Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung


Online-Edition wichtiger Beiträge Eugen Pragers in der sozialdemokratischen Presse.

    Dokument:

    Mit Schneeschuhen im Riesengebirge / Eugen Prager - [Electronic ed.], 1913 - 16 KB, Text
    In: Arbeiter-Jugend. - 5 (18. Januar 1913) 2, S. 28-29
    Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2006


Mit Schneeschuhen im Riesengebirge
Von Eugen Prager

In diesem Jahre war der Winter zeitig auf den Höhen des Riesengebirges eingekehrt. Den hochgelegenen Bauden hatte er schon im Oktober ein weißes Kleid angezogen, und sie trugen es noch, als wir zu zweien Mitte Dezember den höchsten Bergen Norddeutschlands unseren Besuch abstatteten. Drunten auf der schlesischen Seite, in Schmiedeberg, Krummhübel und Hermsdorf, gab es Tauwetter und die Straßen waren mit Schlamm bedeckt. Unsere Skis, die wir zu Hause so sorgfältig mit Leinöl eingefettet und hernach mit Wachs eifrig geglättet hatten, sie ließen sich von uns auf den Schultern tragen und machten sich die steilen Wege so schwer, als wollten sie unserem Schaden noch ihren stillen Spott zufügen. Aber bald änderte sich das. Wir waren von Schmiedeberg aus zur Tannenbaude hinaufgestiegen; dort sahen wir im Walde die ersten Schneespuren. Es dauerte nicht mehr lange, so wurde aus den weißen Flecken eine zusammenhängende Fläche, und als wir an den Forstbauden angelangt waren, die etwa 900 Meter hoch liegen, da gab es soviel Schnee, daß wir unsere Schneeschuhe von den Schultern nehmen und ihrem Zwecke zuführen konnten, nämlich an den Stiefeln befestigt zu werden. - Freunde, über das Skilaufen ist schon vieles geschrieben worden. Wer aber könnte in Worte kleiden, welche Herrlichkeiten sich einem beim Gebrauche der Schneeschuhe offenbaren! Man gleitet auf den langen Hölzern die einsamen Winterwege entlang. Die Welt ist still. Wir bleiben stehen, und es scheint, als wenn jeder Laut erstorben sei. Im Herbst, wenn die Singvögel nach dem warmen Süden gezogen sind und die Natur sich scheinbar zum Sterben anschickt, da gibt es immer noch Leben und mannigfache Geräusche im Walde. Ein Rabe krächzt; ein Käuzchen schreit; ein Eichhörnchen springt über den Weg; hier fällt ein welkes Zweiglein zu Boden; dort läßt sich langsam ein totes Blatt hernieder. Aber wenn der Schnee seine Decke über das Land gebreitet hat, da wird alles still. Und doch ist uns Suchenden auch hier das Leben nicht erstorben. Neue Schönheiten entdecken, neue Formen spüren wir auf. Die Stille, die Einsamkeit spricht in einer ungewohnten aber eindringlichen Sprache zu uns, und je weniger wir von den kleinen Ereignissen des Alltags gefesselt werden, desto tiefer geht uns die Erkenntnis von der Größe, von der Unendlichkeit, von der Herrlichkeit der Natur auf. In solchen Stunden der Einsamkeit mögen in den Jahrtausenden vor uns die Menschen nach einem Ausdruck ihrer Gefühle gesucht haben; das ihnen Unbegreifliche gestalteten sie sich zum Geheimnis, sie schufen sich den Begriff der Gottheit, die das ihnen Unbekannte geschaffen haben müsse.

Wir zwei Wandersleute aber, die nicht die Furcht in die Einsamkeiten der Natur geführt hatte, sondern der Wunsch, die Schönheiten unserer Welt, wenigstens zu einem kleinen Teile, auszukosten, wir ließen nur zuweilen die majestätische Stille des Bergwaldes auf uns wirken. Denn die Dezembertage sind kurz, und je höher man im Riesengebirge steigt, desto seltener stößt man auf menschliche Ansiedelungen. Um die Mittagsstunde unseres ersten Wandertages waren die Grenzbauden erreicht, die dort liegen, wo Deutschland und Österreich zusammenstoßen.

Hier, 1046 Meter hoch, steckte alles schon im tiefsten Winter. Aus dem Walde fuhren die Gebirgsleute auf Hörnerschlitten das Holz nach den Bauden oder in die tiefer gelegenen Dörfer. Oder sie besorgten, gleich uns auf Schneeschuhen, ihre Wandergänge. Nach der österreichischen Seite hin hatten wir eine herrliche Rundsicht; freilich sahen jetzt die Berge anders aus als zur Sommerzeit, so daß wir oft Mühe hatten, die uns von früher bekannten Gegenden wiederzuerkennen.

In anderthalb Stunden, so sagte man uns, würden wir auf der Schneekoppe sein, die 1605 Meter hoch liegt. Diese Voraussage hat sich nicht erfüllt, denn wir brauchten fast drei Stunden dazu. Wir fuhren die Fichtiglehne und den Riesenkamm entlang. Zuerst ging es ganz schön. Wir waren im tiefverschneiten Walde; der Schnee war pulvrig, es ging gemächlich bergan. Aber bei etwa 1800 Meter Höhe hörte der Wald auf, Knieholz und Felsen bedeckten den Boden; der Berg war durch Pfähle bezeichnet. Es wurde nebelig und begann zu dunkeln; ein scharfer Wind pfiff uns um die Ohren und warf uns den feinen Schnee ins Gesicht. Dazu war es ziemlich kalt; der Weg ging steil hinan, im Zickzack mußten wir emporklimmen, wollten wir auf unseren Ski nicht zurückgleiten. Leider besaßen wir keine Fellstreifen, die man im Hochgebirge beim steilen Bergansteigen unter die Ski bindet, um deren Zurückgleiten zu verhindern. So kamen wir auf den Einfall, die Bretter loszuschnallen und ohne sie unser Heil zu versuchen. Da ging es uns aber erst recht schlimm, denn der Schnee war hier oben wohl einen Meter tief: wir versanken oft bis an die Hüften in der losen Masse und waren herzlich froh, als wir wieder die Ski an unseren Füßen hatten. - Schon dachten wir daran, wieder nach den Grenzbauden zurückzukehren. Es war dunkel geworden. Kein Laut um uns, kein Lichtlein in der Ferne, der Himmel ganz dunkel. Nur die Pfähle gaben uns einen Anhalt. Wir waren schon sehr erschöpft, und da wir wieder im Zickzack gehen mußten, so lag die Gefahr nahe, daß wir vom Wege abkommen und uns verirren würden. Aber nach einer kleinen Ruhepause faßten wir neuen Mut und klommen wieder aufwärts. Jeder Schritt war mit einer Kraftanstrengung verbunden; wir mußten uns vor dem Gleiten in acht nehmen und hatten noch mit dem starken Winde zu kämpfen. Aber schließlich langten wir doch auf dem Gipfel der Schneekoppe an, mehr tot als lebendig und als wir die freundlichen Lichter der Baude sahen, da schien es uns, als seien wir aus schwerer Gefahr erlöst worden.

Die deutsch-österreichische Grenze geht über die Koppe hinweg; es steht eine preußische und eine böhmische Baude dort oben, die im Sommer stark besucht sind. Im Winter kommen aber fast nur Skiläufer herauf, zu deren Bewirtung nur eine Baude, die böhmische, offengehalten wird. Die Bauden im Riesengebirge waren ursprünglich einzeln gelegene, einfach gebaute Häuser, in denen die Kuhhirten und Holzfäller nächtigten, wo aber auch Reisende ein einfaches Quartier finden konnten. Heute sind aus vielen dieser Bauden recht stattliche Gebäude geworden, die wie Hotels bewirtschaftet werden und auf den Besuch luxusgewohnter Touristen eingerichtet sind. Wer aber einigermaßen Bescheid weiß, der kann auch heute noch im Riesengebirge angenehme und dabei verhältnismäßig billige Unterkunft finden. Seit einigen Jahren, seitdem sich hier der Wintersport nicht allein auf die altbewährten Hörnerschlittenfahrten beschränkt, sind die meisten Bauden auch des Winters geöffnet, mehrere haben sogar Zentralheizung in allen Zimmern. Und das Geschäft lohnt sich, denn von Weihnachten bis zu Ostern wimmelt es auf dem Riesengebirgskamm und seinen Seitenwegen von Skiläufern und Rodlern. Wir trafen freilich noch recht wenig Winterwanderer an; auf der Koppe waren wir die einzigen Gäste.

Am nächsten Tage ging es wieder bergab. Zuerst an der 200 Meter tiefer am Fuße des Koppenkegels gelegenen Riesenbaude vorbei, dann durch das Aupatal nach dem Dorfe Petzer. Auf der österreichischen Seite lag viel Schnee, aber es war dunstig, wir hatten keine Fernsicht. Eine gute "Abfahrt" entschädigt den Skiläufer tausendfach für die Anstrengungen des Aufstieges, und so gings in schnellem Lauf ins Tal hinab; wie der Wind waren wir unten. Nach kurzer Pause stiegen wir wieder bergan, an der neuen Richterbaude vorbei über die Geiergucke nach der Wiesenbaude, die 1410 Meter hoch liegt. Unterwegs schloß sich uns ein dreizehnjähriger Knabe an, der einen Hörnerschlitten bergan zog. Im Winter, so erzählte er uns, müssen die Bergbewohner auf die Höhen, um das im Sommer geerntete Heu und das eingesammelte Fallholz herunterzuholen. Die Waldungen auf der böhmischen Seite gehörten dem "Herrn Grafen", der eines seiner Schlösser irgendwo in der Nähe habe, und viele männliche Gebirgsbewohner seien für ihn als Forstarbeiter tätig. Früher, so sei es in der Schule erzählt worden, hatten sie für den "Herrn Grafen" roboten müssen; heute sei man besser daran, denn man bekomme doch wenigstens Lohn. Er sei, so berichtete der Junge weiter, der jüngste von drei Brüdern. Der eine sei Kellner in einem preußischen Badeort, der zweite Knecht in einem böhmischen Dorfe. Er selbst solle, wenn er aus der Schule komme, Holzfäller werden, was der Vater sei und was schon der Großvater gewesen ist. So wird auch dieses junge Proletarierleben verlaufen wie so viele ähnliche neben ihm: in harter Fronarbeit - und für diesen Knaben wird von den Herrlichkeiten der Welt nicht viel übrig bleiben, trotzdem er mitten drin lebt!

Die Wiesenbaude, die wir am Abend erreichten, ist die älteste Baude auf dem Riesengebirgskamm. Schon im 18. Jahrhundert ist sie von berühmten Naturforschern als Standquartier für ihre wissenschaftlichen Ausflüge benutzt worden. Heute ist es eine stattliche Gebäudegruppe, die diesen Namen trägt. Eine ausgedehnte Viehwirtschaft wird hier oben betrieben, viele Personen sind auf der Baude beschäftigt. Auch im Winter wird ein reger Verkehr mit der Außenwelt unterhalten, und fortwährend fahren Pferdeschlitten nach Petzer hinab und wieder herauf. Wir fanden gutes und billiges Unterkommen, und während draußen bei 10 Grad Kälte ein heftiger Wind ging, ließen wir es uns in der warm durchheizten Gaststube wohl sein. - In dichtem Nebel und bei scharfer Kälte, den Wind immer vor uns, liefen wir am dritten Tage unserer Wanderung den Kamm entlang bis zur ebenso hoch gelegenen Prinz-Heinrich-Baude, die eine der elegantesten und teuersten des ganzen Gebirges ist. Von da hatten wir einen anstrengenden und mitunter auch gefährlichen Weg bis zur Spindlerbaude, die 200 Meter tiefer liegt. Eine Stunde lang mußten wir die Ski hinter uns herziehen und zu Fuß gehen, denn aus dem tiefen Schnee ragten spitze Felsstücke heraus, die schon manchem Skiläufer Unheil gebracht haben. Wenn man bei schneller Abfahrt an so ein Hindernis anstößt, dann kann man von Glück sagen, wenn man mit dem Leben davonkommt. Auch uns passierte hier ein Mißgeschick, allerdings eins von tragikomischer Art. Wir hatten die Schneeschuhe an Bindfaden befestigt und ließen sie uns nachgleiten. Dabei stieß dem einen von uns ein Ski an einen Felsen, der Bindfaden riß, und ehe wir es uns versahen, entfloh uns das Holz in die Tiefe. Wir glaubten es schon verloren, denn in dem Nebel konnten wir kaum fünfzig Schritte weit sehen, und es war gefährlich, von dem nur durch Pfähle bezeichneten Wege abzuweichen und dem Flüchtling in die ungewisse Tiefe nachzueilen. Aber in unserem Unglück hatten wir doch wieder Glück. Einer von uns ging der Spur im Schnee nach, und schon nach fünf Minuten fand er den Ausreißer an einem großen Felsen, wo er im Schnee steckengeblieben war. Bald darauf konnten wir unsere Schneeschuhe wieder anmachen, und um die Mittagspause war die Peterbaude erreicht, die einen sehr besuchten Ausgangspunkt für die Schlittenfahrten nach Agnetendorf und Spindelmühle bildet. Nachmittags stiegen wir wieder bergan, kamen über die Große Sturmhaube und das Hohe Rad und landeten in der Dunkelheit in der Schneegrubenbaude.

Am letzten Tage, wir hatten derer leider nur vier für unsere Wanderung zur Verfügung, fuhren wir an der Elbquelle vorbei, von der man allerdings jetzt nichts sah, über die Elbfallbaude und Martinsbaude und erreichten wieder die Große Sturmhaube. So hatten wir zum Schlusse und eine herrliche Abfahrt bis kurz vor Agnetendorf, wo der Schnee zu Ende war.

Aus der großen Einsamkeit des Riesengebirges waren wir wieder im unruhigen Treiben der Menschen angelangt. Wir hatten unsere Lungen mit reiner Luft vollgepumpt, unsere Erinnerung mit tiefen Eindrücken bereichert. Das Alltagsleben nahm uns wieder auf, aber gern denken wir an diese Wandertage zurück, in denen wir die Größe und die Schönheit der Natur erkennen durften.

Beilage zur "Arbeiter-Jugend", Nummer 2, Berlin, 18. Januar 1913, 5. Jahrgang