Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung


Online-Edition wichtiger Beiträge Eugen Pragers in der sozialdemokratischen Presse.

    Dokument:

    Vom Egoismus zum Sozialismus / Eugen Prager - [Electronic ed.], 1919 - 13 KB, Text
    In: Leipziger Volkszeitung. - 26 (30. April 1919) 97
    Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2006


Vom Egoismus zum Sozialismus

Es gibt eine Richtung in der Wissenschaft von der Natur, die dem Darwinschen Wort vom Kampf ums Dasein und von der Auslese der Tüchtigen die Auslegung geben will, daß alles Entwicklung der Natur und Gesellschaft abhängig sei von dem einen Gesetz, wonach unzählige Arten zugrunde gehen müssen, damit eine Art zu höherer Entwicklung gelange. Und was von den Arten gelte, das treffe auch auf die Einzelwesen innerhalb einer Art zu; sie kämpften miteinander um den besten Platz an der Futterkrippe und wer sich am widerstandsfähigsten erweise, der dränge die anderen, schwächeren, schlechter ausgestatteten Lebewesen zurück. Diese Auffassung hat also die Anwendung der rohen Kraft und der brutalen Gewalt des Einzelnen gegen die Gesamtheit als natürliches Entwicklungsprinzip zur Voraussetzung. Sie steht zwar im Widerspruch mit der Lehre von der allumfassenden Liebe Gottes, wird aber trotzdem auch in kirchlichen Kreisen vertreten; selbst katholische Theologen haben versucht, das Wort vom Kampf ums Dasein einzuordnen in die Dogmensammlung der alleinseligmachenden Kirche.

Es ist hier nicht der Ort, eine Untersuchung darüber anzustellen, ob Darwin mit dem Kampf ums Dasein, mit der Auslese der Tüchtigen wirklich den Egoismus als die Grundlage der Entwicklung in der Natur dargestellt hat. Jedoch, die Nutznießer der kapitalistischen Wirtschaftsweise haben dieses Wort begierig aufgegriffen, um daraus den Schluß zu ziehen, daß der Kapitalismus, der sich auf egoistischen, selbstsüchtigen Motiven aufbaut, eine von der Natur bestimmte und gewollte Einrichtung sei, und daß er nur den natürlichen wie den göttlichen Gesetzen entspreche, wenn ein kleiner Teil der Menschheit die Produktionsmittel besitze, um damit die übergroße Mehrheit der Nichtbesitzenden, die angeblich ungeeignet seien für die Höherentwicklung der menschlichen Art, auszubeuten. Zu Hilfe gekommen ist ihnen Friedrich Nietzsche mit der Lehre vom Uebermenschen, mit der Herren- und Sklavenmoral. Nun fühlen sich die Besitzer des Kapitals und ihre Handlanger erst als die wahren Herren der Welt. Auf der einen Seite die Kapitalsaneigner, die Junker, die Bureaukraten, die alle den Typus des höheren Menschen darstellen und deswegen berechtigt sind, die besten Speisen von der Tafel des Lebens zu genießen, auf der anderen Seite die große Masse des Proletariats, das Gewimmel der Lohnsklaven, die mit den Brosamen zufrieden sein müssen, die von der Herren Tisch fallen.

Politisch findet diese Lehre vom Egoismus, von der Selbstsucht ihren Ausdruck ebenso im Konservatismus, der mit brutalen Methoden die Privilegien der herrschenden Klassen verteidigt, wie im Liberalismus, der zwar freie Bahn für die Tüchtigen verspricht, diese Bahn in Wirklichkeit aber allen verschließt, die nicht im Besitz von Kapital sind, oder sich nicht in den Dienst des Kapitals stellen.

Nun haben aber genauere Beobachtungen der Natur gezeigt, daß nicht allein der Egoismus, der Kampf ums Dasein, die Anwendung der rohen Gewalt die Entwicklung bestimmen, sondern daß sie auch noch von einem ganz anderen Gesetz bewegt wird. Peter Kropotkin wies an zahlreichen Beispielen nach, daß in nicht geringem Maße die gegenseitige Hilfe in der Natur die Erhaltung und Höherentwicklung der Arten wie der Einzelwesen bestimmt, und daß vielfach der Egoismus, die schrankenlose Bestätigung des eigenen Ich die Gattungen zugrunde gerichtet hat.. Man braucht nur das soziale Leben etwa der Ameisen zu stellen neben die hemmungslose Befriedigung der eigenen Bedürfnisse der großen Raubtiere, um zu erkennen, daß nicht allein von der körperlichen Stärke und vom brutalen Kampf ums Dasein die Entwicklung der Natur bestimmt wird.

Erst recht gilt das von der Lehre vom Menschen, von der Gesellschaftswissenschaft. Haben wir nicht im Weltkrieg den deutlichsten Beweis dafür erhalten, daß der kapitalistische Kampf um die Futterkrippe die Menschheit an den Abgrund des Verderbens geführt hat, ist es jetzt nicht zum Gemeingut der ganzen Welt geworden, daß uns nur die gegenseitige Hilfe aus dem Elend retten kann? Das Wort von der Auslese der Tüchtigen, die Lehre von der Herrenmoral fand ihre eifrigsten Nachbeter in Deutschland. Tausendmal mußten wir hören, daß das deutsche Volk das auserwählte Volk der Erde sei, daß der Militarismus Deutschland befähige, dem Ansturm einer ganzen Welt standzuhalten, eine ganze Welt niederzuschlagen und die Herrschaft über diese Welt zu errichten. Der Krieg wurde als das beste Mittel gepriesen, um die zum Kampf ums Dasein schlecht ausgerüsteten Menschen und Völker zu beseitigen und eine Auslese der Tüchtigen zu ermöglichen. Das Gegenteil davon ist eingetreten. Deutschland liegt zerschmettert am Boden, der Krieg hat Millionen der gesündesten Menschen dahingerafft, andre Millionen zu Krüppeln gemacht, Verwüstung und Grauen in der Welt verbreitet.

Nicht der Egoismus ist es also, der in der Menschheitsgeschichte im besonderen den Fortschritt der Entwicklung bestimmt. Vielmehr muß gerade der Egoismus, der seine letzte Verkörperung im Kapitalismus findet, die menschliche Gesellschaft dem Untergang zuführen, wenn sich ihm nicht eine stärkere Macht entgegenstellt. Es ist der Sozialismus, die auf das gesellschaftliche Leben übertragene Lehre von der gegenseitigen Hilfe in der Natur, die der gequälten Menschheit Rettung bringen wird.

Es gab schon einmal eine Lehre von der gegenseitigen Hilfe, das war das Christentum, das die Nächstenliebe predigte. Aber die Verwirklichung der christlichen Lehre scheiterte daran, daß die bevorrechtigten Klassen sich in der Kirche ein Instrument zur Beherrschung der Besitzlosen schufen. Die Kirche zeigte dem Proletariat die Erlösung im Himmel, damit die besitzenden Klassen ungestört wie früher auf Erden ihren Geschäften nachgehen konnten. Der Sozialismus dagegen wartet nicht auf das Kommen des tausendjährigen Reichs, er erforscht die gesellschaftlichen Zusammenhänge, er weist nach, daß eine vollkommene Umgestaltung der wirtschaftlichen Verhältnisse notwendig ist, um das Proletariat vor gänzlicher Verelendung zu bewahren. Die körperliche und geistige Tüchtigkeit ist es nicht, die heute den einen Menschen vor zahllosen anderen bevorzugt, die eine kleine Klasse von Bevorrechtigten scheidet von der großen Klasse der Ausgestoßenen; es ist der Besitz an Kapital, das Privateigentum an Produktionsmitteln, der den einen Menschen über die große Masse seiner Nebenmenschen herrschen läßt. Um aber eine Beseitigung dieses Zustands herbeizuführen, muß die Klasse der Besitzlosen, die Klasse der Ausgebeuteten den Kampf führen gegen die Klasse der bBesitzenden, der Ausbeuter. Nicht um nur einen Besitzwechsel herbeizuführen, sondern um mit der Unterstellung der Produktion unter die Kontrolle der Gesellschaft den Egoismus der besitzenden Klasse und damit zugleich die Klassen selbst zu beseitigen.

Dieser Klassenkampf steht im Zeichen des Sozialismus. Nur das Proletariat kann der Träger des Sozialismus sein, weil es diesen Kampf nicht vereinzelt, sondern nur gemeinsam führen kann. Es muß alle Genossen zur Solidarität, zur Ausschaltung der Selbstsucht auffordern. Die gegenseitige Hilfe, die Hingabe des Einzelnen an die Gesamtheit, die Entschlossenheit für die Verwirklichung des Sozialismus sind die von selbst gegebenen Voraussetzungen für den Erfolg des Kampfes um die Befreiung der arbeitenden Klasse aus dem Joch des Kapitalismus. Nicht umsonst mündet schon das kommunistische Manifest aus in dem die Zeiten überdauernden Schlachtruf: Proletarier aller Länder vereinigt euch! Dieser Ruf hat in den Herzen der Arbeiter der ganzen Welt ein millionenfaches Echo gefunden. Und so überwindet der Sozialismus nicht nur die Selbstsucht der besitzenden Klassen, er ist auch stärker als der Egoismus der einzelnen Nationen.

Seinen erhebendsten Ausdruck findet das Bekenntnis des Proletariats zum Sozialismus in der Maifeier. Der große Gedanke der Solidarität aller Ausgebeuteten und Versklavten, heute drängt er stürmisch nach Erfüllung. Und wenn auch in Deutschland der erste Maitag nach dem Sturz des alten Gewaltregimes Zeuge ist von der Zerrissenheit der Arbeiterschaft, Zeuge davon, daß ein Teil des Proletariats in Mißachtung seiner revolutionären Bestimmung mit der Bourgeoisie paktiert, so gibt uns doch die Entwicklung die Gewißheit, daß der Tag nicht mehr fern ist, an dem sich die ganze Arbeiterklasse zum gemeinsamen Kampf für die Verwirklichung des Sozialismus zusammengefunden haben wird.

Der erste Mai 1919 auf dem Wege zum Sozialismus der erste Mai 1920 im Sozialismus!

Eugen Prager

Leipziger Volkszeitung, 26 (30. April 1919) 97