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Nürnberg, Gerhard (1913 - 1975)

Geboren am 27. März 1913 in Berlin als Sohn des früheren Transportarbeiters und späteren Gewerkschaftsangestellten Richard Nürnberg, verheiratet. Besuch der Volksschule und des Sophien-Realgymnasiums in Berlin, legte im September 1931 sein Abitur ab. Arbeitete von November 1931 bis Mai 1933 zunächst als Volontär, später als hauptamtlicher Angestellter bei der Allgemeinen Ortskrankenkasse für den Stadtkreis Rathenow (Havel). Besuch von Fach- und Ausbildungslehrgängen; drei Monate zur Weiterbildung zum Hauptverband deutscher Krankenkassen nach Berlin-Charlottenburg abgeordnet. Seit 1927 Mitglied der Sozialistischen Arbeiterjugend (SAJ); seit 1931 Mitglied der SPD und des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold. Von Beginn seiner beruflichen Tätigkeit an Mitglied im "Zentralverband der Angestellten" (ZDA). Der junge Nürnberg war im Vorstand der ZdA-Jugendgruppe Rathenow aktiv. 1927 bis 1931 längere Aufenthalte mit SAJ-Gesinnungsfreunden in England. Beherrschte die englische Sprache perfekt in Wort und Schrift. 1933 auf Grund des sogenannten Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums entlassen, verhaftet und ins Konzentrationslager Oranienburg verbracht. Im Sommer 1933 entlassen, bis Oktober 1934 arbeitslos. Nürnberg fand im November 1934 zunächst als Volontär, dann als kaufmännischer Angestellter (Sachbearbeiter für Verkauf und Leiter der Expedition) in einem Schwesterunternehmen des Luis-Leitz-Konzerns in Berlin-Neukölln eine Anstellung. Ab Mai 1937 bis zum Sommer 1938 Expedient in einer Fabrik für Kohle- und Durchschriftpapier. Im Sommer 1938 beruflicher Wechsel zur Firma Texsope; war zunächst in der Maschinenfabrik für Vertreterverträge und Werbefragen zuständig. Im Februar 1940 wurde Gerhard Nürnberg eingezogen; geriet im Jahr [1944] in amerikanische Kriegsgefangenschaft; später in ein britisches Gefangenenlager überführt.

Im Januar 1946 aus der Kriegsgefangenschaft entlassen. Ab Februar 1946 Angestellter der Industriegewerkschaft Nr. 14 (Öffentliche Betriebe und Verwaltungen) beim FDGB Groß-Berlin. Im Oktober 1946 zum 2. Vorsitzenden der Industriegewerkschaft Nr. 14 gewählt. Sofort nach Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft Mitglied der SPD; lehnte die Verschmelzung von KPD und SPD zur SED kategorisch ab. Betätigte sich innerhalb der SPD Groß-Berlins innerhalb der Gewerkschaftskommission und vertrat dort die Linie der Unabhängigen Gewerkschaftsorganisation (UGO). Sein Verband hatte für Groß-Berlin 102.611 Mitglieder erfaßt, davon 51.752 in den drei Westzonen. Die Mehrzahl der Mitglieder stand in Berlin in Opposition zum FDGB. Nürnberg weigerte sich, im Mai 1948 die undemokratische Wahl des Berliner FDGB-Vorstandes hinzunehmen, in der er auf Grund der Delegation des Gesamtverbandes als UGO-Anhänger noch entsandt wurde. Versagte die Unterschrift unter eine Blankovollmacht, die künftige FDGB-Politik vorbehaltlos hinzunehmen. Im Mai 1948 vom FDGB fristlos entlassen. Delegierter auf der Gründungskonferenz des "Gesamtverbandes der öffentlichen Betriebe und Verwaltungen" am 29. Juni 1948; hielt auf dem Gründungskongreß das programmatische Referat. Zunächst als hauptamtlicher Sekretär des Gesamtverbandes angestellt. Teilnehmer auf der Trizonen-Konferenz der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (Britische Zone) am 23. Oktober 1948 in Bad Salzuflen.

Am 16. Januar 1949 auf dem 1. Verbandstag zum Vorsitzenden der Gesamtorganisation gewählt, die sich nach Übertritt oppositioneller Transportarbeiter "Gesamtverband der öffentlichen Betriebe und Verwaltungen sowie des Transports Groß-Berlin" nannte. Nürnberg verlegte im Herbst 1948 aus Furcht vor Repressalien seinen Wohnsitz vom Ost- in den Westteil der Stadt. Trat 1949 eine dreimonatige Amerika-Reise auf Einladung des amerikanischen Arbeitsministeriums an. Mitglied des UGO-Bundesvorstandes. Als Delegierter der UGO Mitglied der deutschen Delegation auf dem Gründungskongreß des Internationalen Bundes Freier Gewerkschaften vom 28. November bis 9. Dezember 1949 In London. 251 Berliner Delegierte des Gesamtverbandes, die 42.000 Mitglieder repräsentierten, entschieden sich auf einer Konferenz vom 29. Juni bis 1. Juli 1950 für einen Anschluß an die Gewerkschaft ÖTV als 11. Bezirk zum 1. Juli 1950. In den geschäftsführenden Vorstand der ÖTV entsandten die Delegierten Gerhard Nürnberg. Diesen Beschluß sanktionierte der Gewerkschaftsbeirat der ÖTV auf seiner Berliner Paralleltagung. Nürnberg ersetze Karl Müller, der im März 1950 sein Amt zur Verfügung gestellt hatte.

Im geschäftsführenden Hauptvorstand zuständig für Werbung, Statistik, Archiv (Sekretariat XII). Das Sekretariat nahm im August 1950 seine Tätigkeit auf, nachdem der organisatorische Aufbau der Gewerkschaft ÖTV auf Bundesebene einen gewissen Abschluß gefunden hatte. Zu Nürnbergs Aufgabenbereich gehörte die Statistik über die Mitgliederbewegung nach Bezirken, in Hauptfachabteilungen, die Altersklassenbewegung, die Statistik für den DGB, die Statistik über die Versammlungstätigkeit sowie die Lohn- und Preisstatistik. In Abgrenzung zum Chefredakteur zeichnete Nürnberg verantwortlich für die Prospekt- und Plakatwerbung. Auf dem 1. Gewerkschaftstag der Gewerkschaft ÖTV vom 18. bis 22. Februar 1952 in Hamburg gab Nürnberg für den erkrankten Redakteur den Rechenschaftsbericht über die ÖTV-Presse. Einstimmig zum Sekretär in den geschäftsführenden Hauptvorstand gewählt. Mit seinen starken historischen Interessen und Neigungen, mit seiner intimen Kenntnis der Gewerkschaftsbewegung des öffentlichen Dienstes begründete Nürnberg in vielen Artikeln und Reden die Notwendigkeit der Einheitsgewerkschaft. Unangefochtene Wiederwahl auf den Gewerkschaftstagen in Frankfurt am Main im Mai 1955 und in München im Juni 1958. Seit 1955 weiterhin zuständig für die Verlagsanstalt Courier und die Hausdruckerei. Einer der beiden Geschäftsführer der neubegründeten Verlagsanstalt, für deren ausreichende Austattung mit einem angemessenen Stammkapital er stritt. Auf der Beiratstagung am 25. und 26. April 1957 in München in eine Studienkommission gewählt, die den organisatorischen Aufbau der Gewerkschaft ÖTV überprüfen sollte. Innerorganisatorisch gehörte die Schaffung der "Eilnachrichten" Mitte der fünfziger Jahre zu Nürnbergs wichtigsten Innovationen.

Der Berliner gehörte früh zu den Mahnern, die darauf hinwiesen, "daß die moderne, deutsche Gewerkschaftsbewegung, die sich der nationalökonomischen und historischen Wissenschaft als Bundesgenosse bedient, es sich nicht erlauben kann, etwa auf die Erkenntnisse und Erfahrungen der Sozialwissenschaften zu verzichten". Seit der Einrichtung der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (seit 1969: Bundesanstalt für Arbeit) im Jahre 1952 Mitglied im Vorstand des Selbstverwaltungsorgans. Wechselte 1956 in den Verwaltungsrat über. Seit 1. April 1965 in jährlich wechselndem Turnus Vorsitzender, bzw. stellvertretender Vorsitzender des Verwaltungsrates. Nürnberg unterstützte maßgeblich die Einrichtung des "Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung", mit deren Einführung die Bundesanstalt in Westeuropa Neuland betrat. Zu Nürnbergs Arbeitsschwerpunkten zählte die innerbetriebliche Rationalisierung der Selbstverwaltung im großen Ausmaß, wie die Schaffung eines Rechenzentrums für die Berechnung der Arbeitslosenunterstützung. In die Vorsitzendenzeit von Nürnberg fielen entscheidende rechtspolitische Entwicklungen, so vor allem 1969 das Arbeitsförderungsgesetz und die bezirkliche Neugliederung der Bundesanstalt. Neben der Gewerkschaftsarbeit war sein Engagement in der Bundesanstalt gesellschaftspolitisch sein "zweites Standbein". Wie die gesamte "alte Garde" der Vorstandsvertreter mußte Nürnberg auf dem 4. Gewerkschaftstag der ÖTV vom 25. Juni bis 1. Juli 1961 in Berlin deutliche Stimmenverluste bei den Vorstandswahlen hinnehmen. Mit 250 von 486 abgegebenen Stimmen wieder in den Vorstand gewählt. Nürnberg gehörte zu den wenigen, führenden, deutschen Gewerkschaftsfunktionären, die in Wort und Schrift die Notwendigkeit umfassender Freiheitsrechte für die Gewerkschaften im demokratischen Staat theoretisch umfassend begründete. Wandte sich früh zu Beginn der sechziger Jahre gegen maoistische Visionen einer totalitär-egalitären Gesellschaft. Am 19. November 1962 vom geschäftsführenden Hauptvorstand in den Ausschuß für Organisation beim DGB-Bundesvorstand delegiert.

Nach erfolgter Wiederwahl auf dem 5.ordentlichen Gewerkschaftstag vom 28. Juni bis 4. Juli 1964 in Dortmund mit der höchsten Stimmenzahl aller Beisitzer gewählt. In der neuen Arbeits- und Organisationsstruktur - mit zahlreichen neugebildeten Kommissionen - nahm Nürnberg weitere Aufgaben war: Auf der 1. Sitzung des Hauptvorstandes vom 29. September bis 1. Oktober 1964 in Berlin zum Vorsitzenden der Kommission für gewerkschaftliche Verwaltungs- und Organisationsfragen, der Kommission für Personalpolitik und der Kommission für Werbung gewählt (neuer Kommissionsvorsitzender seit 7. Mai 1966: Heinz Kluncker). Seit 1964 vertrat Nürnberg seine Organisation im DGB-Bundesausschuß und im Organisationsausschuß des DGB-Bundesvorstandes. Auf dem 6. ordentlichen Gewerkschaftstag in München vom 30. Juni bis zum 6. Juli 1968 mußte sich Nürnberg einer Kampfabstimmung stellen. Mit 317 gegen 178 Stimmen obsiegte er in der Abstimmung gegen Hans Schwalbach. Nach dem Gewerkschaftstag übernahm Nürnberg einen völlig neuen Geschäftsbereich. Künftig zeichnete er für die Bereiche Bildungspolitik, ÖTV-Schulen und die ÖTV-Vermögensverwaltung GmbH verantwortlich. Auf der 1. Sitzung des Hauptvorstandes am 3. Oktober 1968 zum Vorsitzenden der Kommission für Bildungsarbeit gewählt. Im Mai 1970 vom Hauptvorstand in die Kommission für Gewerkschaft- und Gesellschaftspolitik, Automation, Mitbestimmung kooptiert. Im Oktober 1968 zum Stellvertreter Heinz Klunckers im Vorstand der Internationale der Öffentlichen Dienste (IÖD) nominiert. Auf dem 19. IÖD-Kongreß 1970 in Kopenhagen in dieser Eigenschaft bestätigt.

Seit dem 6. Gewerkschaftstag 1. Geschäftsführer der Vermögensverwaltung GmbH. Parallel zur Protestbewegung der akademischen Jugend definierte Nürnberg den Bildungsauftrag der Gewerkschaft ÖTV neu: Gewerkschaftliche Bildungsarbeit stehe gleichwertig neben der Tarif- und Sozialpolitik. Seit Frühjahr 1970 Mitglied des beim Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung bestehenden Bundesausschusses für berufliche Bildung. In den ersten "bildungsorientierten" Jahren der sozial-liberalen Koalition nahm er viele bildungspolitische Termine in der Bundeshauptstadt war. Vor allem galt sein Interesse der Reform der beruflichen Bildung. Zum Höhepunkt seiner gewerkschaftlichen Karriere zählte für Nürnberg die Einweihung und Eröffnung des "ÖTV-Bildungs- und Begegnungszentrums Berlin-Wannsee". Nach einer Bauzeit von 2 Jahren konnte am 28. Januar 1971 die Bildungsstätte in seiner alten Heimat eröffnet werden. Der Bildungsarbeit maß Nürnberg die Rolle zu "die Lücke aufzufüllen, die in den letzten 20 Jahren entstanden ist [...] Angesichts der Monopolstellung bestimmter sogenannter Pressen ist gewerkschaftliche Bildungsarbeit mehr als ein Korrektiv, mehr als Aufklärung und Information, sie ist ein Gegengewicht und gleichzeitig ein bedeutendes Mittel in der Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Gegebenheiten und in der Erreichung gesellschaftlicher und gesellschaftspolitischer Ziele". Mit Rücksicht auf seinen angeschlagenen Gesundheitszustand kandidierte Nürnberg nicht mehr auf dem 7. Gewerkschaftstag 1972 in Berlin. Während des Gewerkschaftstages mit dem Großen Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet. Gerhard Nürnberg starb am 17. Mai 1975 in Stuttgart an den Folgen eines Herzanfalls.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | September 1998

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