FES HOME MAIL SEARCH HELP NEW
[DIGITALE BIBLIOTHEK DER FES]
TITELINFO / UEBERSICHT



TEILDOKUMENT:



[Seite der Druckausg.: 42 ]

Klose:

Wir sollten mal einen kurzen Blick nach Frankreich werfen, damit man die Sache mit der Staatsbürgerschaft richtig dimensioniert. In den französischen Städten ist die große Mehrheit der nordafrikanischen Bevölkerung Franzosen. Aber sie sind in den Städten genauso wenig integriert wie die türkische Bevölkerung in deutschen. Die Staatsbürgerschaftsfrage ist meines Erachtens besonders wichtig für diejenigen, die intellektuell fortgeschritten sind, also zu den 15 Prozent gehören, die ohnehin integriert sind. Für sie ist das sozusagen das Reifezeugnis. Und es ist besonders wichtig für Leute, die von Milli Görüs angesprochen werden, die natürlich die türkische Staatsangehörigkeit ausschließlich anstreben, um mit allen Rechten nicht integriert zu sein. Das ist ja die Strategie dabei. Das muß man einfach realistisch sehen. Wer glaubt, durch die Staatsbürgerfrage sozusagen den Stein des Weisen gefunden zu haben, der irrt.

Glück:

Sie sollen anerkannter Teil der Gesellschaft werden. Aber wieviele wollen das? Oder ist es nicht letztlich ein durchaus legitimes oder nachvollziehbares Interesse, daß sie sagen: "Ich möchte in diesem Land vernünftig leben, innerhalb meiner Volksgruppe, möchte vernünftige materielle oder sonstige Bedingungen haben, aber ich hab` ansonsten an diesem Land kein besonderes Interesse. Ich will in dem Sinne nicht Teil der deutschen Gesellschaft werden." Und wenn dem so ist - und ich denke, daß es bei einem beträchtlichen Teil so ist, weil sie kulturell innerhalb ihrer Gemeinschaft bleiben wollen - dann haben natürlich alle Integrationsbemühungen, die über Alltagsdinge und funktionale Dinge hinausgehen, ganz enge Grenzen. Und wir werden sie nicht dorthin zwingen können.

Und dann sind wir natürlich bei dem Punkt, den Herr Klose angesprochen hat - im übrigen, ich habe keine persönlichen Umfelderfahrungen, aber was ich aus München oder Nürnberg höre, ähnelt ziemlich dem, was Sie als Ihre Erfahrung schildern. Wir müssen uns mit der Frage auseinandersetzen: Was bedeutet es, wenn

[Seite der Druckausg.: 43 ]

eine Volksgruppe relativ abgekapselt miteinander lebt, sich nicht in die Gesellschaft hinein entwickelt, sondern für sich eine Gruppe ist, die sich dann auch als Minderheit empfindet.

Und was Sie jetzt aus der Türkei geschildert haben - also verstärkte ethnische Diskussionen, Renationalisierungdebatte, neue Strömungen, Kräftefelder im Islam - das spiegelt immer die Situation auch hier. Und das heißt, das Betonen der eigenen Kultur, Identität, gewisse Abgrenzungsbestrebungen, daraus wird ja wohl auch ein neues Selbstwertgefühl abgeleitet.

Ich war vor einigen Jahren in Ankara und Istanbul und hatte ein Gespräch mit dem Fraktionsvorsitzenden der Erbakan-Partei. Damals stellte sie gerade den Oberbürgermeister, es war kurz nach der Wahl von Groß-Istanbul. Wir haben uns vorsichtig vorangetastet in dem Gespräch, bis er dann gesagt hat: "Ja, aber es ist ja nicht mehr hinnehmbar, daß im UN-Sicherheitsrat kein Land ist, das islamisch geprägt ist." Also, da kommen alle diese Selbstwertgefühle...

Wenn sich das hier auch so niederschlägt, dann wirkt das gegen Integration. Wir können das kaum verhindern. Aber welche Schlußfolgerungen ziehen wir daraus? Wie können wir damit umgehen?

Vor fünf Jahren war das Thema Islam kaum auf der Tagesordnung. Die Muslime sind die drittgrößte Religionsgesellschaft hier in Deutschland. Sie artikulieren sich selbstbewußter. Sie stellen den Anspruch auf Religionsunterricht in Schulen. Für fast alle in Deutschland ist der Islam ein unbekanntes Wesen. Wir haben ganz wenige Leute, die da einigermaßen Bescheid wissen. Wir haben eine öffentliche Wahrnehmung, die schwankt zwischen Islam als Bedrohung - zum Teil, wie in meinem Fall, aus religiösem Verständnis heraus, zum Teil, weil der politische Islam so erlebt wird - und Gleichgültigkeit. Da ist dann irgendwo so eine Toleranz der Beliebigkeit, aber nicht eine bewußte Auseinandersetzung. Aber das Thema wird immer relevanter. Innerhalb des Islams gibt es ein Ringen

[Seite der Druckausg.: 44 ]

um das Verhältnis von Religion und Staat, die ganzen Spannungen in der Türkei, all die Themen, die interne Auseinandersetzungen sind, die finden sich hier offensichtlich spiegelbildlich wieder. Wir haben kaum einen Einblick, weil wir schon rein sprachlich keinen Einblick kriegen. Wir haben wenig Experten bei uns, die davon etwas verstehen. Und von daher entwickelt sich das immer mehr auseinander und wird immer unverständlicher. Aber es ist wieder ein Faktor, der mir die Entfremdung verdeutlicht. Und es ist offensichtlich sehr schwer. Wenn ich bei uns mit den Vertretern der beiden christlichen Kirchen spreche, der beiden großen Konfessionen, die tun sich z.B. ungeheuer schwer damit, in Deutschland einen Ansprechpartner zu finden im Sinne des Dialogs der Religionen. Und das ist auch etwas, was wieder Angst macht in Deutschland.

Wenn wir uns jetzt in so eine Art Ghetto-Situation, verfestigte Minderheiten hinein entwickeln, wie reagiert auf Dauer die deutsche Gesellschaft? Welcher Sprengsatz steckt darin? Wir dürfen das nicht tabuisieren, auch wenn wir jetzt noch keine Lösung wissen, aber wir dürfen nicht so tun, als sei dies eigentlich kein Problem.

Bagci:

Den deutschen Wissenschaftlern zufolge gibt es in Deutschland 500.000 Kurden und 2,2 Millionen Türken. Wenn es zu Kriminalität kommt, dann sind es die Türken, wenn es nicht zu Kriminalität kommt, dann sind es die Kurden. Die Deutschen müssen sich im Klaren darüber sein, wovon sie reden. Im Vergleich zu allen anderen Nationalitäten haben die Türken, die normalen Türken, die niedrigste Kriminalitätsrate. Diejenigen, die in die Moscheen gehen, diejenigen, die zur Arbeit gehen, die wollen nur Geld verdienen und sie haben in ihren Köpfen immer noch ihr kleines Dorf in der Türkei. Politisiert sind sie immer noch nicht. Deswegen sehe ich dort keinen großen Sprengsatz. Das ist übertrieben.

[Seite der Druckausg.: 45 ]

Klose:

Diese Studie bezieht sich auf Opfer von Gewalttaten und Täter von Gewalt gegenüber Jugendlichen. Das ist eine Untersuchung, die gerade in Hamburg gelaufen ist mit 3600 Jugendlichen. Einer der interessantesten Punkte daran ist: Es werden häufiger Jugendliche, die in wohlhabenden Stadtteilen leben, Opfer von Gewalt. Die Zahl der Jugendlichen, die Opfer von Gewalt werden, nimmt überhaupt tendenziell zu. Erstaunlicherweise sind auf der Täterseite Ausländerkinder deutlich unterrepräsentiert - ich hätte eher das Gegenteil vermutet - während der Anteil der türkischen Jugendlichen an der Gewalttäterschaft deutlich angestiegen ist: 13 Prozent Anteil an der Bevölkerung und 31 Prozent Anteil bei solchen Straftaten. Ich berichte das nur - das habe ich heute gerade gelesen.

Bagci:

Sofort eine Antwort: Heute ist der Bundeskanzler Gerhard Schröder in Brasilien. Die Europäische Union hat mit den lateinamerikanischen Staaten eine neue Beziehung. Zehn Leute sind auf der Straße umgebracht und 300 Autos geklaut worden. Die Gewalt hat mit der Religion nichts zu tun. Es kann überall passieren, in New York, in London. Istanbul und Ankara sind immer noch, global gesehen, am sichersten. Das Problem ist, wie wir die Leute betrachten: Wollen wir sie als einen Sprengsatz betrachten, oder sollten wir mal sehen, daß beide Seiten, die Türken und die Deutschen, auf Regierungsebene, auf der intellektuellen Ebene, der wissenschaftlichen Ebene, daß wir diese Leute zu gewinnen versuchen. Ich würde, wenn ich ein Jugendlicher hier wäre, höchstwahrscheinlich auch dazu tendieren, Gewalt zu benutzen, wenn beide Elternteile arbeiten und sich mit mir nicht beschäftigen. Und das haben wir in Ankara, in den Colleges, den Privatschulen: Die Eltern sind saureich, aber sie haben keine Zeit für die Kinder. Diese Kinder tendieren zur Gewalt, nicht diejenigen, die zuhause mit Kopftuch sitzen, aber ihre ganze Liebe den Kindern geben. Deswegen muß man in dem Sinne das Phänomen Gewalt vielleicht anders interpretieren. Es ist aber richtig, daß wir in Deutschland eine ansteigende Tendenz haben. Ich kenne diese Studie.

[Seite der Druckausg.: 46 ]

Aber in der Türkei hat die Konrad-Adenauer-Stiftung eine (hervorragende) Studie publiziert darüber, was die türkischen Jugendlichen von der Zukunft erwarten. Wenn Sie mal die Ergebnisse sehen, dann sollten Sie wirklich froh sein, daß Sie diejenigen Türken hier haben, die noch zu retten sind. Mein Vorschlag wäre, wie Frau John auch gesagt hat, zu versuchen, neue Mechanismen zu schaffen, neue Initiativen zu ergreifen. Von Grund auf sind das keine bösen Menschen, sie sind integrationsfähig, sie sind bereit. Das Problem ist, sie können nichts tun, weil ihre Kultur, ihr Ausbildungsstand auch für türkische Verhältnisse sehr niedrig ist. In Gütersloh gibt es einen beispielhaften Fall. Vielleicht können sie diesem jungen Mädchen helfen, ich appelliere an alle hier: Die Eltern leben hier seit den 80er Jahren, und sie können immer noch kein gutes Deutsch. Aber die kleine Burcu, die ich kennengelernt habe, ist in der Klasse die Beste, und sie hat Lesepreise bekommen, d.h. sie ist besser beim Lesen und Schreiben als alle deutschen Kinder. Es kommt also immer darauf an, wie die Familien sich damit beschäftigen. Die Eltern können zwar kein Deutsch, aber sie sind so gebildet, daß diese Tochter studieren wird. Das ist der Knackpunkt, wie Herr Glück gesagt hat, diese Motivation, diese Innovation. Wie kann man diese Leute gewinnen? Es gibt Leute, auch in Bonn, die nur daran interessiert sind, daß die Kinder arbeiten, Geld verdienen und in der Türkei ihr Geld investieren. Sie können politisch so etwas nicht verhindern, wenn die Eltern das nicht tun. In der Türkei haben wir genug Probleme in diesem Sinne, während es in Deutschland noch immer minimal ist. Aber man muß wiederum versuchen, das Beste zu tun, so viel zu retten wie wir können.

Glück:

Ich möchte noch etwas zur Frage Gewalt, Kriminalität sagen. Ich möchte da jedenfalls nicht mißverstanden werden: ich sehe schon mal gar keinen Zusammenhang zwischen Islam und Gewalt, damit das klar ist. Etwas anderes ist es, wenn es um Islamismus als politische Bewegung geht - das ist aber in Deutschland nicht das Problem. Ich würde auch nie die Gleichung setzen: Türken und besonderes Sicherheitsproblem. Ein Problem haben wir allerdings bei türkischen

[Seite der Druckausg.: 47 ]

Jugendlichen, denen der Anschluß nicht mehr gelingt, etwa in der Schule oder in der Arbeitswelt. Und da entsteht das soziale Problem, da entstehen die Außenseiterlaufbahnen. Da entstehen zum Teil eben fatale Biographien, meinetwegen daß 50 Prozent der jungen Männer sich die junge Frau aus der Türkei holen. Sie kann nicht Deutsch, zu Hause wird nicht deutsch gesprochen, in der Schule wird sie nicht unterstützt. Da besteht die Gefahr, daß Außenseiterlaufbahnen programmiert werden und daraus entsteht unter Umständen natürlich auch ein Sicherheitsproblem.

Die Frage, die mich seit längerem bewegt, ist: einmal, wie finden wir den Zugang zu der Nationalität, zu der Volksgruppe? Wo gibt es Menschen und Gruppen, mit denen wir uns verbünden könnten, damit wir mehr erreichen innerhalb dieser Volksgruppe und damit auch erfolgversprechende Strategien entwickelt werden können? Das kann nicht von außen her geschehen, wenn nicht aus der Volksgruppe heraus entsprechende Kräfte da sind. Denn das kommt mir sonst so ähnlich vor, wie wenn meinetwegen die Deutschen entscheiden, wie islamischer Religionsunterricht aussehen soll - etwas, worauf sich die verschiedenen Strömungen im Islam nicht verständigen können. Und es gibt ja auch in der Weise keine verfaßte Kirche, wie etwa die evangelische oder katholische Kirche. Und wenn wir der Meinung sind, daß dann die Deutschen entscheiden können, wie der Inhalt aussieht, das halte ich für absurd. Probleme, die nicht im inneren Gärungsprozeß gelöst sind, können wir nicht von außen lösen.

Bagci:

Das Problem haben wir auch in der Türkei.

Glück:

Ja, natürlich. Aber deswegen halte ich auch nichts davon, daß wir Deutschen jetzt einen Islamunterricht einführen und wir dann definieren, was authentischer Unterricht wäre. Aber es gilt ja auch für andere Fragen: Wir werden mehr Motivation und positive Entwicklung in der Volksgruppe nur auslösen können, wenn wir

[Seite der Druckausg.: 48 ]

Verbündete finden. Wenn wir an die Leute hinreden, sind wir viel zu fremd, als daß wir sie erreichen. Und ich weiß nicht, ob es diese Kräfte gibt. Es gibt natürlich welche, aber ob es sie in ausreichender Zahl gibt, und wie kommen wir an die Eltern ran, usw.

John:

Also ich glaube seit vielen Jahren, daß wir unbedingt die türkischen Eigeninstitutionen nutzen sollten; auch die Moscheen selbstverständlich, auch die gehören zu den türkischen Eigenorganisationen. Und auch da sollte man Deutschunterricht anbieten. Die Volkshochschule sollte sagen: an bestimmten Tagen machen wir hier einen Kurs für die Männer oder für die Frauen. Also das ist ja möglich. Man würde auch aufgenommen werden von den Türken. Die Eigenorganisationen sollten auch gerade bei straffälligen Jugendlichen miteinbezogen werden, denn natürlich gibt es sie. Es ist alles richtig, auch die Prozentsätze, sie liegen etwa drei bis fünf Prozentpunkte über denen der deutschen Jugendlichen. Nur bei den deutschen Jugendlichen messen wir die ganze Breite des gesellschaftlichen Spektrums, also der Sohn des Bundestags-abgeordneten und des Professors neben dem Hilfsarbeiter. Aber das ist bei der türkischen Gesellschaft nicht so. Da haben wir ein Segment, ein unnatürliches Segment herausgeschnitten aus der breiten türkischen Gesellschaft, die nach Deutschland gekommen ist. Und wenn wir das mit der entsprechenden deutschen Schicht vergleichen, dann ist die Kriminalität dieselbe. Dann gibt es keinen Unterschied.

Glück:

So ist es, aber damit ist kein Problem gelöst.

John:

Nein. Es wäre aber schlimm den Eindruck zu erwecken, als wären sie nur deshalb kriminell, weil sie Türken sind. Das ist natürlich Unsinn, aber so kommt es rüber und so wird es ja oft auch stimmungsmäßig verkauft.

[Seite der Druckausg.: 49 ]

Klose:

Da sind wir nochmals beim entscheidenden Punkt: Wir haben einen bestimmten Ausschnitt der türkischen Gesellschaft hier und einen bestimmten haben wir nicht. Und ich glaube, das spielt eine ganz große Rolle. Vorhin ist das Wort Würde gefallen. Das ist mir zu hoch, das benutze ich nicht. Ich benutze auch das Wort Toleranz nicht mehr. Aber diese Menschen haben, aus welchem Segment sie immer kommen, einen Anspruch auf Respekt. Was aber veranlaßt die deutsche Gesellschaft, sie zu respektieren? Was könnte sie veranlassen?

John:

Da haben wir doch gute Modelle. Der Beginn der Zuwanderung war die Aufnahme einer Arbeit. Menschen, die ihren Lebensunterhalt aus eigener Erwerbstätigkeit bestreiten, werden gerade in Deutschland respektiert, weil sie entweder Selbständige sind oder sie sind Arbeiter. Und das funktioniert eben nicht mehr, das hat abgenommen. Jeder dritte Türke ist ohne Arbeit, bei den Jugendlichen liegt die Arbeitslosigkeit weit über 20 Prozent, ist also doppelt so hoch wie bei den deutschen Jugendlichen. Hier müssen wir ansetzen. Und dann kommen natürlich die ganzen Fragen, wie hohe Ersatzleistungen, hohe Transferleistungen. "Warum", sagen mir arbeitslose Türken, "sollte ich den schlechter bezahlten Job annehmen, wenn ich da arbeitslos werde, kriege ich weniger Arbeitslosenunterstützung?" Es tauchen alle Probleme auf, die wir natürlich auch bei den Deutschen haben, und die auch nichts mit der Nationalität und mit der Ethnie zu tun haben. Sie wirken sich nur verschärft bei dieser Gruppe aus, weil sie stärker in diese Arbeitslosigkeit abgerutscht ist. Und da sind wir eben als Zuwanderungsland für diese Bevölkerungsgruppe nicht sehr geeignet. Und entweder wir ändern den Arbeitsmarkt, um dieser Gruppe eine Chance zu geben, oder wir lassen die Gruppe nicht mehr herkommen, was ja gar nicht geht, denn es kommen ja nur noch Familienangehörige. Also müssen wir etwas im System ändern.

[Seite der Druckausg.: 50 ]

Glück:

Man schafft es ja nicht für die Deutschen Arbeit zu schaffen, und eben schon gar nicht für diese Gruppe mit Handicaps am Arbeitsmarkt. Es ist doch nicht so, daß die Politik nur schnell einen Hebel ziehen müßte und dann sei das lösbar.

John:

Gewissermaßen schon.

Okkan:

Bei dieser Ratlosigkeit muß ich doch nochmals auf einige Perspektiven hinweisen. Wir müssen dort ansetzen, wo wir die Realitäten sehen, sie anerkennen und dann sagen "wir müssen daraus Konsequenzen ziehen". Von daher fand ich das, was Herr Glück gesagt hat, sehr wichtig. Und ich stimme Ihnen zu, daß man z.B. diejenigen respektiert, die sagen "wir leben und arbeiten hier, aber ansonsten wollen wir in unserem nationalen, religiösen Verbund bleiben". Ich meine allerdings, daß das für uns nicht die Ausrede sein darf, um alles beim Alten zu lassen und uns nicht um die integrationsfähige Gruppe zu bemühen. Und ich meine immer noch, das ist eine Vielzahl von denjenigen, die heute in diesen Parallelgesellschaften leben, sei es bei den religiösen, sei es bei den nationalistischen Gruppierungen, von denen es eine Menge gibt. Das wissen wir, das wissen Sie viel besser als ich. Es gibt entsprechende Berichte des Verfassungsschutzes. Ich meine, daß sehr viele von ihnen sehr wohl integrationsbereit und integrationsfähig wären, wenn wir sie erreichen könnten. Wir dürfen einen Fehler nicht machen: Wir dürfen nicht sagen, wir kennen den Islam ja nicht. Und es gibt im Islam, das kommt sehr erschwerend hinzu, keinen Klerus in dem Sinne, also keine zentralen Institutionen. Nicht mal einen Papst haben wir, also das ist wirklich das letzte. Aber andererseits, und das muß einer der Grundsätze der neuen Politik sein, müssen wir diese Probleme hier lösen, in Deutschland. Wir können nicht sagen: Die müssen sich zunächst mal einig werden, was der Islam bedeutet und wie wir den

[Seite der Druckausg.: 51 ]

Islamunterricht gestalten. Nein, das ist die Länderhoheit hier. Genauso wie den muttersprachlichen Unterricht, den wir auch von Grund auf neu aufziehen müßten, müssen wir genauso ganz schnell und ganz gründlich mit Wissenschaftlern, mit Vertretern der islamischen Gruppen einen Unterricht entwerfen. Mit den islamischen Gruppen bringt es zwar nicht viel, das wissen wir alle, denn jede ist fast eine Sekte, außer diese staatlich unterstützte Vereinigung der Religionsanstalt. Aber trotzdem sollte man sie einbeziehen und sie kommen lassen und ihre Vorschläge natürlich ernst nehmen. Nur: wir müssen das hier tun und hier lösen. Der Islamunterricht ist zwar nicht durch Reichskonkordat vorgeschrieben, aber ist eine Tatsache, die wir heute umsetzen müssen. Der sehr gut gemeinte Respekt vor denjenigen, die in ihrem eigenen Süppchen weiterschmoren wollen, darf uns nicht zu dem Fehler verleiten, daß wir dann sagen, wir haben keine Lösung.

Glück:

Glauben Sie, daß die Eltern, denen die Erziehung oder die Unterrichtung der Kinder im Islam etwas bedeutet, es akzeptieren, wenn die Deutschen definieren, welche Art von Islamunterricht sie bekommen ?

Okkan:

Wenn das gut und gründlich definiert ist, glaube ich, daß sie das akzeptieren werden. Ich könnte Ihnen noch viel mehr nennen, was sie bereit wären zu akzeptieren, wenn man das wirklich in der richtigen Art tut und vor ihren Einstellungen, vor ihren Vorstellungen den nötigen Respekt hat.

Ich möchte noch etwas anderes erwähnen, um das kollektive Verdrängen deutlich zu machen. Ich gehe davon aus, daß wir alle gute Ansätze haben, auch die neue Regierung. Man muß sich allein mal vergegenwärtigen, in welchen Ländern in diesem Europa das kommunale Wahlrecht für Ausländer wann und wie eingeführt wurde. Wenn man sich das mal vergegenwärtigt und dann feststellt, daß in

[Seite der Druckausg.: 52 ]

dem Land, in dem die meisten Ausländer wohnen, dieses Recht für weite Teile dieser Ausländer immer noch nicht gültig ist, dann versteht man wie diese dialektische Verbindung zwischen der Integrationsbereitschaft einerseits und Empfänger andererseits funktioniert. Allein diese Sache wäre wirklich wichtig.

Klose:

Ich glaube, es gibt eine natürliche Gruppe, auf die man zugehen könnte. Das sind meine ganz praktischen Erfahrungen mit der Wahlkreisarbeit. Diejenigen Kinder, die in die deutschen Gymnasien oder auch Gesamtschulen gehen und anfangen, sehr distanziert über sich und über die sie umgebende Gesellschaft, die deutsche und die türkische, nachzudenken. Sie sind ein Hoffnungspunkt, sie könnte man pflegen. Wenn ich viel Zeit hätte - was ich leider nicht habe -, müßte ich jede Woche in meinem Wahlkreis einen Tag machen, an dem ich mich ausschließlich um solche Kinder kümmere. Ich schaffe das leider nicht. Das bringt was. Die sind ansprechbereit und die sind auch bereit zu erkennen, daß sie sozusagen Mitverantwortung haben für das, was mit ihnen und ihren türkischen Landsleuten geschieht. Aber das ist eine Graswurzel-Strategie, und die ist ungeheuer mühsam.

Andres:

Ich habe die ganze Zeit mit der Diskussion das Problem, daß Einzelbeispiele benutzt werden oder bestimmte Symptome, und daraus generelle Rückschlüsse gezogen werden. Wenn man sich die Situation genauer anschaut, dann liegt das Problem häufig in der Mitte.

Woran liegt es eigentlich, wenn sich junge Türken zurückziehen in bestimmte Nischen? Sie machen eine türkische Disco auf und gehen dahin, weil sie sozusagen in anderen Discos diskriminiert werden. Hinzukommt: Aus der Situation, zwei Identitäten zu haben, entwickeln sich hier neue kulturelle Modelle, die dann auch in der Türkei reüssieren. Dort werden sie als die großen Stars gefeiert und

[Seite der Druckausg.: 53 ]

hier in der deutschen Gesellschaft sind sie praktisch überhaupt nicht bekannt, es sei denn, "Die Zeit" macht eine Sondernummer darüber, oder die "Süddeutsche Zeitung" berichtet oder sonst wer.

Wir wissen, daß der Rückzug auf die eigene Religion oder die eigene Ethnie auch etwas damit zu tun hat, daß ich in der Gesellschaft keine Anerkennung finde. Dann ziehe ich mich auf sie zurück, um mir dort die Anerkennung zu schaffen.

Jörg Lange hat vorhin mal gesagt, ich sähe das alles ganz entspannt. Ich würde das gerne mal rumdrehen. Ulrich Klose hat gesagt, "wenn ich mir das anschaue, dann habe ich in sechs, sieben, acht Jahren in meinem Stadtteil Wilhemsburg Schulklassen, in denen die Kinder türkischer Abstammung die absolute Mehrheit haben."

Klose:

Haben wir heute schon.

Andres:

Haben sie heute schon, gut. Daraus muß der Rückschluß gezogen werden, daß ich mit speziellen Bildungsangeboten und mit bestimmten Positionen mit diesen Jugendlichen umgehe. Wenn ich mich umschaue, fängt es ja sozusagen in der Kindergartenversorgung an. In meinen Stadtteilen, wenn ich mir die Kindergärten anschaue, egal, ob städtisch oder sonst was, wie hoch ist da eigentlich die Quote türkischer Kinder, die in diese Kindergärten geht? Da gibt es schon ein Verhalten, sich ein Stück weit auf die Familie zurückzuziehen mit entsprechenden Auswirkungen für die Einschulung. Und dann kommen viele dieser Probleme.

Der zweite Punkt ist die Aussage, es gäbe keine Bereitschaft mehr, die deutsche Sprache zu lernen oder sich zu integrieren. Auch da würde ich gerne sortieren. Wenn ich in einer Situation bin, in der es überhaupt keine Notwendigkeit mehr gibt, die deutsche Sprache zu lernen, weil ich mit allen gesellschaftlichen Infrastrukturen bedient

[Seite der Druckausg.: 54 ]

werde. Zum Beispiel bei der Familienzusammenführung oder Heirat: Da ist angefangen bei der Moschee über die Frauengruppe, über das Bildungsangebot, über die rechtliche Beratung - für alles ist die andere Infrastruktur da und es gibt eine andere Problemlage als bei denjenigen Türken, die hier geboren sind und hier aufwachsen.

Und der dritte Punkt: Es werden immer solche Stichworte genannt. Selbstverständlich ist das so, daß natürlich am Arbeitsmarkt diejenigen die größten Probleme haben, die die geringsten Qualifikationen aufweisen. Und wenn es mehr türkische Jugendliche gibt, die in die Sonderschule gehen oder die Hauptschulabschluß haben oder die sogar keinen haben, dann ist der Ablauf schon programmiert. Also muß man da in einer anderen Art und Weise ansetzen. Dann muß man - auch was Qualifikationsmöglichkeiten nach dem allgemeinbildenden Schulsystem betrifft - spezielle Angebote machen - auch durch die Gesellschaft.

Der vierte Punkt ist - das hat die Ausländerbeauftragte der Bundesregierung, Frau Schmalz-Jacobsen, lange Jahre in ihren Berichten so geschrieben: Es gibt bestimmte Anforderungen der Mehrheitsgesellschaft an die Minderheitsgesellschaft, die man auch artikulieren und einfordern muß. Aber auf der anderen Seite gehören dazu auch entsprechende Angebote. Wenn die Mehrheitsgesellschaft keine Angebote macht und nichts entwickelt und keine Chancen und Möglichkeiten gibt, darf man sich auf der anderen Seite nicht darüber beklagen, daß es Defizite bei der Erfüllung der Anforderungen gibt. Deswegen bin ich der Meinung, daß man Schritte und Maßnahmen entwickeln muß, auf ganz unterschiedlichen Ebenen, die Länder genauso wie der Bund. Das hat etwas zu tun mit Benachteiligtenprogrammen, mit Arbeitsmarktförderung und ähnlichen Dingen mehr. Es stimmt, daß die türkische Gruppe die höchste Arbeitslosigkeit hat - interessanterweise unmittelbar gefolgt von der italienischen Bevölkerungsgruppe.

Die deutsche Gesellschaft kann unglaublich viel tun. Ich will das auf einen zusätzlichen Punkt bringen, an dem ich möglicherweise mit Uli Klose oder anderen Streit bekomme: Wir sollten relativ massiv

[Seite der Druckausg.: 55 ]

Einbürgerungskampagnen starten. Es gibt ganz viele, die die Kriterien für Einbürgerung längst erfüllen, es nur über viele Jahre aus ganz unterschiedlichen Gründen nicht gemacht haben. Mit dem zweiten Teil der Änderung des Staatsangehörigenrechts bei denen, die hier geboren sind, haben wir ja außerdem eine Verbesserung der Situation durch die Position, optionieren zu müssen. Ich beziehe das jetzt nochmals auf die "entspannte Haltung": Man kann sich das überall in europäischen Ländern angucken. Wo es ein Wahlrecht gibt, gleicht sich das Wahlverhalten der Migranten ganz schnell an das Wahlverhalten der Stammbevölkerung an. Wo die Gesellschaften bestimmte Chancen und Möglichkeiten geschaffen haben, sich leichter einbürgern zu lassen, gelingt die Integration in die Gesellschaft relativ deutlicher. Und das, was Du geschildert hast, Uli (Klose): In den Banlieus hast Du das Problem wegen aller Bewohner. Daß da ein extrem hoher Anteil von Zuwanderern ist, ist klar. Aber mit der vergleichbaren französischen Bevölkerung hast Du die gleichen Probleme: Sie sind sozial definiert und nicht von der Abstammung abhängig. Daß sich soziale Probleme ethnisch verschärfen und das Merkmale sind zur Ausgrenzung, ist auch klar. Also muß man etwas gegen die sozialen Ausgrenzungstendenzen unternehmen, gesamtgesellschaftlich. Und das mit den Bildungs-ansätzen: Das betrifft doch die gering qualifizierte deutsche Familie oder die Eltern, die keinerlei Interesse an Bildungsgängen haben ebenso. Da sind die Kinder in der gleichen Situation wie die Kinder der türkischen Zuwandererfamilien.

Klose:

Ich streite mich mit Dir gar nicht. Ich glaube auch, daß Einbürgerungskampagnen gut und richtig wären. Ich würde aber noch zwei Punkte hinzufügen - einen symbolischen und einen tatsächlichen: Wir sollten, was diesen Einbürgerungsvorgang angeht, von den Amerikanern was lernen. Es darf nicht so ein beliebiger Verwaltungsakt sein, sondern es muß verbunden werden mit einem wie auch immer gestalteten Ritus, so daß denen, die diesen Schritt auch gehen, bewußt wird, daß sie eine Entscheidung treffen und daß Staatsbürgerschaft nichts Beliebiges ist.

[Seite der Druckausg.: 56 ]

Der zweite Punkt ist: Wenn wir diese Menschen einbürgern, müssen wir für diese Gruppe spezielle Förderprogramme entwickeln, so daß man sieht: Es lohnt sich auch. Dann würden wir gleichzeitig ein Anreizsystem schaffen, was als Beispiel wirken könnte.

John:

Und für den benachteiligten Inländer?

Andres:

Diesen Hinweis, man müsse für alle was machen, kann ich nicht akzeptieren. Wir haben hier ein spezielles Problem und darauf sollten wir reagieren.

John:

Ein Türke, der keine Arbeit hat, wird gar nicht eingebürgert. Er muß seinen Lebensunterhalt aus einer Erwerbstätigkeit bestreiten - und zweitens halte ich es in der Tat für falsch, Gleiches ungleich zu behandeln. Das spaltet eine Gesellschaft. Ich wüßte auch gar nicht warum man das tun sollte. Jemandem die deutsche Staatsbürgerschaft zu geben, ist ja bereits ein Anreiz. Es ist eine der besten Staatsbürgerschaften, die es hier in Europa zu verteilen gibt. Sonderbehandlung und Privilegierung sollten wir uns sparen. Wir sollten die Pädagogik für Kinder und Jugendliche verbessern, damit sie sich auf dem schwierigen und umkämpften Arbeitsmarkt behaupten können - das können nämlich sehr viele ausländische Jugendliche nicht.

Bagci:

Erstmal müssen wir die Realität anerkennen, daß diese Türken ein Teil Deutschlands sind, wirtschaftlich, politisch, sozial und psychologisch. Das amerikanische Beispiel ist interessant, nur: Die deutschen Regierungen haben in der Vergangenheit Fehler gemacht, weil sie - wie Herr Okkan bereits gesagt hat - von der Annahme ausgegangen sind, daß Deutschland kein Einwanderungsland ist. Ich

[Seite der Druckausg.: 57 ]

erinnere mich ganz genau, daß Hans-Dietrich Genscher das jahrelang gesagt hatte. Die Amerikaner und die Deutschen haben kein Imperium gehabt, deswegen ist die Einwanderungssituation dort etwas Spezielles. In Frankreich und in England haben wir total andere Verhältnisse - das haben wir ja diskutiert. Die Deutschen im besonderen müssen jetzt innerhalb der Europäischen Union eine gemeinsame Politik mit den anderen Ländern entwickeln, damit wir eine gemeinsame Ausländerpolitik innerhalb der EU haben. In Schweden, in Finnland, in Holland, haben wir eine unterschiedliche Politik, was insbesondere die Kommunalwahlen angeht. In Schweden können sie zum Bürgermeister gewählt werden. Die Deutschen sind da ein bißchen konservativer. Aber das ist ein Problem für die Zukunft, das kann man sowieso nur auf lange Sicht harmonisieren. Die Frage ist nicht nur, was Europa machen kann, sondern auch was wir, die Türken, die Türkei machen können. Ich bleibe weiterhin dabei, daß wir genauso die Verantwortung haben für die Integration. Wir können und wir sollten daran arbeiten. Wir haben nicht genug gearbeitet. Wir haben 25 000 Leute hier, die an den deutschen Universitäten studieren. Wir haben in der Türkei englischsprachige Universitäten, französichsprachige, aber keine deutschsprachigen. Jetzt gibt es ein Versuch eine deutsche Universität zu gründen, wo auf Deutsch unterrichtet wird. Hoffentlich wird das der Fall sein. Aber auch wenn es nicht der Fall sein sollte: Wenn wir von 25 000 türkischen Studenten nur 20 Prozent in die Türkei bringen würden, die Intellektuellen, die eine deutsche Ausbildung erhalten haben, dann hätten wir ein anderes Türkeibild. Da können wir zusammenarbeiten. Besonders aus türkischer Sicht haben wir die Verantwortung, die deutsche Bevölkerung, die deutsche Gesellschaft zu informieren. Jedes Semester bringe ich mindestens drei deutsche Wissenschaftler zu meiner Universität, sechs pro Jahr. Und die haben direkten Kontakt mit meinen Studenten. Und wenn die zurückgehen, dann haben sie ein anderes Türkeibild.

Wenn man sagt, daß die Türkei keine Probleme hat, dann ist das falsch. Wir haben sehr viel mehr Probleme als viele europäische Staaten. Das Problem ist: wir leben hier und wir werden zusammenleben, aber wir haben nicht unsere Hausaufgaben gemacht.

[Seite der Druckausg.: 58 ]

Nach meiner Meinung sind Brüssel und Ankara, und auch Bonn und Ankara, einfach "durchgefallen" in dieser Politik.

Die neue Regierung in Deutschland unter Schröder hat in der Türkei eine neue Atmosphäre, eine neue Luft geschaffen, die sehr positiv ist. Die türkische Regierung ist auch interessiert, die Beziehungen wieder aufzunehmen. Die Frage ist: Wer macht den ersten Schritt? Meiner Meinung nach sollte Deutschland dieses Mal den ersten Schritt machen, wenn es auch einseitig ist.

Koydl:

Welchen Schritt bitte ?

Bagci:

Dialog. Mehr Dialog. Es geht nicht um Geld. Wir haben in der Türkei in den 80er Jahren mit den Deutschen - das wissen Sie sicherlich besser - so gute Programme zusammen entwickelt. Aber jetzt ist das nicht mehr der Fall. Die Franzosen, die Briten, die Amerikaner, die arbeiten viel, viel besser in der Türkei. Ich weiß nicht, warum die Deutschen zuletzt diese Politik betrieben haben. Vielleicht ist der Grund, daß sie die Türkei immer mit den Leuten verglichen haben, die sie hier sehen. Das ist kein richtiges Türkeibild, das wir hier haben, sondern ein falsches. Man sollte vielleicht einen neuen Beginn machen. Die Gesellschaften sind vergeßlich, wie wir wissen. Was Mesut Yilmaz gesagt hat oder was Helmut Kohl gesagt hat, kann die Geschichte revidieren. Worte werden gesprochen und gehen in die Geschichtsbücher ein. Aber die Frage ist, wie wir jetzt aus dieser Lage, die beide Seiten als Problem betrachten, rauskommen können und wie beide dabei den gesellschaftlichen und politischen Schaden auf ein Minimum begrenzen können. Wir haben jetzt mehr Verantwortung als in früheren Zeiten. Deswegen finde ich diese Diskussion zumindest aus dieser Sicht nützlich. Nicht nur die Probleme festzustellen, sondern einen Neubeginn zu machen unter den gegebenen Umständen. Es wird der deutschen Seite vielleicht schwer fallen, aber Deutschland hat so viele Jahre als Advokat der

[Seite der Druckausg.: 59 ]

Türken in der europäischen Politik gedient, wenn ich an die 70er und 80 er Jahre denke. Warum nicht auch im Jahr 2000 und danach?

Andres:

Wenn ich das richtig verstanden habe, hat der Bundeskanzler ja anläßlich des Kölner EU-Gipfels den Versuch unternommen, wieder ein paar Positionen zu öffnen - unabhängig davon, wie man sie im einzelnen einschätzt. Ich bin übrigens der festen Überzeugung, daß die Sicht der Türkei, die Frage Luxemburg - das sage ich jetzt mal zur Ehrenrettung von Helmut Kohl - sei nur ein deutsches Problem gewesen und an irgendwelchen Äußerungen von Helmut Kohl festzumachen, nicht stimmt. Da kommen wir in eine ganz komplizierte Diskussion zu dem Verhältnis Europa und Türkei, zu den innertürkischen Prozessen und ähnlichem.

Ich will noch auf ein ganz anderes Thema kommen, weil Frau John gerade ein Beispiel genannt hat. Wenn ich mir die Zuwanderungsreihen anschaue, dann muß man zur Kenntnis nehmen, daß es aus der Türkei einen relativ starken Migrationsdruck gibt. Und zwar überwiegend nach Deutschland. Das Problem mit dem Einwanderungsland in der politischen Debatte ist für meine Begriffe, daß die alte Regierung - und ein Stück weit auch davor, ich will das nicht nur der alten Regierung in die Schuhe schieben - den Tatbestand verweigert hat, daß Deutschland schon seit vielen Jahren ein Einwanderungsland ist und daß man in einer anderen Art und Weise mit den Zuwanderern umgehen muß. Aber ein anderes Problem ist: wie organisiert man weitere Zuwanderung? Und ist es in der Tat so, daß wir mögliche Zuwanderungserwartung oder einen möglichen Zuwanderungsdruck auf Dauer so hinnehmen können oder ob wir das nicht können? Da stecken spannende politische Fragen drin, die auch etwas zu tun haben mit dem, was Frau John vorhin gesagt hat - Gewerbeerlaubnis, usw. Da läßt sich dann gelassen über Arbeitsmarktpolitik diskutieren, wenn man nicht in der Lage ist, Zuwanderung auch in einer bestimmten Art und Weise zu steuern.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Juli 2000

Previous Page TOC Next Page