Chronik der deutschen Sozialdemokratie / Franz Osterroth ; Dieter Schuster. -
[Electronic ed.]. - Berlin [u.a.]
Insbesondere der stellvertretende Parteivorsitzende, Bundeskanzler H. Schmidt , sowie Arbeitsminister H. Ehrenberg und der Vorsitzende der IG Bergbau und Energie, Adolf Schmidt , warnen vor den katastrophalen Folgen, die ein solcher Beschluss für die Energieversorgung und die Arbeitsplätze in den betroffenen Branchen haben würde. H. Schmidt und andere sind dafür, die Koppelung der Teilerrichtungsgenehmigung für neue Atomwerke weniger präzise zu formulieren. Zuvor schon hatte H. Schmidt durchblicken lassen, er werde sich unter Berufung auf seine Richtlinienkompetenz als Regierungschef nicht an einen Parteitagsbeschluss gebunden fühlen, den er nicht verantworten könne. Doch nachdem die Freien Demokraten mit deutlicher Mehrheit die Forderung nach einer Koppelung, die faktisch einen mehrjährigen Baustopp bedeuten würde, aufgegeben haben, und auch der DGB vor unverantwortlichen Verzögerungen beim Bau weiterer Kernkraftwerke gewarnt hat, vollzieht sich auch bei der SPD ein Meinungsumschwung. Der Parteivorstand beschließt zur Auseinandersetzung um die Stamokap-Theorien: Die SPD heißt in ihren Reihen jeden willkommen, der sich zu den Grundwerten und Grundforderungen des Godesberger Programms bekennt. Der Parteivorstand muss jedoch darauf achten, dass die Haltung aller Parteimitglieder in Grundsatzfragen eindeutig und das Bild der SPD als der demokratischen Reformpartei in der Öffentlichkeit klar ist. Anhänger von Stamokap-Theorien haben es selbst zu vertreten, dass in der Partei Zweifel an ihrem Bekenntnis zu unseren Grundwerten und Grundforderungen entstanden sind. Alle verantwortlichen Sozialdemokraten sollten deshalb bereit sein, nicht nur das Godesberger Programm offensiv und argumentativ zu vertreten, sondern auch die inhaltliche Auseinandersetzung mit Anhängern oder Befürwortern der Stamokap-Richtung zu suchen. In der Auseinandersetzung um Stamokap-Theorien muss jeder wissen: Wer Auffassungen gegen die Grundwerte und Grundforderungen des demokratischen Sozialismus vertritt, kann nicht Mitglied der SPD sein. Dies gilt sowohl für die Forderung nach einer ,Diktatur des Proletariats als auch für eine Gegnerschaft zum demokratischen Staat. Wer Bündnisse mit der DKP und ihren Hilfsorganisationen oder mit anderen antidemokratischen Parteien und Organisationen anstrebt und pflegt, verstößt gegen geltende Beschlüsse der Partei. Und er verliert seine politisch-moralische Glaubwürdigkeit angesichts der Bekämpfung und Verfolgung des demokratischen Sozialismus im Herrschaftsbereich der jeweiligen kommunistischen Gesinnungsbrüder dieses ,Bündnispartners. Die notwendigen Folgen für sein Handeln hat er sich selbst zuzuschreiben. Wer die Möglichkeit konstruktiver Reformen für mehr Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität in diesem und durch diesen Staat grundsätzlich verneint, kann sinnvoll nicht Mitglied in der Reformpartei SPD sein wollen. Die Auseinandersetzung um Stamokap-Theorien und deren Anhänger in der SPD muss politisch-inhaltlich geführt werden. Der Parteivorstand wird auch in Zukunft keine Stelle für ,ex-cathedra-Textauslegungen sein. Im Interesse der Gesamtpartei muss er jedoch diese Auseinandersetzung so führen, dass klar ist, wo die SPD steht und wo nicht. Die Anhänger von Stamokap-Theorien entscheiden dabei durch ihre politischen Handlungen selbst, ob sie sich noch im Rahmen der Grundwerte und Grundforderungen des Godesberger Programms bewegen oder nicht. W. Brandt informiert den Parteivorstand, dass J. Steffen mit sofortiger Wirkung sein Mandat im Parteivorstand niederlegt. J. Steffen teilt in einem Brief mit, dass er keine neue Partei gründen werde. Bundeskanzler H. Schmidt betont in seinem Bericht über die Lage im Entführungsfall H. M. Schleyer , die Absicht der Terroristen, die Organe der Bundesrepublik Deutschland in ihrer Handlungsfreiheit zu beeinträchtigen, sei bisher gescheitert. Es gebe keinen Stillstand der Politik. Regierung und Parlament hätten zu keinem Zeitpunkt aufgehört, ihre für Staat und Gesellschaft notwendige Arbeit zu leisten. Man werde auch zukünftig das normale Geschäft des Regierens nicht schleifen lassen. Dies dürfe nicht dahin missverstanden werden, als ob es irgendeine Art der Gewöhnung an terroristische Gewalttaten gebe. Der Bundeskanzler unterstreicht, dass er sich an der von einigen Politikern und Kommentatoren provozierten öffentlichen Debatte über Schuldzuweisungen hinsichtlich der Entstehung des Terrorismus nicht beteiligen werde. Als möglicherweise unausweichlich bezeichnet es der Bundeskanzler, schon jetzt gesetzgeberische Maßnahmen einzuleiten, mit denen den jüngsten Erfahrungen Rechnung zu tragen sei. Zur Bekämpfung des Terrors gehört nicht zuletzt die moralisch-politische Auseinandersetzung mit Ursachen und Folgen des Terrorismus. Woher stammt der Nihilismus, der aus den Taten der Terroristen spricht? Wodurch wurden sie zu Verbrechern und wodurch werden sie in ihrem verbrecherischen Tun bestärkt? Für die Sozialdemokraten ist selbstverständlich, dass es gegenüber diesen Verbrechern keine Gleichgültigkeit geben darf. Wer für Mörder Verständnis zeigt oder unverantwortlich schweigt, trägt mit die Verantwortung dafür, dass dem Terrorismus neue Mittäter und Helfer erwachsen. Für die Sozialdemokraten ist ebenso verständlich, dass unsere Gesellschaft, zu deren Herausforderungen auch der Terrorismus gehört, weiterhin friedlicher, demokratischer Reformen bedarf. Die Bundesschiedskommission der SPD lehnt K.-U. Benneters Berufung gegen seinen Ausschluss ab.
Online-Suppl. Erweiterung des Berichtszeitraums von Mitte 1977 bis zur Jetztzeit /
Autor: Dieter Schuster.
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2003 ff
Stichtag:
19. Sept. 1977
Gegen den Willen von Bundeskanzler H. Schmidt und Bundesfinanzminister H. Apel - sie sind bei der Abstimmung nicht anwesend (Sitzung des Krisenstabes) - verabschiedet der SPD-Parteivorstand mit 11 zu 10 Stimmen den Leitantrag zur Kernenergie für den kommenden Parteitag. Darin heißt es, weitere Atomreaktoren sollten erst gebaut werden, wenn die erste Teilerrichtungsgenehmigung für das in Gorleben geplante Entsorgungszentrum vorliege. Angesichts des langwierigen Verfahrens, das zur Zeit vom niedersächsischen Sozialministerium abgewickelt werde, sei damit jedoch frühestens in zwei bis vier Jahren zu rechnen.