Chronik der deutschen Sozialdemokratie / Franz Osterroth ; Dieter Schuster. - [Electronic ed.]. - Berlin [u.a.]
3. Nach dem Zweiten Weltkrieg. 2., neu bearb. und erw. Aufl. 1978.
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2001

Stichtag: März 1977

Der Parteivorstand der SPD veröffentlicht einen von Bundesforschungsminister H. Matthöfer zusammengestellten Diskussionsleitfaden »Energie«. Im Geleitwort schreibt W. Brandt: Die friedliche Nutzung der Kernenergie ist zu einem die innenpolitische Diskussion beherrschenden Thema geworden. Die politischen Parteien haben dies erst spät erkannt. Lange Jahre wurde die Auffassung nachgebetet oder fortgeschrieben, mit dem Verzicht auf Atomwaffen und dem Beitritt zum Atomwaffensperrvertrag sei für die Bundesrepublik die nukleare Problematik ausgestanden. Parteitagsprotokolle der fünfziger Jahre spiegeln im Hinblick auf die Möglichkeiten der Atomkraft eine nicht geringe Euphorie auch der Sozialdemokraten wider.
Diese Stimmung hat sich heute grundlegend geändert. Es setzt sich die Erkenntnis durch, daß eine breite Anwendung der Kernenergie ernstzunehmende Risiken mit sich bringt und daß es Bereiche gibt, in denen die Grenzen zwischen militärischen und friedlichen Anwendungen fließend sind. Auch den Befürwortern der Kernenergie gilt sie heute eher als notwendiges Übel denn als die herbeigesehnte Lösung aller Energieprobleme. Es ist das unbestreitbare Verdienst von Bürgerinitiativen, durch hartnäckige Proteste die Probleme der Kernenergie ins öffentliche Bewußtsein gerückt zu haben.
Wir erkennen das Bemühen der Bundesregierung an, sich in der seit einigen Jahren laufenden Diskussion offen und mit dem deutlichen Willen zu beteiligen, auch in Jahrzehnten entstandene und verfestigte Positionen neu zu überdenken.
Darüber hinaus ist aber die SPD mit ihren Mitgliedern, Funktionären und Mandatsträgern gefordert, nicht den Bürgerinitiativen das Feld zu überlassen, sondern im politischen Raum Stellung zu beziehen.