Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung


Online-Edition wichtiger Beiträge Eugen Pragers in der sozialdemokratischen Presse.

    Dokument:

    Sabbath in der Weltstadt / Eugen Prager - [Electronic ed.], 1938 - 10 KB, Text
    In: Israelitisches Familienblatt. - 37 (17. Januar 1935) 12, S. 10
    Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2006


Sabbath in der Weltstadt

Am Alexanderplatz eilt und lärmt das Leben der Weltstadt Berlin am Sabbath ebenso wie an den Werktagen. Alle zwei Minuten donnert ein Stadtbahnzug über die Brücke am nördlichen Ende der Königstraße. Die elektrischen Bahnen und Omnibusse hasten vorüber, unter der Erde ahnt man die Untergrundbahnen, die hier den dichtesten Kreuzungspunkt der Stadt bilden. Unablässig wälzt sich der Strom der Menschen und Wagen über den Platz: woher kommen sie, wohin gehen sie, was ist der Sinn dieses Treibens? Ein paar Schritte weiter, und du kommst in den Bezirk der Markthallen. Ein tolles Durcheinander von Fuhrwerken und Autos, von Dreirädern und Handwagen, von Menschen und Tieren; alles eingehüllt und den Dunst von Gemüse und Obst, lebender und toter Fische, roher und verarbeiteter Lebensmittel. Man drängt und schiebt und hastet. Alle arbeiten hier für den "Bauch von Berlin"; jeder einzelne denkt nur an sich, an den eigenen Verdienst. Doch wenn du Bescheid weißt und etwa an der Münzstraße in nördlicher Richtung einbiegst, so bist du in einer ganz anderen Welt.

In stillen Straßen

In diesen Straßen sieht man auch heute noch hebräische Aufschriften an Buchhandlungen, Gastwirtschaften, Fleischereien, Bäckereien und Lebensmittelgeschäften. Ihre Inhaber rechnen also nur mit jüdischer Kundschaft. Aber die Zahl dieser Geschäfte hat sich nun natürlich sehr verringert. Manche Läden und Keller stehen leer, auch Wohnungen sind zu haben. Wohin mögen ihre früheren Inhaber wohl inzwischen verzogen sein?

In der "Schul"

Sehr viele Häuser hatten früher ihre "Schul", in denen ostjüdische Gebräuche vorherrschten. Eine Anzahl dieser Betsäle haben im vorigen Jahre schließen müssen, doch gibt es ihrer auch jetzt noch genug, um dem jüdischen Leben dieses Viertels ein besonderes Gesicht zu geben. Die "Schul" vereinigt noch die Gemeinde im ursprünglichen Sinne der Kehilla. Hier kommen die Besucher einander näher, als das in unseren Synagogen der großen Städte möglich ist. Es gibt da einfache Zimmer mit einem Tisch in der Mitte, um den sich die Andächtigen gruppieren, und worauf bei der Thoravorlesung die Heilige Schrift gelegt wird. Die Frauen befinden sich in einem Nebenraum nur durch einen kleinen Spalt können sie in dem Gottesdienst teilnehmen. Vorgebetet und "geleint" wird abwechselnd von den Besuchern, der "Rebbe" unterscheidet sich von den anderen nur durch höhere talmudische Gelehrsamkeit. In einem einfachen Schrank, durch einen Vorhang geschützt, befinden sich die Thorarollen, auf Regalen sind Gebetbücher, Talmudfolianten und Talletzim untergebracht. Es gibt aber auch größere Räume, gewöhnlich in Hinterhäusern. Hier hat man mit einigen baulichen Veränderungen Galerien geschaffen, von wo nach uraltem Brauch die Frauen der Gemeinde durch fensterähnliche Oeffnungen oder durch Gitter in den Männerraum hinabsehen können. Bis man schließlich auch eine größere "Schul" findet, für die ein besonderes Gebäude errichtet wurde, und die sich nur wenig mehr von unseren orthodoxen Synagogen unterscheidet. Der Almemor befindet sich selbstverständlich inmitten des Gotteshauses, nicht an seinem Kopfende.

Bei den Chassidim

Auch die Angehörigen jener in Osteuropa weit verbreiteten Abzweigung jüdischen Lebens, die Chassidim, haben sich in Berlin eigene Betstätten eingerichtet. Sie halten sich nicht ganz an die ritualen Formen der religiösen Orthodoxie. Der Gottesdienst ist hingebender, leidenschaftlicher - erwächst bis zur Ekstase. Das Gebet wird von rhythmischen Bewegungen des Körpers begleitet, häufig auch durch lebhafte Aeußerungen des Schmerzes oder der Freude unterstrichen. Einzelne Abschnitte werden in volksliedhaften Melodien gesungen. Aber so fremdartig uns westdeutschen Juden auch die Aussprache und die Formen dieses Gottesdienstes anmuten mögen, so fühlen wir uns doch bald mitgerissen von der leidenschaftlichen Inbrunst der Beter. Ihr Gottesglaube wurzelt noch so tief und echt, daß wir es geradezu als schmerzlich empfinden, wie weit uns die "Aufklärung" von diesem Urboden seelischer und religiöser Inbrunst entfernt hat.
Aus den Straßen dieses Viertels sind im vorigen Jahre viele Ostjuden abgewandert. In die Heimat zurück, in andere Länder. Die Hiergebliebenen gehen ehrlichen Gewerben nach. Sehr viele üben ein Handwerk aus, besonders oft trifft man auf Schneider, Kürschner, Schuhmacher und Lederarbeiter. Für das Festhalten an den religiösen Ueberlieferungen bringen sie große Opfer. Nicht nur daß sie den Sabbath und die Feiertage streng heiligen, sie unterhalten auch selbst ihre Gotteshäuser und helfen einander in Zeiten der Not. Nicht wenige von ihnen wohnen bereits seit Jahrzehnten in Deutschland: dafür zeugt auch die Tatsache, daß manche Bethäuser schon ein recht ansehnliches Alter aufweisen. Ein jüdischer Wohltätigkeitsverein in dieser Gegen konnte vor Jahresfrist sein 200jähriges Bestehen feiern.

In die Weltstadt zurück

Wenn wir aus der Abgeschlossenheit religiöser Versenkung die wenigen Schritte zurückgehen, die uns in die Welt der Straßenbahn und der Untergrundlinien, des Getriebes der Markthallen und des Geschäftslebens führen, so taucht die alte und immer wieder neue Frage in uns auf: was ist wertvoller für den Menschen, der Gewinn an Hab und Gut, der Glanz der äußeren Stellung, die scheinbare Sicherheit der materiellen Existenz; oder das Festhalten am Gottesglauben, die Erhebung der Seele durch das Gebet? Die Bewohner des Berliner "Ghettos" werden uns auf diese Frage gewiß antworten: Ihr mögt uns für "rückständig" halten; aber diese "Rückständigkeit" gibt unserm Leben Inhalt und Wert, sie hat das Judentum auf seiner jahrtausendelangen Wanderung erhalten, sie wird uns und euch mit uns vor Verfall schützen!

Eugen Prager, Berlin