Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung


Online-Edition wichtiger Beiträge Eugen Pragers in der sozialdemokratischen Presse.

    Dokument:

    Die jungen Arbeiter in den Berichten der preußischen Gewerbeinspektoren / Eugen Prager - [Electronic ed.], 1913 - 17 KB, Text
    In: Arbeiter-Jugend. - 5 (7. Juni 1913) 12, S. 177-178
    Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2006


Die jungen Arbeiter in den Berichten der preußischen Gewerbeinspektoren

Wenn der Frühling ins Land kommt, dann erscheinen auch die Berichte der Gewerbeinspektoren, jener Beamten, die dazu eingesetzt sind, um die Ausführung der für den Arbeiterschutz geschaffenen Gesetze zu überwachen. Mit besonderem Interesse nimmt man die Berichte aus Preußen, dem größten und industriereichsten Bundesstaate, zur Hand. Aber jedes Jahr erlebt man die gleiche Enttäuschung. Man verspricht sich ein eindrucksvolles Bild von den Arbeits- und Lebensverhältnissen der gewerblich tätigen Bevölkerung, man hofft auf eine packende Schilderung der Nöte, unter denen die Arbeiterschaft heute zu leiden hat. In den ersten Jahren der Gewerbeinspektion konnte man auch in den Berichten auf solche lebendig dargestellte, wahrheitsgetreue soziale Zustandsschilderungen stoßen. Aber die preußische Regierung hat dem bald ein Ende gemacht, denn die Unternehmer hatten manches zu hören bekommen, was ihnen nicht angenehm in den Ohren klang. Heute sind die Berichte meistens trockene Aufzählungen; in ihnen spiegelt sich höchstens die Lebensfremdheit und die Feindschaft der preußischen Beamtenschaft gegen die Arbeiterklasse wider; sie sind mehr dazu bestimmt, die schlimmen Zustände zu verdecken, als sie bloßzustellen. Immerhin findet man auch in dieser unzureichenden Darstellung noch manches, was für die Oeffentlichkeit, zumal für die Arbeiterschaft, von Interesse ist. Heute soll mitgeteilt werden, was die preußischen Gewerbeinspektoren von den jungen Arbeitern und Arbeiterinnen zu erzählen wissen.

Die dem Buche beigefügten Tabellen geben über die Zahl der in revisionspflichtigen Betrieben beschäftigten jungen Arbeiter leider keine erschöpfende Auskunft. Man findet darin nur die jungen Leute bis zu 16 Jahren aufgeführt; in Wirklichkeit versteht man aber unter "Jugendlichen" die Arbeiter bis zu 18 Jahren. Den Gewerbeinspektionen unterstehen alle Betriebe, die mehr als 10 Arbeiter beschäftigen; dazu kommen einige Berufe, die auch in den Kleinbetrieben beaufsichtigt werden. Im Jahre 1912 gab es in ganz Preußen 169 605 (163 370) *) revisionspflichtige Betriebe mit 3 579 771 (3 415 556) darin tätigen Arbeitern und Arbeiterinnen. Davon beschäftigten 59 736 (56 732) Betriebe junge Arbeiter, die im Alter von 14 bis 16 Jahren stehen. Die Zahl der kontrollierten jungen Arbeiter betrug zusammen 274 378 (257 295); davon waren männliche 184 003 (170 945), weibliche 90 375 (86 350). In Prozenten ausgedrückt betrug die Zunahme bei sämtlichen Arbeitern 4,6, bei den jungen Arbeitern allein 6,6 Prozent.

Die Berichte stützen sich in der Regel auf die Mitteilungen der Unternehmer und auf die bei den Revisionen ermittelten Verhältnisse. Daß die Gewerbeinspektoren dem Arbeiterleben gewöhnlich recht fremd gegenüberstehen, das erklärt sich aus ihrer Herkunft und aus ihrer akademischen Vorbildung. Die Beamten stammen aus den Kreisen der von ihnen zu beaufsichtigenden Unternehmer und sind daher leicht geneigt, diesen mehr Glauben zu schenken als den Arbeitern. So heißt es in dem Bericht des Magdeburger Gewerbeinspektors: "In Arbeitgeberkreisen wird lebhaft darüber Klage geführt, daß die Leitung und Ausbildung des jugendlichen Nachwuchses im Fabrikbetriebe immer schwieriger werde, da der Sinn für Zucht und Ordnung und das Gefühl für die Autorität des Lehrherrn unter den jugendlichen Arbeitern infolge der Parteiagitation fortgesetzt schwänden." Wer zwischen den Zeilen lesen kann, der wird wissen, daß sich diese Behauptung gegen die freie Jugendbewegung richtet. Daß sie durchaus unrichtig und töricht ist, brauchen wir hier nicht zu beweisen. Die freie Jugendbewegung will die jungen Arbeiter zu selbständigen Charakteren erziehen. Das besagt aber nicht, daß sie disziplinlos werden sollen. Wenn schon von Parteiagitation die Rede ist, dann sollte man eher die staatlich unterstützte und geförderte "Jugendpflege" kritisieren, die doch nur zur Bekämpfung der Sozialdemokratie, also zu einem eminent parteipolitischen Zwecke, ins Leben gerufen wurde und denn auch gar keine Bedenken trägt, in ihren öffentlichen Veranstaltungen, also gewissermaßen unter den Augen des Staatsanwalts, politisch auf die Jugend einzuwirken, d.h. die Gesetze zu übertreten.

Eine gleichwertige Aeußerung finden wir in dem Bericht aus dem Regierungsbezirk Erfurt. Dort ist die Rede davon, daß manche Unternehmer die Verkürzung der Arbeitszeit für Arbeiterinnen wegen des Mißbrauchs, den angeblich viele, namentlich junge Mädchen, mit ihrer freien Zeit treiben, für schädlich halten. "Ein Teil der jungen Mädchen," so wird in dem Bericht gesagt, "spaziert umher oder sucht sich in den so beliebten Lichtspielhäusern usw. Unterhaltung zu verschaffen. ... Während für die männliche Jugend durch die Bestrebungen der Jugendpflege schon manches getan wird, sind die jungen Arbeiterinnen in der Regel völlig sich selbst überlassen." Es soll gar nicht geleugnet werden, daß viele, sehr viele junge Arbeiter und Arbeiterinnen ihre freie Zeit nicht im Interesse ihrer körperlichen Gesundheit und geistigen Fortbildung verwenden, sondern sie mit zwecklosen und schädlichen Vergnügungen totschlagen. Aber die Unternehmer haben nicht das Recht, sich über das Spaziergehen der jungen Mädchen zu entrüsten. Ihren eigenen Töchtern ist in den meisten Fällen das ganze Leben weiter nichts als ein Spaziergang von einem Genuß zum anderen. Sollen wirklich die Arbeiterkinder nichts anderes vom Leben kennen lernen als die Ausbeutung in der Fabrik und das Elend zu Hause? Freilich, der Gewerbeinspektor, der diese Meinungsäußerung der Unternehmer wiedergebt, ahnt schon etwas von den wahren Ursachen der Vergnügungssucht so mancher jungen Fabrikarbeiterin. Er sagt nämlich, daß der Einfluß der Eltern auf sie sehr gering sei "und daß die Wohnungsverhältnisse nicht überall ausreichen". Als Heilmittel dagegen empfiehlt er die Ausdehnung der "Jugendpflege" auf die weibliche Arbeiterjugend. Wir dagegen sind der Meinung, daß unsere, die freie Jugendbewegung, immer tiefer auch in diese Kreise eindringen muß. Und wo wir selbst an die jungen Arbeiterinnen nicht herankommen, da muß der elterliche Einfluß uns in unseren Bemühungen um die wirtschaftliche und geistige Hebung der weiblichen Arbeiterjugend weit mehr unterstützen, als dies leider bisher vielfach der Fall war.

Auch in den diesjährigen Berichten der preußischen Gewerbeinspektoren werden wieder viele Fälle von Ausbeutung junger Arbeiter aufgeführt. Einiges davon sei erwähnt. Im Regierungsbezirk Gumbinnen wurde in einer Molkerei mit Motorbetrieb ein junger Arbeiter Sonntags beschäftigt. Das Amtsgericht sprach den Verwalter frei, weil er sich nicht so eingehend um die Molkerei kümmern könne. Auch die Strafkammer hob in ihrem freisprechenden Urteil hervor, daß der Jugendliche die Arbeit ja freiwillig geleistet habe, und daß man doch niemand verwehren könne, zu arbeiten, wo und wann er wolle. Erst das Oberlandesgericht verurteilte den Angeklagten zu der niedrigsten Strafe von 3 Mark. - In 13 Betrieben des Regierungsbezirks Potsdam wurden junge Leute zu lange beschäftigt, und in 44 Betrieben erhielten sie nicht die vorgeschriebenen Pausen. Im Bezirk Frankfurt a.O. beschäftigte ein Tischlermeister einen dreizehnjährigen Knaben täglich zehn (!) Stunden, was er damit entschuldigte, daß er dessen Alter nicht gekannt habe. Er wurde vom Schöffengericht freigesprochen, von der Strafkammer jedoch zu 13 Mark Geldstrafe verurteilt. - In einer Buchdruckerei war ein junger Arbeiter an zwei Tagen bis nach Mitternacht beschäftigt worden. Das Schöffengericht verurteilte den Unternehmer, trotzdem er wegen ähnlicher Vergehen schon vorbestraft war, nur zu 5 Mark Geldstrafe! - Im Regierungsbezirk Oppeln wurde in den Schlossereien und Metallverarbeitungswerkstätten eine auffallende Nichtachtung der gesetzlichen Bestimmungen über die Beschäftigung der jungen Arbeiter beobachtet. "Dieser unerfreuliche Zustand," heißt es in dem Bericht, "zu dessen Beseitigung in mehreren Fällen auf gerichtliche Bestrafung gedrungen werden mußte, dürfte nicht zuletzt auf die außergewöhnlich hohe Anzahl von Lehrlingen zurückzuführen sein, die in manchen Betrieben beschäftigt werden. ... Mitunter wurden bei den Besichtigungen Werkstätten angetroffen, in denen die Lehrlinge sich allein überlassen waren. In einem Falle waren neben einem Gesellen 16 Lehrlinge (!) tätig."

In einer Ziegelei des Regierungsbezirks Cassel war ein dreizehnjähriger Knabe von Mitternacht bis 5 Uhr morgens mit der Befeuerung des Ringofens beschäftigt. Der Meister erhielt dafür die geringfügige Strafe von 10 Mark. Der Inhaber einer Düsseldorfer Wäscherei wurde zu 30 Mark verurteilt, weil er eine junge Arbeiterin im Anschluß an ihre Tagesarbeit auch noch die Nacht über beschäftigt hatte. Der Geschäftsführer einer Buchdruckerei in Köln wurde zu 40 Mk. Geldstrafe verurteilt, weil er trotz wiederholter Aufforderung den jungen Arbeiterinnen keine halbstündige Mittagspause gewährt hatte. Zwei Sägewerksbesitzer im Regierungsbezirk Trier setzten die elfstündige Beschäftigung junger Arbeiter auch nach ihrer Bestrafung, die allerdings recht niedrig ausgefallen war, sorglos fort. In einem Malzwerk wurden junge Leute während der Nacht häufig mit unzulässigen Arbeiten beschäftigt. In einer Ziegelei mußten sie ebensolange wie die erwachsenen Arbeiter, nämlich 11 ½ Stunden täglich, arbeiten. Bezeichnend ist die Mitteilung, daß dort die bevorstehende Ankunft des Gewerbeinspektors stets bekannt war. Das dürfte nicht der einzige Fall sein, wo der Unternehmer über die bevorstehende Revision unterrichtet ist und alles tun kann, um Mißstände und Ungesetzlichkeiten zu verschleiern.

Wie ist es überhaupt zu erklären, daß Verstöße gegen die zum Schutze der jungen Arbeiter getroffenen Bestimmungen , trotzdem diese doch wahrlich eng genug begrenzt sind, so überaus zahlreich vorkommen? Die Antwort lautet: Die Strafen sind zu gering und stehen in keinem Verhältnis zu dem Vorteil, den der Unternehmer aus der ungesetzlichen Ausbeutung der jungen Arbeiter zieht. Die Richter stammen eben auch aus demselben Gesellschaftskreise wie die angeklagten Unternehmer und sind leicht geneigt, diesen mildernde Umstände zuzubilligen, zumal der Arbeiter von weiten Schichten des Bürgertums als schicksalbestimmtes Ausbeutungsobjekt der herrschenden Gesellschaft betrachtet wird. Bei den jungen Arbeitern vollends wird das Sprichwort "Lehrjahre sind keine Herrenjahre" von den Unternehmen sehr oft so ausgelegt, daß der Lehrling widerstandslos in ihre Gewalt geliefert sei. Oben haben wir schon einige Male angegeben, wie gering die Strafen bemessen werden. Hier seien noch einige kennzeichnende Fälle angeführt: Ein Unternehmer im Regierungsbezirk Merseburg, der schon früher wegen Vergehens gegen die Gewerbeordnung mit 5 Mk. bestraft worden war, erhielt wegen dauernder Nichtachtung einer gesetzlichen Bestimmung ganze 3 Mk. Strafe; allerdings hatte auch der Strafantrag des Amtsanwalts nur auf 3 Mk. gelautet. Der Besitzer und der in dessen Abwesenheit verantwortliche Buchhalter einer Konservenfabrik im Bezirk Lüneburg wurden vom Schöffengericht gleichfalls nur zu je 3 Mk. verurteilt, obwohl sie über vierzig Kinder im Alter von sieben bis zwölf Jahren während der Schulferien etwa acht Tage lang täglich zehn Stunden (!) mit dem Enthüllen von Bohnen beschäftigt hatten; vom Landgericht wurden die Strafen auf 20 und 10 Mk. erhöht. Die auffallend milde Strafe von 5 Mk. erhielt im Regierungsbezirk Arnsberg der Betriebsleiter einer Filzfabrik, der einen schulpflichtigen Knaben zehn Stunden lang in einem Raume beschäftigt hatte, in dem junge Arbeiter nicht beschäftigt werden durften; der Junge hatte überdies bei dieser Beschäftigung einen Unfall erlitten.

So bieten auch die diesjährigen Berichte über die Gewerbeaufsicht in Preußen eine Bestätigung dessen, was immer wieder von der Arbeiterschaft gesagt wird: Der Arbeiterschutz ist durchaus unzulänglich und die Ausführung des Arbeiterschutzgesetzgebung läßt sehr viel zu wünschen übrig. Die Vertreter der Arbeiter sorgen in den gesetzgebenden und verwaltenden Körperschaften unablässig dafür, daß diese Verhältnisse gebessert werden. Auch die jungen Arbeiter und Arbeiterinnen können an ihrem Teil in dieser Richtung tätig sein. Sie müssen sich Kenntnisse in der Arbeiterschutzgesetzgebung aneignen, besonders soweit ihre besonderen Interessen in Frage kommen, damit sie wissen, was ihnen zusteht, und fordern können, was ihnen an Rechten vorenthalten wird. Vor allem aber müssen sie die freie Jugendbewegung stärken, um mit deren Hilfe die Mißstände abzuschaffen, denn nur die Gesamtheit kann das erreichen, was der einzelne nicht durchzusetzen vermag.

Eugen Prager

Arbeiter-Jugend, Berlin, 07. Juni 1913, Nr. 12