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Haußherr, Otto (1880-1954)

Geboren am 10. Januar 1880 in Borna (Bezirk Leipzig) als Sohn eines Schuhmachers, verheiratet, protestantisch, später Dissident. Besuchte die Volksschule in Breitingen. Erlernte nach Beendigung der Volksschule in Leipzig den Beruf eines Rechtsanwaltsgehilfen bei den Justizräten W. Langbein und H. Thiele. Arbeitete in der Kanzlei bis zum 31. Mai 1912. 1899 durch den Dreyfuss-Prozeß politisiert; erste Berührung mit der organisierten Arbeiterbewegung. Der junge Rechtsanwaltsgehilfe trat im Oktober 1899 in den Leipziger Arbeiterbildungsverein ein (Lehrer Hermann Duncker). Am 1. April 1903 Eintritt in die Sozialdemokratische Partei Deutschlands. Ab 1. Januar 1904 zunächst Mitglied des "Leipziger Anwaltsgehilfenvereins", der sich [1905] dem "Zentralverein der Bureauangestellten Deutschlands" anschloß. Die 1895 gegründete freigewerkschaftliche Organisation der Rechtsanwaltsgehilfen konnte nur schwer Tritt fassen (1904: ca. 600 Mitglieder), namentlich in Leipzig mußten sie sich mit einer Übermacht bürgerlicher Gegner auseinandersetzen.

Seit 1905 Mitglied der Arbeiterjugendbewegung und bis 1910 Beiratsmitglied des Jugendbildungsvereins Alt-Leipzig. Haußherr organisierte zum SPD-Parteitag vom 12. bis 18. September 1909 in Leipzig für die Jugendbildungsvereine der Stadt eine Ausstellung von Jugendschriften, die von den Delegierten sehr beachtet wurde. Geachteter Redner auf den eigenen und "gegnerischen" Veranstaltungen, die um die Themen überlange Arbeitszeiten und den verhinderten Abschluß von Tarifverträgen kreisten. Seit [1906] Schriftführer im örtlichen Vorstand des Zweigvereins. Für die Jugend veranstaltete Haußherr Unterrichtskurse in Stenographie, Maschinenschreiben, Fachkunde und englischer Sprache. Mit der für Angestelltenorganisationen nicht untypischen Mitteln sprachen die Leipziger vor allem weibliche Mitglieder an. Delegierter auf der 3. Generalversammlung des "Zentralvereins der Bureauangestellten Deutschlands" und dem nachfolgenden gemeinsamen Verbandstag zusammen mit dem "Verband der Verwaltungsbeamten der Krankenkassen und Berufsgenossen Deutschlands" vom 17. bis 20. April 1908 im Berliner Gewerkschaftshaus. Beide Organisationen fusionierten zum "Verband der Bureauangestellten" mit 4.500 Mitgliedern. In einer Kampfabstimmung verlegten die Delegierten den Sitz des Ausschusses nach Leipzig. Nach der Festanstellung des bisherigen Ausschußvorsitzenden Hugo Brenke wählte der Ausschuß Otto Haußherr im Frühjahr 1912 nach; dieser übernahm sogleich am 3. Juni 1912 den Vorsitz.

Die Rechte des Ausschusses der organisierten Rechtsanwaltsgehilfen und Krankenkassenangestellten waren 1911 gegen den Widerstand der Leipziger gemindert worden. Haußherr hatte sich vor allem mit Beschwerden wegen der Verweigerung von Unterstützungsleistungen in Rechtsschutzangelegenheiten auseinanderzusetzen. Ab 1. Juni 1912 vom Leipziger Gewerkschaftskartell als besoldeter Arbeitersekretär angestellt. Als Sekretär der Rechtsauskunftsstelle konnte er seine Berufserfahrung auf dem Gebiet des bürgerlichen Rechts einbringen; seine Auskunftserteilung für die Leipziger Kolleginnen und Kollegen erstreckte sich ferner auf das weite Gebiet der Sozialversicherung. Seit [1913] Mitglied der Bezirksleitung des Bezirks Königreich Sachsen (1914: 1.160 Mitglieder). Der Leipziger Arbeitersekretär setzte sich für eine Neugestaltung der Verbandspensionkasse und für eine Professionalisierung seiner Gewerkschaft ein, d.h. für eine Erhöhung der hauptamtlichen Beschäftigten. Als Vorsitzender des Ausschusses Delegierter zum Kongreß für das einheitliche Angestelltenrecht am 26. April 1914 in Berlin. Die ins Auge gefaßte Fusion mit dem "Zentralverband der Handlungsgehilfen" lehnte Haußherr 1914 jedoch ab. Verklausuliert warf er dem Zentralverband vor, zu "links" zu sein und auf die "eigenartige Psyche" der Angestellten zu wenig Rücksicht zu nehmen. Am 1. Juli 1915 als Soldat eingezogen, kämpfte er an der Ostfront in Rußland. Nach der Novemberrevolution Vorsitzender des Soldatenrats in Kopischki (Litauen). Rückkehr nach Leipzig im Dezember 1918.

Im Juni 1919 hauptamtliche Anstellung am Vorstand des "Verbandes der Bureauangestellten". Übersiedlung nach Berlin. Am 8. und 9. September 1919 tagten in Weimar die Beiräte des "Zentralverbandes der Handlungsgehilfen" und des "Verbandes der Bureauangestellten". Beschluß, zum 1. Oktober 1919 den "Zentralverband der Angestellten" - als neue Großorganisation der Angestellten - ins Leben zu rufen. Wahl Haußherrs in den Vorstand auf der gemeinsamen Beiratssitzung. Übernahm die Betreuung der neu kreierten Abteilung "Behördenpersonal". Mit dem Aufgehen der Verbände der Angestellten bei Marinebehörden und den Heeresbetrieben im "Verband der Bureauangestellten" waren vor dem November 1918 bereits eine Anzahl von Behördenangestellten freigewerkschaftlich organisiert. Seit dem Staatsumsturz wuchs die Zahl der Aufnahmewilligen sprunghaft an. Auf zahlreichen Tagungen ebnete Haußherr in den Jahren 1919 und 1920 den Weg für eine angemessene Repräsentanz der heterogenen Mitgliedschaft in der gewerkschaftlichen Angestelltenorganisation. Vier Reichsfachausschüsse und mehrere Fachgruppen waren in der unmittelbaren Nachkriegszeit gefordert, die anstehenden Tarifverhandlungen vorzubereiten. Auf Reichsebene vertrat Haußherr bei Tarifverhandlungen die Angestellten der Ministerien, der Finanzämter, Reichsbahnämter, Versorgungsämter, Militär- und Marinebehörden, der Wasserstraßen- und Wasserbauverwaltungen, der Reichspost, der Reichsbahndirektion und der Reichsvermögensverwaltung. Auf Landesebene fielen in Haußherrs Betreuungsbereich die Angestellten der Ministerien, der Oberpräsidien, der Landratsämter, Polizeipräsidien, Katasterämter, Kreiskassen, staatlichen Hochbauämter, Gewerbeaufsichtsämter, Justizbehörden, Strafanstalten, Schlichtungsausschüsse, Forstämter, Domänenämter, Bergbehörden, Universitäten, Museen und Bibliotheken. Dazu kamen über 40 Verwaltungsgruppen im kommunalen Bereich. Grenzstreitigkeiten mit freigewerkschaftlichen Arbeitergewerkschaften und Beamtenorganisationen blieben nicht aus. Zu seinem tarifpolitischen Lebenswerk gehörte der Abschluß des Reichsmanteltarifvertrags für die Angestellten bei den Reichsverwaltungen und -betrieben am 2. Mai 1924 und der Preußische Angestelltentarifvertrag vom 30. Juni 1924, die die Grundlage für ähnliche Tarifabschlüsse bei den Gemeinden und Gebietskörperschaften bildeten. Bestätigung im Vorstandsamt auf dem 1. Verbandstag vom 29. Mai bis 4. Juni 1921 in Weimar.

Haußherr repräsentierte im politischen Spektrum des Zentralverbandes eher das "rechte" Spektrum, genoß über alle Flügel hinweg als Tarifexperte großes Ansehen. Delegierter auf allen Gewerkschaftskongressen des Allgemeinen freien Angestelltenbundes (AfA) in der Weimarer Republik. Auf dem 1. Gewerkschaftskongreß vom 2. bis 3. Oktober 1921 in Düsseldorf als Leiter des "Behördenausschusses" gewählt, einer von 5 Arbeitsausschüssen, die den AfA-Vorstand bei seiner Arbeit unterstützten. Auf der 1. Bundesausschußtagung des freigewerkschaftlichen Allgemeinen Deutschen Beamtenbundes (ADB) am 9. Februar 1923 in den Vorstand gewählt. Verlor dieses Amt auf dem 1. Bundeskongreß des ADB vom 12. bis 14. Januar 1924 in Berlin, nachdem das Leitungsgremium deutlich verkleinert wurde. Haußherr blieb im Vorstand des Zentralverbandes jedoch der Ansprechpartner, der für seine Organisation die Belange der Angehörigen des öffentlichen Dienstes mit dem Arbeiter- und Beamtendachverband (ADGB und ADB) koordinierte. Wiederwahl in den Vorstand auf allen Verbandstagen bis 1930. Delegierter seiner Organisation auf dem internationalen Kongreß des "Internationalen Bundes der Privatangestellten" vom 11. bis 15. Mai 1931 in Amsterdam. 1931 vertrat Haußherr ca. 35.000 Mitglieder. In vielen Aufsätzen warb er für die Hebung der sozialen und wirtschaftlichen Lage der Angestellten, wobei ihm Ende der zwanziger Jahre der Schutz älterer Arbeiter und ein Rationalisierungsschutzabkommen wichtig waren. In der Schlußphase der Weimarer Republik nahm er die Angestellten der Arbeitsämter vor der Agitation der Nationalsozialisten in Schutz.

Seit 1926 Vorstandsmitglied der Sterbekasse des "Zentralverbandes der Angestellten". Haußherr unterzeichnete am 31. Mai 1933 gemeinsam mit den nicht inhaftierten Vorstandsmitgliedern und dem Beauftragten der NSBO eine Erklärung, die den "Abschluß aller gewerkschaftlichen Aufgaben des Zentralverbandes der Angestellten" dokumentierte. Nach seiner Entlassung im Juni 1933 arbeitslos; wurde ohne Einkommen von seinen Geschwistern und seinem Sohn finanziell unterstützt. Haußherr fand im Juli 1937 durch Bekannte Anstellung bei einer Berliner Fabrik für Röntgenartikel. Nationalsozialisten auf dem Arbeitsamt verlangten vergeblich seine Entlassung, hielt lose Kontakte zu ehemaligen Mitgliedern seiner Fachgruppe. Am 1. September 1939 mit anderen Berliner Gewerkschaftern verhaftet und für zwei Wochen in das Konzentrationslager Sachsenhausen verbracht, wurde wegen seines schlechten Gesundheitszustandes entlassen und kehrte nach Berlin zurück. Zog im Mai 1944 mit der ausgelagerten Röntgenartikelfabrik nach Demmin. Am 30. April 1945 entlassen.

Fand am 10. September 1945 bei der Versicherungsanstalt Berlin in der Verwaltungsstelle Lichtenberg ein Anstellung und arbeitete von Mai 1947 bis zu seiner Pensionierung im Juli 1950 in der Personalabteilung der Versicherungsanstalt. Haußherr stellte sich sofort nach 1945 der Berliner Gewerkschaftsbewegung zur Verfügung und beteiligte sich am Aufbau der "Gewerkschaft der kaufmännischen Büro- und Verwaltungsangestellten" (GkB) innerhalb des FDGB. Mitglied der SED. Seit [1946] Vorstandsmitglied der GkB. Der auf dem "Leistungsprinzip" beruhende Tarifvertrag sowie die Durchführung des "Leistungswettbewerbes" in der öffentlichen Verwaltung fielen in seinen Verantwortungsbereich. Anfang November 1954 mit dem "Vaterländischen Orden in Bronze" geehrt; starb am 19. November 1954 in Berlin-Friedrichshain.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | September 1998

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