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TITEL/INHALT

Chronik der deutschen Sozialdemokratie / Franz Osterroth ; Dieter Schuster. - [Electronic ed.]. - Berlin [u.a.]
Online-Suppl. Erweiterung des Berichtszeitraums von Mitte 1977 bis zur Jetztzeit / Autor: Dieter Schuster.
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2003 ff

Stichtag:
11. Juni 1978

Auf einer Veranstaltung der Friedrich-Ebert -Stiftung in der Frankfurter Paulskirche anlässlich der hundertsten Wiederkehr des „Gesetzes gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie„ sagt W. Brandt : „Die hundertste Wiederkehr des Gesetzes veranlasst uns zum Nachdenken. Man darf sich nicht damit zufrieden geben, dass wir über Weimar weit hinausgelangt sind und der demokratischen Rechtsstaatlichkeit in der Bundesrepublik eine solide Chance gegeben haben. Die deutschen Sozialdemokraten meinen nicht, die Geschichte und das gegenwärtige Erscheinungsbild ihrer Partei seien frei von Irrtümern und Fehlern. Wir bilden uns nicht ein, über den Stein der Weisen zu verfügen. Aber wir sind stolz auf unsere Geschichte und auf den Dienst an unserem Volk: Dies ist der Weg, der von der kleinen belächelten Minderheit zur großen fortschrittlichen Volkspartei führte. Vom rechtlosen Proletarier zum gleichberechtigten Staatsbürger. Vom begrenzten Männerwahlrecht zum Wahlrecht für alle. Vom Obrigkeitsstaat zum Bürgerrecht auf Mitwirkung, auch auf Mitbestimmung. Den Weg zur Bürgerdemokratie freigeschaufelt und mitgestaltet zu haben, das rechtfertigt, gewiss nicht im Zorn, sondern mit gesundem Selbstbewusstsein zurückzublicken.

Eine Partei vom Zuschnitt der SPD muss sich immer auch als Kampfgemeinschaft begreifen. So können und dürfen wir also der Frage nach dem Handlungsspielraum und wie wir ihn nutzen, nicht ausweichen. Was wäre, so sollten wir uns zwischendurch immer mal wieder selbstkritisch fragen, was wäre Deutschland und der Welt erspart geblieben, wenn die Sozialdemokraten stärker, einflussreicher und schlagkräftiger gewesen wären! Godesberg gehört zu einem der tiefsten Wandlungsprozesse, den die SPD je durchgemacht hat. Wobei ich wohl weiß, dass die stärkste generationsmäßige und soziologische Umkrempelung erst ein Jahrzehnt später einsetzte. Wir wollten Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität nicht mehr nur beschwören, sondern schrittweise und - nicht mehr als Außenseiter - um ihre Verwirklichung ringen. Nun konnte sich die SPD der Gesellschaft gegenüber unbefangen öffnen und Volkspartei werden, ohne ihren aus der Arbeiterbewegung stammenden Auftrag zu vernachlässigen. Jetzt war sie besser in der Lage, gesellschaftlichen Wandel aufzunehmen und konstruktiv zu beeinflussen. Im selben Maße, wie sich die SPD öffnete und schließlich - in jüngster Zeit - nahezu ein Spiegelbild der Gesellschaft wurde, im selben Maße, wie die Mitglieder und Anhänger der Sozialdemokratischen Partei die Verhaltensnormen der Gesamtgesellschaft zu teilen begannen, mussten ihr die Eigenschaften einer zunächst unterdrückten und dann isolierten Partei zwangsläufig abhanden kommen. Aber es wäre ein Jammer, wenn nicht doch etwas vom Geist der ursprünglichen Gesinnungs- und Kampfgemeinschaft wachgehalten würde und lebendig bliebe. Wir verstehen uns auch als die große deutsche Freiheitspartei, und so soll es bleiben.„


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