassener hinnehmen muß und auch gelassener damit umgehen muß. Ein Beispiel: Ich finde es überhaupt nicht schlimm, daß in Berlin ein Rundfunksender entsteht, der in türkischer Sprache über Berlin informiert, weil das genau auch

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solche Zwischenetappen sind. Das ist ganz wichtig und das ist mir viel lieber als all die medialen Erscheinungen, die wir vorhin diskutiert haben. Da sehe ich auch nicht die Entstehung einer Parallelkultur, sondern da sehe ich genauso Vermittlungsschritte und Vermittlungsetappen.

Der vierte Punkt ist - das haben wir nur ganz knapp diskutiert: Migrationspolitik für die hier Lebenden ist etwas anderes als eine organisierte Zuwanderungspolitik. Man muß genau die Balance halten zwischen der Migrationspolitik für die hier Lebenden und der künftigen Zuwanderung. Da hängen viele Sachen miteinander zusammen. Und damit hängt auch zusammen, welche Erwartungen man äußert. Ich bin sehr dafür den Dialog zwischen Deutschland und der Türkei zu pflegen, zwischen Europa und der Türkei. Aber das ist ein ganz schwieriger Prozeß und ich erwarte mir nicht so viel davon - da teile ich Ihre Position ganz ausdrücklich -, in diesem Zusammenhang auf die Türkei zu setzen, sondern das müssen wir, was Migration angeht, hier machen. Und dann ist die Frage der gegenseitigen Beziehungen, Annäherung von Positionen und Standpunkten, noch einmal eine andere.

Bagci:

Die Türkei ist ein sehr dynamisches und sich zum Besseren entwickelndes Land. Wir haben in der Demokratie, in den Menschenrechtsfragen, in der Technologie im allgemeinen in den letzten 15 Jahren mehr erreicht als alle unsere Nachbarländer. Sie können mit der Türkei kommunizieren, Fernsehen sehen usw. Sie können sehen, daß diese Leute, die hier als Türken sind, mit der Türkei diese Kommunikation weiter fortführen, weil die Türkei ein demokratisches Land ist, weil wir uns der Technologie angepaßt haben. Wir Türken sind uns bewußt, daß wir in der Region eine sehr große Aufgabe haben für Stabilität und Demokratie. Ob das jetzt mit Europa ist oder nicht, das ist eine andere Sache. Es wäre natürlich besser, wenn man das mit Europa tut. Deswegen ist die Vollmitgliedschaft in der Europäischen Union nicht mehr Priorität - nicht nur für die türkische Regierung, sondern auch in der türkischen

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Gesellschaft. In der Türkei gibt es eine neue Generation, die die Europäische Union und Deutschland anders interpretiert. Es geht nicht darum, ob man nach Deutschland Zuwanderer schickt - ich sehe das als etwas, was unsere deutschen Freunde als einen Alptraum betrachten. Wenn man die Studie der Adenauer-Stiftung über die türkischen Jugendlichen aufrichtig liest, wird man feststellen, daß die Türken von heute überzeugte Demokraten sind, junge Leute. Die wollen sich nach außen öffnen, die wollen Dialog haben, die versuchen alle möglichen Dinge, die sie weiter voran bringen - Fremdsprachen lernen, Computer, usw. Das sind Dinge, die für uns sehr positiv sind. Deutschland hat zur Zeit die Chance, nicht im Jahr 1945 zu leben, Deutschland ist ein Musterbeispiel von Wirtschaft, Demokratie und Menschenrechten. Wir wollen, daß unser Standard sich erhöht, wir sind nicht auf dem falschen Weg, wir gehen in dieselbe Richtung. Das Problem ist: Sie fahren mit Mercedes und ich komme mit türkischem Auto. Aber die Richtung stimmt. Sie fahren schneller als ich, das ist Ihr Vorteil. Das ist gut für Deutschland. Aber viele deutsche Intellektuelle haben den Fehler gemacht und gesagt: "Die Türkei wird Algerien sein, die Türkei wird Iran sein." Alle sind gescheitert, weil sie die türkische Entwicklung nicht verstehen können. Das kann ich ihnen auch gönnen. Ich bin ein Zeuge der Demokratie. Seit elf Jahren unterrichte ich in der Türkei und ich sehe jeden Tag, daß wir zum Besseren tendieren - nicht notwendigerweise im wirtschaftlichen Sinne, aber es ist auch nicht schlecht.

Bitte akzeptieren Sie es, daß die Europäische Union in Luxemburg einen Fehler gemacht hat. Wir haben Fehler gemacht, Sie haben auch Fehler gemacht. Kein Politiker kann zwei Tage vor Luxemburg sagen: "Wir verhandeln nicht mit dem Folterer" Das geht nicht! Es sind in den letzten zwei Jahren von beiden Seiten Wörter gefallen, die nicht klug sind. Nicht nur die türkischen Politiker haben unkluge Worte gesagt, auch die europäischen Politiker. Die Worte sind gefallen - gut. Die Frage ist jetzt: Wie sehen Sie die Türkei? In Europa gibt es zwei Schulen. Die einen sagen, die Türkei ist sehr wichtig für die weitere europäische Entwicklung und die anderen sagen, "nein, wir brauchen sie nicht". Aber wenn Ihr Klaus Kinkel vor ein paar Wochen in der

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Zeitung schreibt, daß Europa die Türkei braucht und die Türkei Europa - das ist nicht im Sinne des Geldes. Dieser Eindruck ist falsch. Wir wollen nicht als diejenigen gesehen werden, die nur Geld wollen. Das ist falsch. Diese Perzeption muß von der europäischen Seite geändert werden.

Was die deutsch-türkischen Beziehungen angeht: Die Deutschen haben in ihrer Türkeipolitik in den letzten zehn Jahren viele Fehler gemacht. In der Politik, nicht in der Wirtschaft. Wirtschaftlich gesehen ist Deutschland unser größter Partner, wir haben hervorragende Beziehungen. Und es muß weiter so gehen, weil wir dieses Netzwerk haben. Man kann das nicht übersehen. Die Frage ist jetzt: Viele Leute erwarten von Deutschland eine größere Rolle, als die Deutschen von sich selber erwarten - auf dem Balkan, im Mittelmeer, in Lateinamerika oder in Zentralasien - was auch immer. Und das ist Ihr Problem, das ist nicht unser Problem. Wir Türken sehen, daß wir mit Deutschland mehr kooperieren als mit Finnland oder Schweden, auch historisch gesehen. Und die neuen Parameter müssen wir neu definieren und daran mehr arbeiten. Wir hatten keinen aufrichtigen Dialog, das ist das Problem. Die Realitäten sind wie eine Flasche. Sie ist leer - okay, wenn sie leer ist, dann beginnen wir von vorne mit einer neuen Politik. Es ist nicht das Ende der Welt, wie unser Staatspräsident sagt. Aber bitte unterschätzen Sie die Türkei nicht. Und ich schließe mit etwas, was Shakespeare einmal gesagt hat: "The Turks have got Rhodos, don't think that they don't get Cyprus. They will get it. Don`t underestimate the power of the Turks.".

Ich glaube, in Europa ist diese power nicht im negativen Sinne. Wir, die Türken, haben eine große Aufgabe in der Demokratie, bei den Menschenrechten und in der Wirtschaft. Freie Wirtschaft, freies Denken. Trotz aller Schwierigkeiten, trotz aller Defizite sind wir das Beste, was Sie in dieser Region finden können. Wenn Sie etwas besseres haben, dann lassen Sie es mich wissen, dann lasse ich mich gerne belehren.

[Seite der Druckausg.: 73 ]

Lange:

Shakespeare eignet sich immer sehr schön für Schlußworte. Wir haben sechs Schlußworte gehört, denen ich nichts mehr hinzuzufügen habe außer meinen Dank, den ich an alle Teilnehmer aussprechen möchte. Herzlichen Dank, daß Sie hierher gekommen sind und an dieser, wie ich finde, interessanten Debatte - die nach meinem Dafürhalten mehr Fragen als Antworten gebracht hat - teilgenommen haben. Nochmals herzlichen Dank, nicht nur im Namen der Friedrich-Ebert-Stiftung, sondern auch der Süddeutschen Zeitung. Ich wünsche Ihnen allen noch einen interessanten Abend, einen schönen Abend, gute Heimreise, wohin auch immer. Dankeschön.

[Seite der Druckausg.: 74 - 75 ]
Auf den Seiten 74-75 der Druckausgabe finden sich Hinweise auf weitere Publikationen der Friedrich-Ebert-Stiftung.
Diese Publikations-Hinweise fehlen in der Online-Version


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