Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung


Online-Edition wichtiger Beiträge Eugen Pragers in der sozialdemokratischen Presse.

    Dokument:

    Eine sozialistische Ferienkolonie in England / von Eugen Prager - [Electronic ed.], 1912 - 12 KB, Text
    In: Mitteilungen des Vereins Arbeiterpresse. - 13 (15. Februar 1912), 104, S. 2-4
    Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2006


Eine sozialistische Ferienkolonie in England
Von Eugen Prager, Erfurt

Allen Kollegen, die noch nicht derart erholungsbedürftig sind, dass Sie das vom Vorstand des Vereins "Arbeiterpresse" vorgeschlagene Sanatorium in Thüringen aufsuchen müssen, sei dringend empfohlen, ihre Sommerferien einmal im Socialist Holiday Camp bei Gaister on Sea in England zuzubringen. Vorbedingungen für den Aufenthalt sind:
ein wenig Kenntnis der englischen Sprache und Verzichtleistung auf "komfortable" Hotelverpflegung.

Das Sozialistische Ferienlager wurde vor sechs Jahren vom Genossen Fletcher Dodd gegründet. Zunächst war er mit einigen Freunden allein da; dann inferierte man in den englischen Parteiblättern, der Besuch wurde immer stärker, und im vorigen Jahre war der Andrang so stark, dass viele Anmeldungen zurückgewiesen werden mussten. Man trägt sich jetzt mit dem Gedanken, ein zweites Camp zu gründen. Man schläft in wasserdichten und windfesten Zelten, die auf einem grünen Plan stehen und Holzboden haben. Die Einrichtung ist einfach, aber ausreichend: Bett, Waschkommode und Stuhl. Die Zelte haben verschiedene Größen, zwei bis 5 Personen können darin schlafen. Die Mahlzeiten werden im Klubraum eingenommen, einer großen, geschlossenen Halle. Hier kann man sich bei schlechtem Wetter aufhalten, hier finden auch die Abendunterhaltungen statt. Außerdem ist noch eine kleinere Halle da, die zum Lesen und Schreiben dient.

Der Aufenthalt im Camp regelt sich in folgender Weise: Um 7 1/2 Uhr weckt die große Trompete des Genossen Dodd die Schläfer aus ihrer Ruhe, die im Camp immer süß ist. Um 8 Uhr gibt es Frühstück. Nicht Kaffee und Brötchen wie bei uns, sondern auf englische Art: Haferbrei mit Zucker und Milch, gebratenem oder rohem Schinken, gebackenem Flunder, Brot mit Marmelade, frische Früchte, Kaffee und Tee. Der deutsche Normalmagen wird davon gleich dem englischen so satt, dass man froh ist, erst um 1 Uhr durch die Trompete zum Mittagessen gerufen zu werden. Dieses besteht aus Fleisch, Gemüse, Kartoffeln, Pudding; dazu Kompott und andere Beilagen, wie Mixed - Pickles und Walnüsse. Um 5 Uhr ist Teezeit. Da gibt es wiederum Kaffee und Tee, dazu Brot und die richtige englische Marmelade - nicht unser deutsches Produkt aus gefärbter Stärke-, Kuchen Salat und frische Früchte. Das Abendbrot wird während der Abendunterhaltung eingenommen; es besteht aus Butterbrot, Kakes, Käse und Milch.

Was zwischen diesen Essenszeiten liegt, wird mit Baden, Sport und Spiel oder Spazieren gehen ausgefüllt. Der Strand ist etwa 10 Minuten vom Camp entfernt. man findet keine beutelustigen Unternehmern dort, die dem Gast das Geld aus der Tasche locken. Das Ufer bildet einen zerklüfteten Abhang; in einem Winkel ziehen sich die Frauen, im andern die Männer um. Und es gehr auch so; ich habe niemals irgendeine Ungezogenheit bemerkt. Die See hat starken Wellenschlag, der Strand ist ziemlich steinfrei, Selbstverständlich wird im Camp auch Tennis und Kricket gespielt.

Der Aufenthalt ist sehr billig: 21 Schillinge die Woche (1 Schilling etwas mehr als 1 Mark), Trinkgelder werden nicht gegeben. Wer an Bier und sonstiges alkoholisches Getränk so sehr gewöhnt ist, dass er es auch in den Ferien nicht missen kann, der wird im Camp eine Enttäuschung erleben; es gebt dort nichts Alkoholhaltiges! Das Camp ist zwar keine Gründung von Abstinenten, aber der Alkohol ist doch ausgeschaltet. Gutes Quellwasser steht zur Verfügung, und wer sich mehr leisten will, der kauft sich für einen Penny (8 Pfennige) eine Flasche Limonade. Gelegenheit zum Geldausgeben ist fast gar nicht da. So stellt sich der Aufenthalt hier viel billiger als in den offiziellen Bädern und Sommerfrischen, wo man sich auf Schritt und Tritt von privater Profitgier umgeben sieht. Allerdings sei nicht verschwiegen, dass die Cämper nicht nur Vergnügen zu kosten kriegen, sondern auch Pflichten zu erfüllen haben. Alle Tage wird ein "Komitee" gebildet, das nach den Essenszeiten die Tische abräumt und das Geschirr zu spülen hat, Aber man kommt nur alle fünf, sechs Tage dran, und da man sich immer zu einem halben Dutzend zu dieser ehrenamtlichen Tätigkeit versammelt, so gibt es immer viel Spaß dabei.

Aber was für mich den Hauptreiz ausmachte: Man lernt im Camp liebenswürdige Menschen kennen. Der englische Sozialist ist von anderem Holze als der deutsche Sozialdemokrat. Ihr Sozialismus ist viel mehr allgemeine Kulturbewegung als proletarischer Klassenkampf, viel mehr Empfindungs- als Verstandessache. Ich traf neben einer Anzahl bessergestellter Arbeiter einen Geistlichen von der Landeskirche, mehrere Angestellte aus englischen Ministerien, Lehrer, Kaufleute, Beamte von der Post und der Eisenbahn an. Vorherstellte ich mir die Engländer als steif und unzugänglich vor und war ganz erstaunt, als ich hier das Gegenteil beobachten konnte. Nie zuvor habe ich so viel Entgegenkommen, so viel Uneigennützigkeit beisammen gesehen. Bei allen Gelegenheiten zeigte sich das. Beim Essen wurde nicht ängstlich auf den Platz des Nachbarn geschielt, ob der sich nicht etwa zuviel genommen habe. Im Gegenteil; war ein Teller leer, so nahte sich bald eine hilfreich Hand von der Seite oder von hinten, um noch "more" zu bringen. Hier freute man sich darüber, wenn jeder viel aß. denn dazu war man doch im Camp.

Unvergesslich sind mir die Abende am Meer. Da lagerte sich die ganze Gesellschaft an den Strand, es wurden englische Volkslieder gesungen, bis das Schweigen der Nacht sich über die Unendlichkeit des Meeres gebreitet hatte. Dan begannen im Klubraum die Abendunterhaltungen. Fast jeder aus der Gesellschaft trug etwas vor. Einige sangen und rezitierten ganz gut, bei anderen nahm man den Willen für die Tat. Es wurde auch getanzt, zuweilen gab es richtige Konzerte oder "Fancy dress dances". Das sind unsere Maskenbälle, zu denen man sich in Ermangelung von stilvollen Kostümen Phantasieverkleidungen aus Tischtücher, Bettdecken, Papier und ähnlichem zurechtmachte. Um elf Uhr aber musste Ruhe sein, da hieß es, in die Zelte gehen uns schlafen.

Das Socialist Holiday Camp liegt etwa eine deutsche Meile nördlich von Great Yarmouth, einem großen Hafen- und Badeplatz. Von Deutschland aus kommt man entweder über Hamburg dahin: Mit dem Dampfer nach Harwich, mit der Eisenbahn bis Great - Yarmouth, dann mir der Tram bis Gaister und zuletzt noch zehn Minuten zu Fuß. Oder über Köln - Rotterdam oder Vlissingen nach London, von dort mit der Eisenbahn oder mit dem Dampfer (Belle Steamer, Abfahrt London - Bridge) nach Great - Yarmouth. Wer in London Aufenthalt nehmen will, der tue es erst auf dem Rückwege, denn er wird im Camp sicher manche Bekanntschaft machen können, die ihm in London von Wert sein wird Die Kosten für die Überfahrt belaufen sich in der zweiten Klasse auf 30 bis 50 Mk. hin und zurück. Da der Aufenthalt im Camp billig ist, so kommt einem dieser Besuch in fremdem Lande nicht allzu teuer. Bemerkt sei noch, dass das Camp zwar eine private Gründung ist, die Überschüsse werden aber der Partei - F. L. P. und S. D. P. - zugeführt. Jedem Camper steht das Recht zu, in die Abrechnung Einsicht zu nehmen und so eine gewisse Kontrolle auszuüben.

Der Sekretär des Unternehmens schickt an Interessenten gern Prospekte. Seine Adresse ist:

Mr. Fletcher Dodd, Gaister on Sea, Great - Yarmouth, Socialist Camp England. Auch bin ich im Interesse der sympathischen Veranstaltung gern bereit, nähere Mitteilungen zu machen.



Mitteilungen des Vereins Arbeiterpresse, Nr. 104, Berlin, 15. Februar 1912, XIII. Jahrgang