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Online-Edition wichtiger Beiträge Eugen Pragers in der sozialdemokratischen Presse.

    Dokument:

    Die Frage nach dem Weg (I) / Eugen Prager - [Electronic ed.], 1920 - 18 KB, Text
    In: Freiheit. - 3 (26. August 1920) 350
    Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2006


Die Frage nach dem Weg
Von Eugen Prager

I.

Der Riß, der durch die Arbeiterbewegung der einzelnen Länder ebenso wie durch die ganze Internationale geht, entspringt nicht so sehr den verschiedenartigen Zielen der einzelnen Richtungen, sondern der von ihnen gehandhabten Taktik. Das Ziel ist für alle sozialistischen Parteien das gleiche, die Verwirklichung des Sozialismus; wobei man jedoch einschränkend bemerken muß, daß die Frage, was Sozialismus sei, anders von einem englischen Fabier, anders von einem italienischen Reformsozialisten, anders von einem russischen Kommunisten beantwortet werden wird. Nur in der Frage nach dem Wege zur Erreichung dieses Zieles herrschen die weitgehendsten Verschiedenheiten von der friedlich sich vollziehenden Evolution bis zur diktatorisch aufgezwungenen Gewalt. Die materialistische Geschichtsauffassung lehrt uns, daß die Menschen das Produkt der Verhältnisse sind, in denen sie geboren und groß geworden sind; sie sagt uns aber auch, daß die wirtschaftlichen Verhältnisse die Grundlage bilden, auf der sich der geistige und politische Ueberbau der Gesellschaft und ihrer Staatsformen erhebt. So müßte also auch die Taktik der verschiedenen sozialistischen Parteien danach beurteilt werden, ob sie den jeweiligen wirtschaftlichen, politischen und geschichtlichen Verhältnissen ihres Landes entspricht. Es ist eine ganz unmarxistische Methode, mit einem fertigen, für alle Verhältnisse gleichen Maßstab, an die Wertung dieser Dinge heranzugehen.

Diese unmarxistische Methode wird aber leider vielfach bei unseren Parteiauseinandersetzungen angewandt. Das Urteil läßt sich in diesen Fällen nicht von der Erkenntnis der gegebenen Verhältnisse, sondern von dem Glauben an ein bestimmtes System, von dem Bekenntnis zu einer geduldigen Formel lenken. So ist auch in unseren Kreisen, in den ersten Revolutionsmonaten häufiger als jetzt, der Versuch unternommen worden, die Methoden, mit denen die Bolschewisten die politische Macht in Rußland erobert hatten, als das einzig mögliche Vorbild zu bezeichnen; diejenigen aber, die auf die verschiedenartigen wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse Rußlands und Deutschlands hinwiesen und deshalb verneinten, daß für beide Länder die gleiche Taktik angewendet werden könnte, wurden vielfach als Gegenrevolutionäre bezeichnet, trotzdem sie in fast allen Fällen eine einwandfreiere sozialistische und revolutionäre Vergangenheit hinter sich hatten, als ihre Kritiker. In denselben Fehler verfallen die russischen Kommunisten, indem sie von allen sozialistischen Parteien verlangen, daß sie sich derselben Methoden bedienen sollen, denen sie ihre Erfolge zu verdanken hatten. Auch sie vergessen hierbei, daß die Taktik jeder sozialistischen Partei abhängt von den wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen ihres Landes; sozialistische Grundsätze müssen zwar diese Taktik bestimmen, sie können aber keine wirtschaftlichen und politischen Tatsachen schaffen.

Um es auf eine kurze Formel zu bringen, so hängt die Beantwortung der Frage, welche Methode zur Eroberung der politischen Macht anzuwenden ist, für jede Partei von der wirtschaftlichen und politischen Lage ihres Landes, von der geistigen und kulturellen Beschaffenheit der für den Sozialismus zu gewinnenden Bevölkerung ab. Es steht "uns kein Urteil darüber zu, ob die Taktik der Bolschewisten richtig oder falsch ist; ebenso aber dürfen wir beanspruchen, auch unsere Taktik nach den Verhältnissen zu bestimmen, die wir in unserem Lande vorfanden. Was hier kurz formuliert ist, das hat Otto Bauer in einer jüngst erschienen Schrift *), die wir jedem Sozialisten auf dringendste empfehlen, ausführlich dargelegt. Indem er die Zustände Rußlands und Deutschlands untersucht und sie miteinander vergleicht, kommt er zu dem Ergebnis, daß die beiden Länder eine Gemeinschaft des Schicksals verknüpfe und daß diese Schicksals-Gemeinschaft eine Allianz der deutschen mit der russischen Revolution, nicht zum Kriege gegen Westen, sondern zu gegenseitiger Unterstützung beim sozialistischen Aufbau fordere. Aber diese Allianz könne nicht begründet werden auf die Gleichheit der Methoden des Kampfes und der Herrschaft, sondern nur auf die Gleichheit des Mutes, der Opferwilligkeit, des Enthusiasmus im Ringen nach dem Sozialismus.

Otto Bauer gibt zuerst einen Ueberblick über die Entwicklung der russischen Agrarverfassung und die Entstehung einer eigenen Industrie im Zarenreiche. Die Aufhebung der Leibeigenschaft im Jahre 1861 hat den russischen Bauern keine Befreiung aus ihrem alten Elend gebracht; die Herrschaft des Mir, die Feldgemeinschaft verschlechterte das Los der Bauern noch weiter besonders dadurch, daß deren Zahl sich unausgesetzt vermehrte, während das zu bebauende Land sich nicht vergrößerte. Die kulturelle Rückständigkeit ließ die Bauern nicht zur Erkenntnis ihrer Klassenlage kommen; es gab zwar wiederholt lokale Unruhen, die auch größeren Umfang annahmen, aber der Bauer revoltierte nur gegen den einzelnen Gutsherrn oder gegen einzelne Beamte, er führte noch nicht einen Klassenkampf gegen ein Ausbeute- und Herrschaftssystem. Erst die Verbindung mit dem industriellen Proletariat zu Beginn dieses Jahrhunderts machte sie fähig zur nationalen, zur sozialen Revolution.

Diese Revolution hat drei Ausbrüche erlebt. Nach den Niederlagen im russisch-japanischen Krieg trat im Jahre 1905 das industrielle Proletariat auf die Straße; die Riesenstreiks der städtischen Arbeiter weckten auch die Bauern. Diese Revolution wurde zwar niedergeschlagen, aber sie blieb nicht ergebnislos. Die Gegenrevolution suchte durch Agrarreformen die unhaltbar gewordenen Verhältnisse auf dem Lande zu bessern. Sie setzte sich zum Ziel, im russischen Dorf eine konservative Groß-Bauernschaft zu schaffen, die wie in Westeuropa eine Stütze der alten Ordnung werden sollte. Ehe dieses Ziel erreicht war, brach der Weltkrieg aus. Er schuf jene Riesenarmee uniformierter Bauern, die die der russischen Bauernschaft unerträglich gewordene Agrarverfassung sprengen, dem russischen Bauern das Herrenland erobern, die Ueberbleibsel des russischen Feudalismus in Trümmer schlagen mußte. Es kam zur zweiten russischen Revolution, als die Bauern in Uniform im Februar 1917 sich auf die Seite der hungernden Petersburger Arbeiter schlugen und das alte Regime stürzten.

Aber die bürgerliche Regierung, die den Zarismus ablöste, konnte die Forderungen der Bauern nicht befriedigen. Das Land unter den Bauern aufzuteilen, das hätte soviel bedeutet, als die russische Armee aufzulösen. Die provisorische Regierung wurde vom deutschen Imperialismus bedroht, zugleich war sie an den Imperialismus der Weltmächte gekettet, sie konnte keinen Frieden schließen, die Agrar-Umwälzung konnte von ihr nicht begonnen werden. Der Bolschewismus verhieß den Bauern sofortigen Frieden und sofortige Landverteilung. Als sich das Petersburger Proletariat im Oktober 1917 gegen Kerenski erhob, riß es große Teile der Armee mit sich, während die anderen sich auflösten und die Soldaten in ihre Dörfer auseinanderliefen, um bei der Bodenverteilung nicht zu kurz zu kommen. Das russische Proletariat hatte die Macht erobert, es konnte seine Herrschaft über Rußland aufrichten, weil der russische Bauer nur aus seiner Hand den Boden der Herren empfangen konnte. Was in West- und Mitteleuropa schon die bürgerliche Revolution vollzogen hatte, das geschah erst hier durch die proletarische Revolution: die Zertrümmerung des feudalen Landwirtschaftssystems, die Herstellung der bürgerlichen Eigentumsordnung auf dem Lande

Die ersten Agrargesetze der Sowjetrepublik standen unter dem Einfluß der Sozialisten-Revolutionäre. In das Jahr der Aufteilung des Landes fallen die heftigsten Kämpfe zwischen "Dorfbourgeoisie" und "Dorfarmut". Die Bolschewisten suchten die soziale Revolution auch auf dem Lande zu erweitern, indem sie die "Dorfarmut" organisierten. Das ist ihnen aber nicht gelungen und schließlich mußte jeder Versuch eines gewaltsamen Eingriffs in die Wirtschaft des Dorfes aufgegeben werden. Auf dem Sowjetkongreß vom März 1919 führte Lenin aus: "Nichts kann törichter sein, als ein gewaltiger Eingriff in die Sphäre der bäuerlichen Wirtschaft. Nicht die Expropriation des mittleren Bauern ist das Problem, sondern dies, mit den Besonderheiten des bäuerlichen Lebens zu rechnen, vom Bauern selbst die Methoden des Uebergangs zu einer besseren sozialen Ordnung zu lernen und nicht sie ihm zu kommandieren. In dieser Hinsicht, Genossen, haben wir nicht wenig gesündigt."

Die Sowjetmacht ließ nun den Bauern in seinem Dorfe nach seinem Gutdünken schalten, daneben wurden die Bemühungen, sozialistische Großbetriebe in der Landwirtschaft zu schaffen, fortgesetzt. Nach einem Bericht der "Russischen Korrespondenz" vom 2. Januar 1920 ist die Zahl der Sowjetwirtschaften, Agrarkommunen und Artels auf ungefähr 5000 gestiegen. Diese Großbetriebe der Landwirtschaft dürften zu Trägern des technischen Fortschritts werden und eine gesichertere Grundlage für die Ernährung der Städte bilden als die Dorfgemeinden.

Wie ist nun das Verhältnis der Bauern zur Sowjetverfassung? Die Bauernschaft ist in Rußland gegenüber dem industriellen Proletariat zahlenmäßig ungeheuer im Vorteil. Tatsache ist aber, daß der allrussische Rätekongreß in der überwiegenden Mehrzahl aus Vertretern des industriellen Proletariats gebildet wurde. Otto Bauer macht über die Gründe dieser Erscheinung folgende Angaben:
"Die Masse der russischen Bauern ist noch politisch unorganisiert, ungeschult, uninteressiert. Läßt der Staat sie nur in ihren Dörfern in Ruhe, so kümmert sie sich nicht darum, von wem und wie der Staat regiert wird. Nur kleine Minderheiten des Landvolkes haben stärkeres Interesse an allgemeinen politischen Fragen und stärkere politische Aktivität. Das System der mittelbaren Vertretung, auf dem die Sowjetverfassung beruht, hat nun den Zweck und die Wirkung, nur diese politisch aktiven Minderheiten zum Worte kommen zu lassen. Die Wahl des Dorfrates, der die Verwaltung des Dorfes führt, mag noch die ganze Bauernschaft interessieren. Aber schon die Wahl aus den Dorfräten in die Distriktsversammlungen interessiert die stumpfe Masse der Bauern weniger. Die in das Dorf heimgekehrten Industriearbeiter dagegen und die Bauern, die während des Krieges als Soldaten in der Stadt waren und dort in die revolutionäre Arbeiterbewegung hineingerissen worden sind, verstehen, daß die Distriktversammlungen die Zellen sind, aus denen sich der Körper des Sowjetstaates zusammensetzt. Sie haben für die Wahl weit mehr Interesse als die Masse der Bauern; und beweglicher, redegewandter als die anderen, setzen sie ihre Entsendung unschwer durch. So sehen schon die Distriktversammlungen anders aus als die Dorfräte; schon in ihnen sind die aktiven, revolutionären, proletarischen Minderheiten der Dörfer gewiß stärker vertreten als in den Dorfräten. Das wiederholt sich nun erst recht bei der Wahl der Vertreter der Distriktversammlungen in die Gouvernements-Sowjet-Kongresse. Den Durchschnittsbauern interessiert der Gouvernements-Kongress nicht; was kümmert ihn in seinem Dorfe die ferne Kongreßstadt? Die aktiven revolutionären Minoritäten der Distriktsversammlungen sind es, die die Vertreter in die Gouvernements-Kongresse schicken. Dort treffen sie nun mit den Vertretern der städtischen Räte zusammen, geraten unter ihre geistige Führung, stellen ihnen die Stimmen bei der Wahl der Abgeordneten der Gouvernements-Kongresse zum Allrussischen Rätekongreß. So kommt es, daß auch die Gouvernemets-Kongresse in der Regel nicht Repräsentanten der stumpfen, analphabetischen, konservativen Bauernmasse, sondern Vertreter des städtischen Proletariats und der von ihm geführten Dorfminoritäten zum Allrussischen Kongreß schicken. Dort stoßen dann die unmittelbaren Vertreter der städtischen Räte zu ihnen. So ist dem städtischen Proletariat die Herrschaft auf dem Kongreß gesichert. Der ganze Mechanismus des mittelbaren Vertretungssystems macht die Stärke der Vertretung der einzelnen Schichten von dem Grade ihres politischen Interesses, ihrer politischen Regsamkeit, ihrer politischen Aktivität abhängig; dadurch wird die politisch uninteressierte, wenig regsame, wenig aktive Masse der Bauern von der Vertretung ausgeschlossen und damit die Führung des ganzen "werktätigen" Volkes dem industriellen Proletariat oder vielmehr der politisch interessierten, regsamen, aktiven Schicht des städtischen Proletariats gesichert."

Otto Bauer habt dann hervor, daß es die Sowjetverfassung verhindert habe, daß die Bauern, nachdem ihr Landhunger einmal gestillt war, vielleicht ebenso schnell wieder nach rechts zurückgefallen wären. Stehe die Masse der Wahlberechtigten noch auf so niedriger Kulturstufe, so sei das allgemeine Wahlrecht, wie das Parteiprogramm der Guesdisten einst sagte, nicht ein Werkzeug der Befreiung, sondern ein Mittel der Prellerei. Die Sowjetverfassung die der juristische Ausdruck der realen Verhältnisse zwischen den Klassen. Sie sei dem Kulturzustand einer Nation angemessen, deren gewaltige bäuerliche Mehrheit zwar gemeinsam mit dem Proletariat den Herrschaftsapparat des kapitalistischen Staates gesprengt habe und gemeinsam mit dem Proletariat immer wieder die Konterrevolution abwehre, aber infolge ihrer Kulturlosigkeit nicht imstande sei, den mit ihrer Hilfe geschaffenen und verteidigten Staat mit zu beherrschen; sich vielmehr mit der Autonomie in ihren Dörfern bescheide, die Herrschaft im Staate der kleinen proletarischen Minderheit überlasse.

Freiheit, 26.08.1920