Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung


Online-Edition wichtiger Beiträge Eugen Pragers in der sozialdemokratischen Presse.

    Dokument:

    Die Frage nach dem Weg (II) / Eugen Prager - [Electronic ed.], 1920 - 19 KB, Text
    In: Freiheit. - 3 (27. August 1920) 352
    Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2006


Die Frage nach dem Weg
Von Eugen Prager

II.

Ausgehend von diesen Tatsachen untersucht Otto Bauer nunmehr die Frage, ob die Methoden des Bolschewismus auch für die Taktik der sozialistischen Parteien in Westeuropa richtunggebend sein können. Rußland, so führt er aus, ist jetzt in der Situation der Großen französischen Revolution. Die Diktatur einer kleinen Minderheit über das Volksganze sei dort ebenso geschichtliche Notwendigkeit, wie es in Frankreich in der Konventszeit war. Die west- und mitteleuropäischen Länder dagegen, in denen der Feudalismus schon in früheren Revolutionen zerschlagen worden ist, seien in der Lage der französischen Revolution von 1848. Hier könne das Proletariat seine Herrschaft nur dann aufrichten, wenn es allein dazu stark genug sei, wenn es also schon selbst die Masse der Nation bilde. Die Diktatur des Proletariats in Rußland sei nicht die Ueberwindung der Demokratie, sondern eine Phase der Entwicklung zur Demokratie. Wieweit die russische Gesellschaftsverfassung in Zukunft sozialistisch wird, wieweit sie kapitalistische Züge tragen wird, werde vor allem davon abhängen, ob und inwieweit indessen in der übrigen Welt der Kapitalismus überwunden, die sozialistische Güterproduktion und Güterverwaltung aufgebaut werde. Soweit die künftige Wirtschaft Rußlands sozialistisch sein werde, werde sie nicht im Rahmen eines despotischen Sozialismus verharren, sondern sich zu einem demokratischen Sozialismus weiterentwickeln, der jeden Zweig des Wirtschaftslebens der Selbstverwaltung aller an ihm beteiligten, von seinem Gedeihen abhängigen Persönlichkeiten übergibt. Im industriellen Westen, auf ungleich höherem Kulturniveau der Massen, werde die Herrschaft des Proletariats in der demokratischen Selbstverwaltung aller Zweige der Güterproduktion und Güterverteilung ihre Verwirklichung finden.

In West- und Mitteleuropa, sagt Bauer weiter, hat sich die Kapitalistenklasse aus dem Schoße des heimlichen Bürgertums entwickelt. Der russische Kapitalismus dagegen ist kein heimliches Gewächs. Er ist vom west- und mitteleuropäischen Finanzkapital nach Rußland verpflanzt worden. Der Mehrwert, den die russischen Arbeiter produzieren, wurde nicht in Petersburg und Moskau, sondern in Paris und London, in Brüssel und Berlin verzehrt. In West- und Mitteleuropa steht dem Proletariat eine kleine Mittelbourgeoisie gegenüber, die sich mit dem Großkapital viel stärker solidarisch fühlt als in Rußland. Hier hätte die soziale Revolution, in russischen Formen vollzogen, ganz andere Wirkungen als dort. Bauer sagt darüber:
"Die plötzliche, gewaltsame, ohne Entschädigung vollzogene Expropriation des Kapitals, die einfache Annullierung aller Mehrwertmittel, der Aktien und der Staatsschuldverschreibungen, der Hypotheken und der Pfandbriefe trifft in Rußland in der Hauptsache nur das große Kapital, und zwar vornehmlich das ausländische Großkapital. In West- und Mitteleuropa würde sie breite Massen des Kleinbürgertums, der Intelligenz, der Angestellten- und Beamtenschaft, der Bauernschaft, die ihre Ersparnisse, ihren Notpfennig, hier schon in den von dem modernen Finanzkapital entwickelten Formen, in Aktien, Staatsschuldverschreibungen, Pfandbriefen, anlegen, expropriieren und damit unvergleichlich schwerere soziale Erschütterungen hervorrufen als in Rußland. Wenn in Rußland das Kapital expropriiert wird, so werden unmittelbar Aktionäre der russischen Industriegesellschaften, wie in Paris in Brüssel, in London sitzen, und es werden dadurch mittelbar die französischen, belgischen, englischen Luxusindustrien, die für den Bedarf dieser Kapitalisten arbeiten, getroffen; wenn in West- und Mitteleuropa die Kapitalisten enteignet werden, so verlieren mit einem Schlage die heimlichen Luxusindustrien die Grundlage ihrer Existenz, es werden mit einem Schlage hunderttausende Kleingewerbetreibende, Arbeiter, Angestellte, Intellektuelle aller Art ihres Verdienstes beraubt, und die Ueberführung dieser Massen zu anderen Berufen ist ein sehr langwieriger und schmerzhafter Prozeß, es tritt hier also eine unvergleichlich schwerere wirtschaftliche Krise ein."

Der Kapitalismus in West- und Mitteleuropa hat nicht nur das städtische Bürgertum viel stärker an seine Interessen binden können, als in Rußland, er hat zugleich auf dem Lande seine feste Stütze gefunden in einer zahlreichen, wirtschaftlich starken, vom kapitalistischen Geiste erfüllten Bauernschaft. Die Bauernpolitik hat hier eine antiproletarische Entwicklung durchgemacht. Der Krieg hat diese Entwicklung noch beschleunigt. Zugleich aber haben Krieg und Revolution die landwirtschaftlichen Arbeiter geweckt. Große Massen von ihnen finden zum erstenmal den Weg zur gewerkschaftlichen Organisation und führen erfolgreiche Lohnkämpfe durch. Dadurch wird der Gegensatz zwischen der Bauernschaft und dem Proletariat überaus verschärft. Das Erwachen der landwirtschaftlichen Arbeiter ist vorläufig das wichtigste Ergebnis der mitteleuropäischen Revolution von 1918.

In Mittel- und Westeuropa kann die proletarische Revolution den landwirtschaftlichen Großbesitz nur sozialisieren; seine Aufteilung auf Kleinbauern und Landarbeiter kann sie nicht zulassen, wenn sie nicht die Landwirtschaft auf ein niedrigeres technisches Niveau zurückwerfen und damit nicht bloß für den Augenblick die Lebensmittelversorgung der Städte gefährden, sondern auf die Dauer die Lebenshaltung der Volksmassen herabdrücken will. Eine der wichtigsten und schwierigsten Aufgaben der proletarischen Revolution in West- und Mitteleuropa wird sein, dafür zu sorgen, daß die Revolution der Grundeigentumsverhältnisse durch die Staatsgewalt planmäßig und gemäß dem gesellschaftlichen Gesamtinteresse durchgeführt wird. Bauer führt weiter aus:
"Ueberhaupt könnte es der komplizierte Mechanismus des modernen Industriestaates nicht ertragen, daß die Umwälzung der Eigentumsverhältnisse in gleicher Weise der elementaren, instinktiven, planlosen Massenaktion überlassen wird, wie dies in Rußland im ersten halben Jahre nach der Oktoberrevolution geschehen ist. In Rußland besteht die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung noch aus Bauern; ihre Lebensmittelversorgung ist in keinem Falle gefährdet. Die Bevölkerung der Städte aber, die nur einen verhältnismäßig kleinen Teil der Gesamtbevölkerung bildet, kann zur Not immer durch Requisitionen in den riesigen Agrargebieten mit dem Notwendigsten versorgt werden. West- und Mitteleuropa, wo ein ungleich größerer Teil der Bevölkerung in Großstädten und dichtbevölkerten Industriegebieten zusammengedrängt wohnt, bedarf es eines ungleich komplizierteren Transports-, Verteilungs- und Austauschmechanismus, um seine Städte und Industriegebiete vor dem Hunger zu schützen. Jede Störung des gesellschaftlichen Stoffwechsels kann hier zur Hungerkatastrophe führen in der die Revolution selbst untergehen müßte. Die russische Revolution hat zunächst die ganze Maschinerie des Staates und der Volkswirtschaft anarchistischen, zerstörenden, elementaren Gewalten preisgegeben; erst nachdem durch sie die ganze bureaukratische Staatsmaschine und die ganze kapitalistische Organisation der Volkswirtschaft aufgelöst waren, ist sie dazu übergegangen, allmählich aus dem Chaos eine neue Ordnung zu gestalten. Gewiß ist dieses Verfahren das radikalste Mittel, den ganzen alten Herrschaftsapparat vollständig zu zerstören und die Elemente für einen Neubau vom Grunde aus freizusetzen. Aber eine so gewaltsame, so langwierige, die Kontinuität der staatlichen und wirtschaftlichen Verwaltung so völlig zerreißende Operation erträgt der robuste Körper eines Agrarlandes; der empfindlichere Organismus eines Industriestaates würde an ihr zugrunde gehen. In West- und Mitteleuropa wird die proletarische Revolution darauf bedacht sein müssen, daß der gesellschaftliche Stoffwechsel nicht unterbrochen wird. Sie wird daher keine kapitalistische Organisation zerstören dürfen, ehe nicht die sozialistische Organisation bereit steht, die sie ablösen und ihre Funktionen weiterversehen soll."

Bauer weist weiter darauf hin, daß die proletarische Revolution in West- und Mitteleuropa auch die internationalen Wirtschaftsbeziehungen nicht wird unterbrechen dürfen. Selbst innerhalb einer sozialistischen Organisation der Weltwirtschaft würden uns die amerikanischen Arbeiter ihre Arbeitsprodukte nicht ohne Gegenleistung überlassen, denn das würde ja bedeuten, daß die amerikanischen Arbeiter von uns ausgebeutet würden. Wenn wir also keinen Tausch mit Produkten unserer gegenwärtigen Arbeit ausführen könnten, so müßten wir Produkte unserer vergangenen Arbeit oder Anweisungen auf einen Teil unserer künftigen Arbeitserträgnisse als Zahlung hingeben. Solange die über die Lebensmittel und Rohstoffe verfügenden Länder kapitalistisch sind, muß die proletarische Revolution in Mittel- und Westeuropa erst recht diesen Tausch in den dem Kapitalismus eigentümlichen Formen vollziehen. Sie muß jede Unterbrechung des gesellschaftlichen Stoffwechsels zu vermeiden suchen, sie wird zunächst nur diejenigen Zweige der Produktion und des Handels nationalisieren können, in denen der Uebergang von der kapitalistischen zur sozialistischen Organisation ohne Unterbrechung der Produktion und des Vertriebes erfolgen kann. Bauer folgt zusammenfassend darüber:
"So muß die Wirtschafspolitik der proletarischen Revolution in West- und Mitteleuropa eine ganz andere sein als in Rußland. Wo das Proletariat einer wirtschaftlich und politisch unvergleichlich stärkeren, unvergleichlich stärker am Bestand des kapitalistischen Mehrwerttitel interessierten Kleinbourgeoisie, Intelligenz und Bauernschaft gegenübersteht, wo breite Schichten des werktätigen Volkes, deren Arbeit für die Gesellschaft unentbehrlich ist, an kapitalistischen Ausbeutungsformen unmittelbar und mittelbar interessiert sind; wo infolge der Verfeinerung und Differenzierung des volkswirtschaftlichen Mechanismus jede Unterbrechung des gesellschaftlichen Stoffwechsels zur Hungerkatastrophe führen kann, die unmittelbar die Konterrevolution herbeiführen müßte; wo ohne Auslandskredit und Kapitalimport Volksernährung und Rohstoffbeschaffung nicht gesichert werden können, dort kann die Wirtschaftspolitik der russischen Sowjetrepublik nicht nachgeahmt werden. In West- und Mitteleuropa kann man die gesellschaftliche Organisation nicht wie in Rußland zuerst ein halbes Jahr lang der zerstörenden Gewalt instinktiver Massenbewegungen überlassen, um daß nachher durch eine von einer kleinen Minderheit beherrschte Staatsgewalt den Volksmassen eine vom Grund neue Ordnung despotisch aufzwingen. Wir würden hier in der Phase der Zerstörung verhungern. Wir würden hier in der Phase der despotischen Neuordnung an dem Widerstand breiter Volksmassen, die im Rahmen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung unentbehrliche Funktionen ausüben, scheitern. Die Ueberführung der Volkswirtschaft aus den kapitalistischen in die sozialistischen Formen kann hier nicht zuerst alles, was besteht, zerstören, um nachher die Trümmer zu neuem Bau zusammenzufügen, sie darf hier die Kontinuität der staatlichen und volkswirtschaftlichen Verwaltung nicht unterbrechen, sie muß sich hier in allmählicher, planmäßiger, systematischer Umgestaltung der kapitalistischen Organisationsformen vollziehen."

Gegen diese Erkenntnis, so sagt Bauer weiter, wehre sich die Ungeduld breiter Arbeiterschichten. Sie sehen, daß das klassenbewußte Proletariat eine Minderheit in der Wählerschaft, seine Vertretung eine Minderheit in den demokratischen Parlamenten ist. Sie verzweifeln daher daran, mit den Mitteln der Demokratie die Macht zu erobern. Sie glauben, das Proletariat könne sich durch Vergewaltigung der besitzenden Klassen, durch die Aufrichtung einer Minderheitsdiktatur der Staatsgewalt bemächtigen. Aber diese Ansicht verkenne völlig, daß die Umwälzung der Gesellschafsverfassung mehr voraussetze als bloße Gewalt. Stoßen die geistigen Arbeiter und die landwirtschaftlichen Arbeiter zum industriellen Proletariat, dann sei das klassenbewußte Proletariat in jedem Industriestaat die Mehrheit des Volkes; dann könne es mit den Mitteln der Demokratie die Macht erobern und ausüben. Sei das noch nicht der Fall, dann seien die objektiven gesellschaftlichen Voraussetzungen des sozialistischen Ausbaues noch nicht erfüllt.

Zum Schlusse seiner Schrift befaßt sich Bauer mit der Frage, welche Formen die Diktatur des Proletariats dort annehmen müssen, wo es bereits die gesetzgebenden Körperschaften der Demokratie erobert habe. Sie werde hier nicht mehr als ein vorübergehendes Mittel zur Eroberung, Sicherung oder Befestigung der Demokratie sein können. Die Diktatur können hier nur den Boden sichern und befestigen, auf dem die ökonomische Aufgabe des Sozialismus in jahrzehntelanger demokratischer Arbeit zu bewältigen sein werde.

Soweit sich Bauer mit dem Wesen der Demokratie und der Diktatur des Proletariats beschäftig, kann man seinen Ausführungen nicht in allen Punkten zustimmen. Er überschätzt die Bedeutung der Demokratie in den kapitalistischen Ländern, er übersieht auch, daß die Bourgeoisie in ihnen selbst dann nicht auf ihr Vorrecht freiwillig verzichten wird, wenn das Proletariat die Mehrheit in den Parlamenten erobert hat. Das Aktionsprogramm der Unabhängigen Sozialdemokratie fordert aus dieser Erkenntnis den Ausbau des Rätesystems und ihre Schulung für die Diktatur des Proletariats, die erst dem Widerstand der Bourgeoisie gegen die Umwandlung der kapitalistischen Wirtschaftsanarchie in die planmäßige sozialistische Wirtschaft wirksam begegnen kann. "Die Diktatur des Proletariats", sagt unser Aktionsprogramm darüber, "ist ein revolutionäres Mittel zur Beseitigung aller Klassen und Aufhebung jeder Klassenherrschaft, zur Erringung der sozialistischen Demokratie. Mit der Sicherung der sozialistischen Gesellschaft hört die Diktatur des Proletariats auf und die sozialistische Demokratie kommt zur völligen Entfaltung"

Abgesehen von unserer abweichenden Stellung zu diesen Fragen kann man aber doch feststellen, daß die neue Schrift von Otto Bauer eine der wertvollsten Erscheinungen der marxistischen Literatur aus der letzen Zeit ist. Das macht, weil sie nicht von Glaubensbekenntnissen ausgeht und danach sich die Anschauungen formt, sondern von dem sicheren Boden der materialistischen Geschichtsauffassung aus die wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse untersucht und von hier aus zu den Ergebnissen zu gelangen sucht.

Freiheit, 27.08.1920