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TITEL/INHALT

Chronik der deutschen Sozialdemokratie / Franz Osterroth ; Dieter Schuster. - [Electronic ed.]. - Berlin [u.a.]
Online-Suppl. Erweiterung des Berichtszeitraums von Mitte 1977 bis zur Jetztzeit / Autor: Dieter Schuster.
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2003 ff

Stichtag:
23./24. Juni 1978

In Essen findet die Bundeskonferenz der Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Juristen statt. In einer umfangreichen Entschließung warnt die ASJ eindringlich vor nazistischen und neonazistischen Erscheinungen der jüngeren Zeit. Sie fordert die staatlichen Organe auf, hiergegen im Rahmen der bestehenden Gesetze strafrechtlich vorzugehen sowie die Tätigkeit entsprechender Organisationen und die Verbreitung von Druckschriften neonazistischen Inhalts zu unterbinden. Darüber hinaus verlangt die ASJ eine verstärkte Aufklärung in Öffentlichkeit und Schulen über den Nationalsozialismus und neonazistische Gefahren. In diesem Zusammenhang wird der baden-württembergische Ministerpräsident Hans Filbinger zum sofortigen Rücktritt aufgefordert, da er auf Grund seiner Tätigkeit als Marine-Richter und wegen der von ihm abgegebenen Rechtfertigung in diesem Amt untragbar sei. Erneut kritisiert die ASJ die gegenwärtige unerträgliche Praxis der systematischen Überprüfung und Gesinnungsschnüffelei bei Bewerbern für den und Bediensteten im öffentlichen Dienst. Entschieden wendet sich die ASJ gegen die körperlichen Untersuchungen von Strafverteidigern, durch die jetzt auch unverdächtige Rechtsanwälte diskriminiert würden. Sie sieht hierin eine Verletzung der Menschenwürde des Rechtsanwalts und damit auch des Rechts des Bürgers auf einen Verteidiger, der gleichberechtigtes und beachtetes Organ der Rechtspflege sein soll und nicht grundlos als Komplize von Terroristen eingestuft werden darf.

An die SPD-Bundestagsfraktion richtet die ASJ die Aufforderung, noch in der laufenden Legislaturperiode den Entwurf eines Gesetzes einzubringen, dass unter Wahrung der berechtigten Gestaltungsrechte der Tarifvertragsparteien die Rechte und Pflichten der Partner eines Arbeitsvertrages gesetzlich festschreibt (Arbeitsverhältnisgesetz). Dabei setzt sich die ASJ insbesondere für eine entscheidende Verbesserung des Kündigungsschutzes ein, da nach allgemeiner Erkenntnis das geltende Kündigungsschutzgesetz keinen Bestandsschutz gewährt. Deshalb fordert die ASJ die volle Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers bis zur endgültigen Wirksamkeit der Kündigung.

Bei der Wahl des neuen ASJ-Bundesvorstandes wird der bisherige Bundesvorsitzende R. Wassermann mit überzeugender Mehrheit in seinem Amt bestätigt. Zu seinem Stellvertreter wird Rechtsanwalt Werner Holtfort gewählt. Weiteres Mitglied des neuen Bundesvorstandes ist Hertha Däubler-Gmelin .

In Brüssel findet eine Konferenz der sozialdemokratischen Parteivor-sitzenden aus den Ländern der Europäischen Gemeinschaft statt.

W. Brandt betont dabei: „Die Europäische Gemeinschaft sollte ihr Verhältnis zu den Vereinigten Staaten auf der Grundlage der Gleichberechtigung und der partnerschaftlichen Zusammenarbeit weiter konstruktiv ausgestalten. Dabei kann es sich nicht darum handeln, einseitigen Interessen zu dienen oder eigene Interessen zu vernachlässigen. Worauf es ankommt, ist die gemeinsame Suche nach Lösungen für gemeinsame Probleme und eine Abstimmung der jeweiligen Interessen im Respekt vor der Identität des Partners. Die Voraussetzungen für ein neues Weltwährungssystem müssen geschaffen, die Wachstumsbedingungen gestärkt werden. Im Übrigen erwarten wir, dass jede nationale Regierung ernste Anstrengungen unternimmt, um der Vollbeschäftigung näher zukommen und die Voraussetzungen für ein neues internationales Währungssystem zu schaffen. Wir müssen uns mit Nachdruck dafür einsetzen, dass der EG-Beitritt der dazu entschlossenen Länder so reibungslos wie nur möglich vollzogen werden kann. Angemessene Übergangsfristen liegen im allseitigen Interesse, aber an der Weichenstellung darf kein Zweifel sein. Die Demokratisierung im Süden unseres Kontinents ist von gesamteuropäischer Bedeutung. Die wirtschaftlichen Voraussetzungen zu schaffen, damit die jungen Demokratien auch lebensfähig sind, ist ein Gebot europäischer Solidarität. Die deutschen Sozialdemokraten setzen sich daher für ein Solidaritätsprogramm Südeuropa ein.

Neben der Fortführung der Entspannung wartet eine zweite weltweite Aufgabe auf Europa: den Ausgleich zwischen Nord und Süd, zwischen Industrienationen und Dritter Welt nachdrücklich zu fördern. Die Entwicklungen auf dem afrikanischen Kontinent erinnern uns täglich daran, dass die Zeit des machtpolitischen Interventionismus noch immer nicht vorbei ist, dass die Überwindung von Rassismus und Restkolonialismus zu vollenden bleibt und dass Europa sich nicht mit Machtstrukturen identifizieren darf, die geschichtlich überholt sind.„

Die Parteivorsitzenden der elf sozialdemokratischen Parteien in der Europäischen Gemeinschaft einigen sich auf eine gemeinsame Politische Erklärung zu den Europawahlen: „Wir, die Sozialdemokratischen Parteien der Europäischen Gemeinschaft, erklären gemeinsam gegenüber den Wählern in unseren Ländern, dass wir in Frieden ein Europa auf der Grundlage von Freiheit, harmonischer wirtschaftlicher Entwicklung, sozialer Gerechtigkeit und Gleichheit aufbauen wollen. Vorrangiges Ziel der Sozialdemokraten überall in der Europäischen Gemeinschaft ist die Befreiung des Menschen von jeglicher Ausbeutung, Abhängigkeit und Not und die Verstärkung der Rechte und Möglichkeiten jedes einzelnen Bürgers. Um dies zu erreichen, müssen wir eine Änderung der Wirtschaft- und Gesellschaftsstruktur in unseren Ländern anstreben. Mit Besorgnis stellen wir folgendes fest: Die Schwierigkeiten, angesichts der derzeitigen Gesellschaftsstruktur das gewaltige Problem der Arbeitslosigkeit zu lösen; dass eine Entwicklung zu weniger Gleichheit und Solidarität stattfindet, die sich in einer Vertiefung der Kluft zwischen reichen und armen Ländern in der Welt, aber auch in der Europäischen Gemeinschaft, äußert; dass unkontrollierte Produktions- und Verbrauchssteigerungen, insbesondere in den reicheren Regionen der Welt, zu Raubbau an den vorhandenen Ressourcen und zur Verschmutzung der Natur führen, und zwar auf Kosten sich verschlechternder Lebens- und Arbeitsbedingungen für Millionen von arbeitenden Menschen. Dem können Sozialdemokraten nicht tatenlos zusehen. In der Verpflichtung gegenüber künftigen Generationen und den Millionen von Menschen in bitterer Armut ist es unsere Aufgabe, uns in der Beanspruchung der natürlichen Ressourcen einzuschränken, und zu einer gerechteren Verteilung des Wohlstands sowohl innerhalb der Gemeinschaft, als auch zwischen der Gemeinschaft und der Dritten Welt beizutragen.„


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