Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung


Online-Edition wichtiger Beiträge Eugen Pragers in der sozialdemokratischen Presse.

    Dokument:

    Der unbewachte Augenblick / E.P. - [Electronic ed.], 1931 - 13 KB, Text
    In: Mitteilungen des Vereins Arbeiterpresse. - 31 (1. Dezember 1931), 320, S. 4-5
    Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2006


Die unbewachten Augenblicke

Seit einigen Jahren findet man in den großen illustrierten Zeitschriften immer häufiger den Namen Dr. Erich Salomon. Seine Bilder zeichnen sich dadurch aus, daß sie nicht einfache photographische Reportagen sein wollen, daß sie nicht gestellt sind, sondern die Situation, in der sich das Photographieren vollzog, in dem Bildnis selbst zum Ausdruck zu bringen suchen. Salomon hält also nicht nur den Menschen, sondern auch seine Umwelt fest. Er schildert die Opfer seiner Kunst nicht so, wie sie selbst auf der Platte zu erscheinen wünschen, sondern wie sie sich dem Photokünstler gerade zeigen. Vor kurzem hat Salomon eine Auswahl seiner Bilder in einem Buch "Berühmte Zeitgenossen in unbewachten Augenblicken" zusammengefaßt und der Oeffentlichkeit übergeben.

Der den Bildern vorausgeschickte textliche Teil zerfällt in drei Kapitel: Der Kampf um die Aufnahmemöglichkeit; der Kampf um die Aufnahme selbst; der Kampf nach der Aufnahme. Aus diesen Ueberschriften ergibt sich ohne weiteres, daß das Photographieren für die Presse nicht immer ganz einfach ist. Diese Arbeit wird um so schwieriger, je mehr sich der Photograph von den übrigen Bilderreportern abzusondern sucht und eigene Wege wandelt. Das Pressephoto als Kunstwerk und die Ausnutzung der "unbewachten Augenblicke" ist überhaupt erst seit einigen Jahren möglich geworden. Seitdem nämlich das lichtstarke Objektiv erfunden ist, das Aufnahmen mit kleinen Apparaten ebenso bei Tageslicht wie bei gewöhnlichem elektrischen Licht gestattet. Solche Apparate sind allerdings noch außerordentlich teuer, so daß sich ihre Benutzung für die Arbeiterpresse vorerst nur in Ausnahmefällen ermöglichen läßt. Wir finden aber auch bei uns schon Bemühungen, das Photographieren für die Presse als Kunst zu betreiben. Die Arbeiterlichtbildner haben sich organisatorisch zusammengeschlossen, die Naturfreunde zeigen viele ausgezeichnete Bilder ihrer Mitglieder, in einigen Orten stehen Photogilden in enger Verbindung mit unseren Parteiblättern. Unsere Presse bietet aber leider noch nicht den Raum, in dem sich die künstlerische Photographie als berufliche Sonderaufgabe entwickeln kann.

Erich Salomon zeigt "Persönlichkeiten". Etwa in der Art, wie Bernhard Shaw seine "Helden" gezeichnet hat. Wir sehen beispielsweise Hindenburg während der Pause beim Besuch einer Galaoper. Sein Gesicht hat in dem Augenblick, als es belichtet wurde, nichts von der Würde des höchsten Beamten der Republik und des Generalfeldmarschalls; es ähnelt vielmehr dem eines sehr freundlichen, dabei doch bekümmerten Großpapas. Wir sehen die "unbewachten Augenblicke" der europäischen Staatsmänner auf Konferenzen, im Salonwagen, bei Privatgesprächen. Das Staatsmännische fällt dann von ihnen ab, sie rauchen ihre Zigarre, sie langweilen sich oder machen gar, wenn es in die Nacht hineingeht, ein Nickerchen. Am korrektesten benehmen sich bei alledem immer noch die Deutschen, die ihre Befangenheit oder auch ihre gute Erziehung selbst dann nicht abzulegen verstehen, wenn sie nur Mensch unter Menschen zu sein brauchen. Im Gegensatz dazu stehen die Franzosen, deren natürliche Lebhaftigkeit sich auch im privaten Kreise nicht unterdrücken läßt.

Ist aber die berühmte Persönlichkeit für uns überhaupt etwas, was der photographierten Darstellung wert ist? Sollten wir uns nicht darauf beschränken, die Masse zu zeigen, bei der Arbeit, in Versammlungen, bei Aufmärschen? Es läßt sich nicht leugnen, daß die ständige Wiedergabe von photographischen Massenveranstaltungen den Leser leicht ermüdet. Das haben auch die russischen Bolschewisten eingesehen, deren Sinn für propagandistische Wirkung nicht verkannt werden darf. In ihren Zeitschriften überwiegen durchaus die Einzelbilder. Stalin wird in tausend verschiedenen Posen dargestellt. Wenn etwa der usbekische Volksstamm gezeigt werden soll, dann sehen wir nicht eine Masse, sondern die einzelnen als Typus. Oder auch die Rote Armee wird gezeigt, seltener mit den gleichzeitig aufmaschierenden Hunderttausenden von Soldaten, sondern vielleicht durch einen einzelnen Rotarmisten, der mit einem besonderen Geschichtsausdruck seinen Tankwagen begleitet. Aehnlich die Hakenkreuzler, bei denen sich aus der Verachtung für die namenlosen Masse von selbst die unermüdliche Wiedergabe "unseres Führers Adolf Hitler" ergibt.

Wir meinen, daß es nichts mit Personenkultus zu tun hat, wenn auch wir die in unserer Bewegung im Vordergrunde stehenden Persönlichkeiten häufiger als bisher "in unbewachten Augenblicken" darstellen würden. Freilich gehört dazu beim Photographieren sehr viel Takt und beim Photographierten ein wenig Humor. Salomon erzählt, daß er einmal vollkommen harmlos durch einen Wandelgang des Reichstags gegangen sei, als er den Führer der Sozialdemokratischen Partei, Dr. Breitscheid, im Gespräch mit dem kommunistischen Geschäftsordnungsredner Torgler bemerkte. Die beiden Abgeordneten sahen ihn gleichzeitig und stoben mit dem Ruf "Jetzt wird's gefährlich" fluchtartig auseinander. Wie es ihm bei der Aufnahme des Reichskanzlers Hermann Müller gegangen ist, erzählt Salomon folgendermaßen:

"Einige Tage später sollte sich das neugebildete Kabinett Hermann Müller dem Reichstag vorstellen, und es lag mir sehr viel daran, eine gute Aufnahme des neuen Reichskanzlers während seiner Regierungserklärung im Reichstag zu machen. Ich besuchte deshalb den Präsidenten Löbe und bat ihn, mir für diese wichtige Begebenheit noch einmal einen Platz auf der Reichsratsestrade einzuräumen. Der Präsident war auch nicht abgeneigt, aber er meinte, bei einer Regierungserklärung sei die ganze Reichsratsestrade voll besetzt, und die Herren würden sogar stehend zuhören und mir damit jede freie Sicht verdecken. Da war nun guter Rat teuer. Ich fragte deshalb einen der Reichstagsdiener, ob nicht irgendein Abgeordneter krank oder beurlaubt sei, auf dessen Platz ich mich dann setzen könne. "Das ist doch janz einfach, Herr Doktor," sagte dieser, "der Abgeordnetenplatz von Herrn Reichskanzler Müller ist doch jetzt frei." Das leuchtet mir sogleich ein, vor allem schon deshalb, weil dieser Platz sich gerade in der günstigen Entfernung von viereinhalb Metern vom Rednerpult bestand. Ich hatte nun das ziemlich bestimmte Gefühl, daß ich achtkantig hinausgeworfen werden würde, wenn ich mich vor Beginn der Sitzung auf diesen Platz begäbe, mußte also eine andere Taktik wählen. Ich wartete, bis Präsident Löbe dem Reichskanzler Müller das Wort erteilt hatte, weil ich damit rechnen konnte, daß er nicht den Reichskanzler unterbrechen würde, um mich von dessen Platz zu verjagen, und daß andererseits der Reichskanzler, falls er mich überhaupt bemerkte, sich nicht aus dem Konzept bringen lassen würde wegen einer Angelegenheit, für die er nicht verantwortlich war. Die einzige Gefahr für mich blieben die umsitzenden Abgeordneten. Aber auch für diesen Fall hatte ich mich gerüstet. Nachdem also der Reichskanzler einige Worte gesprochen hatte, ging ich, weder rechts noch links blickend - auch das ist wichtig, um nicht die bei allen solchen Sachen unerläßliche Ruhe zu verlieren - auf den leeren Platz des Reichskanzlers zu. Kaum hatte ich mich gesetzt, so drehte sich der schräg vor mir sitzende Abgeordnete Dittmann zu mir um und sagte, da er mich anscheinend für einen neugewählten Abgeordneten hielt: "Aber Sie sind doch gar nicht Sozialdemokrat; Sie können sich doch nicht hierher setzen!" Ich flüsterte i[h]m zu, daß ich nur die Absicht hätte, für einige Augenblicke dort zu verweilen, und reichte ihm ein Bild hinüber, auf dem er selbst sehr deutlich zu erkennen war. Wie zu erwarten, vertiefte er sich derartig in dieses Bild, daß ich inzwischen meine Aufnahme machen konnte. Und da ein Wiederverlassen des Platzes gestört hätte, während mein Verweilen dort niemanden weiter behelligte, so zog ich es vor, bis zum Schluß der Kanzlerrede sitzen zu bleiben, und nahm auch noch die gespannt zuhörenden Reisratsmitglieder auf.

Als ich nach der Sitzung Präsident Löbe im Wandelgang traf, sagte er: "Aber, Herr Doktor, das war doch nicht verabredet! Das ist ja in der ganzen Geschichte des Reichstages noch nicht vorgekommen, daß ein Nichtabgeordneter zwischen den Abgeordneten saß!"

In dieser Darstellung mengt sich Wahrheit und Dichtung. Soweit wir unterrichtet sind, ist es Salomon nicht gelingen, den Genossen Dittmann zu überlisten. Vielmehr mußte er trotz der feierlichen Stunde die heilige Halle räumen. Aber wie es auch mit Anekdoten von dieser Art bestellt sein mag, der Verfasser kommt mit Recht zu dem Ergebnis, daß die Tätigkeit des Bildberichterstatters, "der mehr sein will als ein bloßer Handwerker, ein steter Kampf, ein Kampf ums Bild, und wie auf der Jagd kommt er nur zur Beute, wenn er von der Leidenschaft der Bildjagd besessen ist."

In unserer Presse ist von dieser Leidenschaft noch wenig zu spüren. Es überwiegen noch die gestellten Aufnahmen; unsere "Persönlichkeiten" erscheinen fast immer in Photographiestellung, sie werden uns zumeist als Helden gezeigt, während sie doch auch Menschen sind. Es wäre zu wünschen, daß auch wir in der Bildberichterstattung mehr von den "unbewachten Augenblicken" erführen.

E. P.