Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung


Online-Edition wichtiger Beiträge Eugen Pragers in der sozialdemokratischen Presse.

    Dokument:

    In die Irre gegangen : zu den Tragödien in Cöpenick und Zwickau / Eugen Prager - [Electronic ed.], 1927 - 15 KB, Text
    In: Arbeiter-Jugend. - 19 (1. Dezember 1927) 12, S. 266-267
    Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2006


Eugen Prager: In die Irre gegangen
Zu den Tragödien in Köpenick und Zwickau

Am Sonntag, dem 6. November 1927, ereignete sich in dem Berliner Vorort Köpenick die folgende Tragödie: Der in der russischen Handelsvertretung beschäftigte 25 Jahre alte Angestellte Albert Haak kam gegen 5 Uhr nachmittags von einer Demonstration der kommunistischen Partei zur Feier des zehnjährigen Bestehens des Sowjetstaates nach Hause zurück. In seiner Begleitung befanden sich der 23 Jahre alte Kabelarbeiter Willy Wuthe und der 21 jährige Richard Miethling. Sie tranken erst in Gemeinschaft mit den Angehörigen des Haak Kaffee und zogen sich dann in ein anderes Zimmer zurück. Die drei jungen Leute schienen recht guter Stimmung zu sein, sie sangen heitere und zur Abwechslung auch sentimentale Lieder, und spielten dazu die Laute. Zwischendurch fragte Albert Haak die Mutter, die mit ihm und einigen verheirateten Geschwistern die ziemlich enge Wohnung teilt, was sie wohl dazu sagen würde, wenn er und seine beiden Freunde ihrem Leben ein Ende machten. Die Mutter nahm das als Scherz auf und antwortete, sie würde erst mal alle drei gründlich verdreschen. Aber Alberts Frage war durchaus nicht scherzhaft gemeint. Gegen 7 Uhr abends krachten im Zimmer der Freunde dicht nacheinander zwei Schüsse. Erschreckt eilen die Angehörigen zur Tür, die Mutter will eindringen, wird aber von Miethling zurückgedrängt. Sie sieht noch, daß ihr Sohn und Wuthe am Boden liegen. Mit der linken Hand hält Miethling die Tür zu, mit der rechten setzt er den Revolver an die Schläfe und drückt ab. Wuthe und Miethling waren bald tot, Haak liegt im Krankenhaus, wenn er mit dem Leben davonkommen sollte, so wird er doch das Augenlicht verlieren.

Ein zweiter, ähnlicher Fall. An dem gleichen Sonntag hatte die kommunistische Partei auch in Zwickau eine Feier für Rußland veranstaltet, mit einem Fackelzug zum Schluß. Als die Fackeln zusammengeworfen wurden, zog ein junger Arbeiter aus Glauchau einen Revolver aus der Tasche und schoß sich eine Kugel in den Kopf. Er war sofort tot.

Das ist der nüchterne, der grausame Tatbestand. Ueber die Ursachen, die zu diesen Tragödien geführt haben, hat man von den Beteiligten nichts erfahren. Sie haben nichts an Aufzeichnungen hinterlassen, bei dreien hat sich der Mund für immer geschlossen, ob der vierte jemals noch wird reden können, ist ungewiß. Aber von den Angehörigen und von den Freunden hat man manches gehört, was wenigstens in dem Köpenicker Fall das Dunkel lichten kann. Haak, Wuthe und Miethling standen im Vordergrund der kommunistischen Bewegung ihres Bezirks. Haak war im Vorstand der Kommunistischen Partei, er leitete die Bildungsarbeit, kurz vorher hat er für eine Veranstaltung seiner Partei ein Theaterstück verfaßt, das großen Beifall fand. Die beiden anderen waren in der kommunistischen Jugendbewegung tätig; sie standen an der Spitze des Köpenicker Roten Jungsturms. Sie haben niemals gefehlt, wenn die Kommunistische Partei oder der Rote Frontkämpferbund sie riefen. Haak und Wuthe kamen aus proletarischen, Miethling aus kleinbürgerlichen Kreisen. Erwähnt man noch, daß die drei sehr viel lasen, vor allem kommunistische Propagandaliteratur, russische Schriften, zuletzt auch deutsche Philosophen und Dichter, so hat man das Bild von Menschen vor sich, die den Stolz und die Ehre ihrer Klasse, der Arbeiterklasse ausmachten, und von denen man noch Großes hätte erwarten können.

Wie aber kamen sie zu dem verhängnisvollen Entschluß, ihrem Leben freiwillig ein Ende zu machen? Welches war der Irrweg, auf den sie geraten sind? Was hat sie in ihrem Glauben an das Leben so erschüttert, daß sie es zuletzt ganz einfach fortwarfen? Die kommunistische Presse hat einmal behauptet, daß die Lektüre des deutschen Philosophen Nietzsche und des italienischen Klassikers Dante die drei von den Ideen des Kommunismus abgezogen hätte. Das andere Mal wird dort gesagt, den dreien sei die Revolution in Deutschland nicht schnell genug gegangen, darum hätten sie am Leben verzweifelt. Man merkt, daß die eine Deutung des Falles der anderen widerspricht, nur in einem stimmen die beiden Erklärungen überein, daß die drei Freunde den Glauben an die kommunistische Bewegung verloren haben. Und um das gleichsam nach außen besonders zu zeigen, wählten sie, wie auch der Arbeiter in Zwickau den Tag der russischen Jubiläumsfeier für ihr Scheiden aus dem Leben.

Man braucht auch nur die von den Kommunisten selbst gewählte Auslegung des Köpenicker Falls logisch fortzusetzen, um sich über die Ursachen der beiden Tragödien völlig klar zu werden. Was bietet die kommunistische Bewegung mit allen ihren Nebenorganisationen den aufgeweckten und lerneifrigen jungen Proletariern? Man hat ihnen immer gesagt, daß in Sowjetrußland der Sozialismus verwirklicht worden sei, und daß dort die Arbeiter die Herrschaft besäßen. Jetzt aber hören sie nicht etwa von den Feinden des russischen Volkes, sondern von Trotzki, von Sinowjew, von anderen bisherigen Helden des Kommunismus, daß der Kapitalismus sich in Rußland immer weiter ausbreite, daß die Masse des russischen Proletariats wirtschaftlich und politisch weniger Rechte besitze als die Arbeiterklasse in den bürgerlichen Staaten der übrigen Welt.

Und in Deutschland? Die Kommunistische Partei gebraucht zwar noch für ihre Agitation "revolutionäre" Phrasen; in Wirklichkeit ist sie aber nichts weiter als eine demokratisch-parlamentarische Partei, sie sucht bei den Wahlen möglichst viele Stimmen zu gewinnen, ihre Vertreter in den öffentlichen Körperschaften nehmen nach dem Maß ihres Könnens an den gesetzgebenden und verwaltenden Arbeiten teil. Die Kommunistische Partei ist also so etwas wie ein Anhang der Sozialdemokratischen Partei geworden. In einem Punkte unterscheiden die beiden Parteien sich freilich sehr voneinander. Während die Sozialdemokratie die Arbeiter immer und immer wieder zur Einigkeit, zur Geschlossenheit aufruft und ihnen zeigt, daß der gemeinsame Feind rechts, beim Kapital, steht, sucht die Kommunistische Partei ihre Existenzberechtigung dadurch zu erweitern, daß sie stets von neuem Uneinigkeit in das Proletariat hineinträgt und den Bruderkampf in der Arbeiterklasse ununterbrochen schürt.

Die drei Jungkommunisten von Köpenick haben die Sozialdemokratische Partei und ihre Arbeit nie gekannt, um so besser aber lernten sie die kommunistische Bewegung kennen. Unter der Parole der Einheitsfront tobt da ein ständiger Krieg der einen gegen die anderen. Stalinisten und Leninisten bekämpfen einander auf Tod und Leben; in Rußland ebenso wie bei uns zerfällt die kommunistische Bewegung in immer zahlreichere Gruppen und Sekten. Das ist so im großen wie im kleinen. In der kommunistischen Jugend, im Roten Frontkämpferbund ihres Heimatortes erlebten die drei Köpenicker Arbeiter einen widerwärtigen Streit um die Posten, ein gegenseitiges Beschimpfen, das sich sogar bis zum Verrat von Parteigeheimnissen an Außenstehende verstieg. Es bedurfte nicht erst Nietzsche und Dante, um sie den Glauben an den Kommunismus verlieren zu lassen; das besorgte die kommunistische Bewegung selbst viel gründlicher als es bürgerliche Philosophen und Dichter zu tun vermögen. Wir dürfen also zu dem Schluß kommen: nicht weil ihnen die Revolution zu lange dauerte, machten die drei mit ihrem Leben Schluß, sondern weil die Ideen, für die sie bisher gekämpft hatten, ihren Inhalt und ihren Wert für sie verloren hatten.

Welche Lehre können wir Sozialisten aus diesen so ergreifenden Fällen ziehen? Es genügt nicht, wie es die kommunistische Partei jetzt tut, den jungen Arbeitern zu sagen: ihr dürft nicht Nietzsche, ihr dürft nicht Dante lesen, überhaupt ist das Studium der bürgerlichen Literatur nichts für euch, haltet euch nur immer an das, was wir euch vorsetzen. Nein, nicht die bürgerlichen Dichter und Denker haben die drei jungen Kommunisten in die Irre geführt, sondern das Fehlen jeder positiven Leistung in der eigenen Bewegung. Diese jungen Kommunisten sehen nur immer wieder die verneinende Kritik, sie hören unausgesetzt, wie einer den anderen herunterreißt, sie sehen nichts von praktischer Arbeit der Kommunistischen Partei für die arbeitenden Klassen. Hier aber beginnt die Aufgabe, die die Sozialdemokratische Partei, die auch die Sozialistische Arbeiterjugend an den an ihrem bisherigen Glauben irregewordenen jungen Arbeitern leisten muß.

Wir wollen ihnen sagen, daß wir nicht auf die Stunde warten dürfen, die uns "das Wunder" bringen, die uns mit einem Schlage an das Ziel unserer Sehnsucht tragen soll. Tag um Tag müssen wir arbeiten, an uns selbst und damit an unserer Klasse, dem Proletariat. Sozialismus ist nicht eine plötzliche Erfüllung, Sozialismus ist die Summe der Arbeit, die jeder von uns in der Familie, in der Organisation, im Beruf, in allen öffentlichen Körperschaften leisten muß. Sozialismus ist kein Glaube an das Wunderbare, an das Uebersinnliche, sondern die Erkenntnis davon, daß alle Entwicklung in der menschlichen Gesellschaft zu einer höheren Form des Zusammenlebens treibt, ist aber auch die Erkenntnis davon, daß es der Anspannung aller unserer Kräfte bedarf, um diese Entwicklung vorwärts zu tragen. Sozialismus ist nicht allein Kritik am Vergangenen und am Bestehenden, Sozialismus ist schöpferische Tätigkeit an jedem Platz, auf den uns die Geburt oder das Leben gestellt hat. Wenn wir so den Sinn unseres Daseins auffassen, dann werden uns die bürgerlichen Schriftsteller nicht verwirren, sondern wir werden im Gegenteil gerade aus ihren Werken einen Teil der Waffen schmieden können, die die Arbeiterklasse für ihren Befreiungskampf aus den Fesseln der kapitalistischen Ordnung braucht. Wir werden aber auch niemals aus Ungeduld zur Verzweiflung getrieben werden, weil wir stets über den Bezirk unseres eigenen, engen Lebens hinaus das Leben der Gesamtheit, die Aufgaben der Arbeiterklasse begreifen.

Leben heißt kämpfen. Und doppelt kämpfen muß, wer an der schöpferischen, an der aufbauenden Arbeit des Sozialismus teilnimmt. Wer aber in diesem Kampfe steht, der wird dieses Leben lieben, trotz allen Elends, das uns heute noch umgibt. Denn er weiß, daß unser eine bessere, eine glücklichere Zukunft wartet, die um so schneller kommen wird, je hingebender wir uns in den Dienst der großen Klassenbewegung des Proletariats stellen.

Arbeiter-Jugend, Monatsschrift der sozialistischen Arbeiterjugend, 19. Jahrgang, Heft 12, Berlin, 1. Dezember 1927