Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung


Online-Edition wichtiger Beiträge Eugen Pragers in der sozialdemokratischen Presse.

    Dokument:

    Das Schulkind und die Zeitung / E.P. - [Electronic ed.], 1928 - 10 KB, Text
    In: Mitteilungen des Vereins Arbeiterpresse. 28 (1. Oktober 1928), 282, S. 6-7
    Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2006


Das Schulkind und die Zeitung.

In der Oberklasse einer Berliner Volksschule war den Kindern ein Erlebnisthema gegeben worden. Es hieß: "Was bringt die Zeitung?" Die "Berliner Morgenpost", die wahrscheinlich nur ganz wenige unserer Kollegen zu Gesicht bekommen, berichtet über das Ergebnis folgendes:

Von 45 Kindern war das Problem verschieden bearbeitet und zu 95 Proz. war das Ergebnis gut. Die verschiedensten Gebiete der Zeitung waren berücksichtigt - von der Politik der ersten Seite bis zum Anzeigenteil der letzten Seite. Die aufgestellte Statistik teilte die Arbeiten ein in solche, die Haupt- und Nebeninteresse für irgendeinen Teil der Zeitung bekundeten - je nachdem das Kind seine "Liebe" diesem oder jenem Teil zugewandt hatte.

Für Politik konnte sich keines der 22 Mädchen erwärmen, nicht einmal "nebenbei", während von den 23 Knaben zwei die Politik als das "Schönste" und fünf sie als "interessant" betrachteten und sie auch kritisch unter die Lupe nahmen. Das "Neueste" bezeichneten drei Knaben und drei Mädchen als das "Anziehendste"; die Rubrik "Unglück und Verbrechen" fällt in ihrer heutigen Größe und Vielseitigkeit allen Kindern auf und wurde von fast allen, wenn auch nicht mit dem "Hauptinteresse" gelesen. Den heimatlichen Mitteilungen widmeten sich vier Mädchen mit ihrem "Nebeninteresse", während ein Knabe sie als das "Beste" und sechs weitere sie als "lesenswert" betrachteten. Dem Roman der Zeitung spendeten zwei Mädchen ihr größtes Lob, während vier "ihn auch lasen" und ein Junge ihn "mit Spannung" verfolgte, zwei andere ihn "unterhaltend" fanden. Die Beilagen mit ihren Rätseln und Erzählungen fanden bei vielen eine eingehende Würdigung. Neun Mädchen bekundeten für sie ihr Hauptinteresse, und die gleiche Zahl schenkte ihr ihre Nebenaufmerksamkeit. Vier Knaben hatten für sie Worte des Lobes und zehn bekundeten nur ein Nebeninteresse. Für den Sport erwärmte sich keines der Mädchen (aber alle schwimmen sehr gern), während von den 23 Knaben ihn als ihren Lieblingsteil und fünf ihn als "schön" und "gut" bezeichneten. Für die Wetternachrichten begeisterte sich ein Mädchen besonders und eines "so nebenher" (ausgerechnet Mädchen!). Die Knaben vernachlässigten den Wetterbericht ganz.

Auf dem Stellenmarkt schauten sich die Mädchen auch besser um als die Knaben. Die Familiennachrichten und Anzeigen, jede für sich, wurden lebhaft nachgeschaut. Zwölf Mädchen fanden sie als das Interessanteste, während zehn sie einer näheren Würdigung wert fanden. Alle 23 Knaben hatten auch mehr oder weniger für das eine oder andere ein Nebeninteresse. Die amtlichen Bekanntmachungen wurden anscheinend von keinem Kinde gelesen. Die folgenden Sätze zeugen von dem Interesse, das man überall der Zeitung zukommen läßt. Folgende Teilstücke sind die interessantesten:

"Die Frauen lasen spannungsvoll den Roman. Es dauert ihnen zu lange, bis die Fortsetzung kommt. Der Roman ist ihnen die Hauptsache. Manche Leute warten mit Schmerzen auf die Zeitung." Ein Schüler schreibt u. a.: "Die Mutter hört mit der Arbeit auf und liest die Geschichten. Kommt am Abend der Vater, so ist sein erstes Wort: "Wo ist die Zeitung?" Dann setzt er sich den ganzen Abend hin und studiert das ‚Blatt'. Steht etwas Wichtiges darin, so liest er es vor."

Eine Schülerin schreibt u. a.: "Wenn die Mutter den Zeitungsboten sieht, so schickt sie ihm die Kinder schon entgegen, um die Zeitung zu holen. Sie läßt alles liegen und liest zuerst die Zeitung."

Ein anderer Schüler: "In der Zeitung steht immer etwas aus ‚Fern und Nah'. Darin liest man nichts anderes als Raub, Mord und Hinrichtung. Das ist immer wieder die Hauptsache. Uns Jungens interessiert meist Sport und Politik. Besonders in den letzten Tagen wurde uns eine neue Regierung vorgestellt. Dieses interessiert uns aber weniger. Der Sport ist das ‚Schönste', besonders des Samstags, dann kann man lesen, was Sonntags im Sportleben los ist. Wir können am meisten über Mord lesen, aber dieses ist bei uns nichts Neues mehr, denn dieses sieht man alle Tage."

Ein Junge, der sich lebhaft für Politik interessiert, schreibt: "Besonders lese ich die Politik aus dem Reiche und aus den Ländern. Ein neues Ministerkabinett ist aufgestellt worden, die Minister sind bildlich dargestellt. Auch alles von dem Völkerbund und Außenpolitik lese ich ausnahmslos. Um die Romane gebe ich nicht viel, das sind meist vorgekaute Sachen."

Eine Schülerin: "Besonders lese ich gern buntes Allerlei. Es stehen da so kleine Geschichten, die wirklich vorgekommen sein sollen. Manchmal zweifelt man daran, daß sie wirklich wahr sind."

Die Kinder, die dieses Thema bearbeitet haben, stehen etwa im vierzehnten Lebensjahr. Sie gehören wohl durchweg dem Proletariat an, im nächsten Jahr werden sie schon berufstätig sein. Vorläufig also interessieren sich von den Mädchen kein einziges, von den 23 Knaben nur 7 für die Politik. Wird dieses Verhältnis besser werden, wenn die Schule keinen Einfluß mehr auf die Kinder hat, sie dagegen um so mehr den Einflüssen der Straße, des Betriebs, der Vergnügungsstätten unterliegen? Die Antwort darauf gibt für Berlin die starke Verbreitung der bürgerlichen Presse auch in der arbeitenden Bevölkerung.

Um bei dieser Gelegenheit oft Gesagtes noch einmal zu wiederholen: Es kann uns natürlich nicht einfallen, aus sozialdemokratischen Zeitungen "General-Anzeiger" machen zu wollen. Aber das eine sollte uns doch das Ergebnis dieser Schularbeit sagen, daß wir uns das Gesicht und den Inhalt unserer Zeitung auch vom Standpunkt des "Mannes auf der Straße" aus ansehen müssen. Vielleicht ist dieses Problem in den mittleren und kleineren Orten nicht so brennend; daß es für die Großstädte gelöst werden muß, zeigt uns noch einmal die Beantwortung der Frage: "Was bringt die Zeitung?"

E. P.