DIGITALE BIBLIOTHEK DER FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG

DEKORATION DIGITALE BIBLIOTHEK DER FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG DEKORATION


TITEL/INHALT

Chronik der deutschen Sozialdemokratie / Franz Osterroth ; Dieter Schuster. - [Electronic ed.]. - Berlin [u.a.]
3. Nach dem Zweiten Weltkrieg. 2., neu bearb. und erw. Aufl. 1978.
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2001

Stichtag:
16. Dez. 1976

Zu Beginn der Regierungserklärung erklärt Bundeskanzler H. Schmidt, daß das Rententhema zu einer ernsthaften Beunruhigung und zu einer Belastung des Vertrauens in die sozial-liberale Koalition und in die Bundesregierung geführt habe. Delegationen beider Koalitionsparteien hatten sich an Hand des Gutachtens des Sozialbeirates und anderer neuerer wirtschaftlicher Daten mit der Gesamtheit der gesetzgeberisch notwendigen Schritte zur finanziellen Konsolidierung der Renten- und der Krankenversicherung befaßt. Sie hatten dabei - unter anderem - auch eine Verschiebung der für den Juli 1977 vorgesehenen Rentenanpassung um sechs Monate ernsthaft in Erwägung gezogen. Die Reaktion vieler Bundestagsabgeordneter, vieler Bürger und der öffentlichen Meinung war heftig. Eine Regierung ist nicht unfehlbar. Wir haben deshalb letzte Woche durch öffentliche Verlautbarung diesen Teil der Regierungserklärung vorweggenommen. Unsere in einer schwierigen wirtschaftlichen Phase getroffenen Entscheidungen sind geeignet, die Rentenversicherung zu konsolidieren und damit die Altersversorgung der Bürger zu sichern. Wir nehmen diesen Vertrag zwischen den Generationen als eine ernste Verpflichtung.
Heute beziehen die Rentner im Durchschnitt zwei Drittel des Nettoeinkommens der Arbeitnehmer. Das Nettoeinkommen der Arbeitnehmer ist seit 1969 um etwa 80 Prozent gestiegen, das der Rentner sogar um 103 Prozent. Die Mehrheit der Bürger hat am 3. Oktober diese Bundesregierung, die beiden sie tragenden Koalitionsparteien für weitere vier Jahre beauftragt, ihre Arbeit für unser Volk fortzusetzen. Das Wahlergebnis ist zugleich eine Bestätigung für die Stabilität der demokratischen Ordnung in Deutschland.
Wir sollten uns bewußtmachen, daß Wachstum nicht unendlich ist und daß Reformen nicht notwendig bedeuten, daß der Staat fortwährend neue, zusätzliche Leistungen erbringen kann. Wir wollen nicht Erwartungen wecken, die unangemessen sind. Unser Urteil über die künftige Entwicklung ist durch vorsichtigen Realismus gekennzeichnet.
Doch indem wir feststellen, daß es uns gelungen ist, allzu große Härten der Weltwirtschaftskrise von uns abzuwenden, wollen wir auch eingestehen, daß manche besorgt sind, ob es so gut, wie es heute bei uns ist, auch morgen bleiben wird. Es gibt dafür aber durchaus begründete Hoffnung. Besonders junge Menschen bei uns spüren, daß wirtschaftliches Wachstum nicht eine Einbahnstraße ist. Wachstum im eigenen Land legt uns eine Mitverantwortung für andere auf und kann nicht allein zur Mehrung des eigenen Wohlstandes verwendet werden.
Wir setzen die von W. Brandt und W. Scheel begonnene erfolgreiche Politik zur Sicherung des Friedens fort.
Im Inneren halten wir fest an der Politik stetiger Reformen. Nie zuvor in der Geschichte hat es auf deutschem Boden eine freiere und nie zuvor eine sozial gerechtere Ordnung gegeben. Wir nehmen die Herausforderungen von außen und im Innern an. Wir wollen, daß das Leben in unserem Lande frei und gerecht und sozial befriedet bleibt.
Vorrangige wirtschaftliche Aufgabe der Bundesregierung ist die Wiederherstellung und die Sicherung der Vollbeschäftigung. Entscheidende Voraussetzung dafür ist ein ausreichendes Wirtschaftswachstum bei gleichzeitigem weiteren Stabilitätsfortschritt. Der notwendige neue Wachstumsprozeß ist in Gang gekommen; er wird sich aber nur dann stetig fortsetzen, wenn die Grundlagen unserer Wirtschafts- und Sozialordnung erhalten bleiben und weiter ausgebaut werden. Individuelle Entscheidungsfreiheit, Anerkennung des Leistungsprinzips und des sozialpflichtigen Privateigentums gehören dazu ebenso wie die Ausgleichsfunktionen der öffentlichen und der gemeinwirtschaftlichen Einrichtungen, eine leistungsfähige öffentliche Infrastruktur und vor allem die Ausgestaltung des Netzes sozialer Sicherungen. Die in unserer Gesellschaft entstandene Grundübereinstimmung muß als gemeinsame Basis erhalten bleiben und darf nicht aufs Spiel gesetzt werden. Es spricht vieles dafür, daß dieser Aufschwung weitergeht, daß sich die Investitionen verstärken, daß die Arbeitslosigkeit zurückgeht. Von ausschlaggebender Bedeutung ist allerdings auch, ob es der Weltwirtschaft gutgeht oder nicht. Wenn auch für 1977 weltweit für Wirtschaft und Handel ein weiterer Aufschwung erwartet wird, so ist doch die Lage der Weltwirtschaft immer noch durch Unsicherheit gekennzeichnet.
Wirtschaftswachstum und Strukturwandel erfordern in den nächsten Jahren besondere Anstrengungen. Wir werden deshalb 1977 ein mehrjähriges öffentliches Investitionsprogramm zur wachstumspolitischen Vorsorge bereitstellen. An Einzelmaßnahmen plant die Regierung eine mit der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung verzahnte sektorale Strukturberichterstattung für die wichtigsten Industriesektoren und die Fortsetzung der Forschungs- und Technologiepolitik; Eindämmung der nicht auf eigener wirtschaftlicher Leistung beruhenden Verstärkung der Marktmacht; Verbesserung der Mißbrauchsaufsicht über marktbeherrschende Unternehmen und eine Fusionskontrolle.
In der Energiepolitik gilt es, die Versorgung sicherer zu machen und einseitige Abhängigkeiten, insbesondere vom eingeführten Erdöl und Erdgas, zu verringern. Heimische Steinkohle und heimische Braunkohle sind und bleiben wichtige Elemente unserer Energieversorgung. Der Bau neuer Kohlekraftwerke ist besonders wichtig. Kernenergie bleibt zur Deckung des vorhersehbaren Strombedarfs notwendig und unerläßlich. Ohne ihren Beitrag wäre es auch nicht möglich, die Energieträger so vielfältig einzusetzen, wie es im Interesse der Sicherheit unserer Stromversorgung geboten ist. Dabei wird allerdings die Kernenergie zukünftig die vollen Kosten für den geschlossenen Brennstoffkreislauf bis hin zur Entsorgung über den Strompreis decken müssen. Bei der Kernenergie muß die Betriebssicherheit Vorrang vor allen wirtschaftlichen Erwägungen haben. Wir müssen dafür sorgen, daß die Interessen der Bürger bei Planungs- und Genehmigungsverfahren durch frühzeitige Information und Beteiligung gewahrt werden. Die Bundesregierung prüft deshalb die Möglichkeit der Einführung einer praktikablen Form der Verbandsklage im atomrechtlichen Genehmigungsverfahren. Sie will die Errichtung neuer Kernkraftwerke nur noch dann genehmigen, wenn für sie die Entsorgung hinreichend sichergestellt ist. Bei schon in Bau oder in Betrieb befindlichen Anlagen muß diese in angemessener Frist nachgewiesen werden.
Protestbewegungen haben Anspruch auf faire Behandlung durch die staatlichen Organe, und sie dürfen selbst dann nicht ins gesellschaftliche Abseits gestellt werden, wenn sich auch Extremisten oder Rowdies daran beteiligen. Wo sich Extremisten und Chaoten in Bürgerinitiativen und Protestgruppen einschleichen und sie damit kompromittieren, dort erwarten wir klare Trennungsstriche! Bei uns darf jeder demonstrieren, aber niemand darf demolieren.

Die eingeleitete Konsolidierung aller öffentlichen Haushalte muß fortgesetzt werden. Wir müssen deshalb die Mehrwertsteuer zum 1. Januar 1978 erhöhen. Im Zusammenhang damit werden steuerliche Erleichterungen angestrebt, so u.a. eine Ausdehnung der Sonderabschreibung nach § 7b des Einkommensteuergesetzes auf eigengenutzte Altbauwohnungen und alte Wohngebäude und den Wegfall der Grunderwerbssteuer beim Erwerb dieser Wohnstätten. Die Tarifvertragspartner sollen den noch nicht ausgeschöpften Rahmen des 624-DM-Gesetzes nutzen. Die Bundesregierung tritt nachdrücklich für eine Stärkung der gesamtstaatlichen Verantwortung für die Strukturen des Bildungswesens ein. Einzelne Vorhaben sind: die Einführung eines Berufsgrundbildungsjahres anstatt eines zehnten, allgemeinbildenden Hauptschuljahres; Abbau des Numerus clausus; der zügige Fortgang der Studienreform und die Verbesserung der Ausbildungsförderung. Unser Land soll kinderfreundlicher werden. Dafür soll das Kindergeld erhöht, die Unterhaltsleistungen für Kinder von alleinstehenden Erziehungsberechtigten gesichert, das Wohngeld angepaßt und das Jugendhilferecht reformiert werden. Die Gleichberechtigung der Frauen muß verbessert, vor allem eine ausgewogene Alterssicherung für alle Frauen erreicht werden.
Es fehlt an altengerechten Wohnungen. Im Gesundheitswesen muß sparsamer gewirtschaftet werden. Deshalb müssen alle Beteiligten zur Dämpfung dieses Kostenanstiegs beitragen durch Verbesserung der Krankenkassenverwaltung, Harmonisierung der Bemessungsgrundlagen von Renten- und Krankenversicherung und Orientierung der Arzthonorare an der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung.
Nicht alles darf vom Staat erwartet werden. Vieles entzieht sich einer noch so wohlmeinenden Gesetzgebung und gut gemeintem Verwaltungshandeln. Es gibt körperliche und geistige Not, die ein Staat nicht lindern kann. Hier sind der einzelne Bürger, die kirchlichen und die sozialen Organisationen weiterhin aufgerufen.
Wir verteidigen die Freiheit und die Liberalität in unserem Lande. Wir wollen, daß der Staat die private Sphäre des einzelnen achtet und sie schützt. Die Reform des öffentlichen Dienstes verfolgen Bund, Länder und Gemeinden als gemeinsame Aufgabe. Neben den eingeleiteten Schritten zur stärkeren Leistungsorientierung soll die Teilzeitbeschäftigung erweitert, das Laufbahnsystem durchlässiger und der Personalaustausch erleichtert werden. Die Praxis der Überprüfung von Bewerbern für den öffentlichen Dienst hat Zweifel an der Liberalität in unserem Land aufkommen lassen. Unsere Demokratie ist stark. Sie wird von der Verfassungsloyalität der Bürger getragen. Deshalb gehen wir bei der Einstellung eines Bürgers in den öffentlichen Dienst von seiner Verfassungstreue aus. Wir werden alles tun, um die Entstehung eines allgemeinen Mißtrauens zu verhindern, welches die persönliche berufliche Ausübung von Grundrechten mit Gefahren für die persönliche berufliche Zukunft belasten könnte; denn dies führt zu Leisetreterei und zu Furcht. Wir wollen aber nicht Furcht, sondern wir wollen die persönliche Bereitschaft, die verfassungsmäßige Ordnung lebendig zu erhalten.
Wir möchten nicht zulassen, daß diejenigen Werte bedroht werden, für die Generationen von Demokraten gekämpft, in vielen Fällen geopfert und gelitten haben. Wir wollen keine Opportunisten und Angepaßten. Was wir brauchen sind freie, sind selbstbewußte, sind mutige und engagierte Bürger, die nicht geduckt oder gedrückt werden.
Die Verleger- und Journalistenverbände sollen sich über eine Regelung der inneren Pressefreiheit und über Redaktionsstatute verständigen.
Die Rechtsordnung muß dort weiterentwickelt werden, wo sie den Wertvorstellungen des Grundgesetzes, insbesondere den Grundrechten, dem Sozialstaats- und dem Rechtsstaatsprinzip noch nicht in vollem Umfange entspricht.
Das Recht der elterlichen Sorge ist im Interesse der Kinder neuzufassen, deren vor- und außergerichtliche Rechtsberatung ist zu verbessern und das Armenrecht neu zu regeln.
Wir werden auf dem Felde der inneren Sicherheit unsere erfolgreichen Anstrengungen fortsetzen. Dabei kommt der internationalen Zusammenarbeit bei der Bekämpfung des Terrorismus immer größere Bedeutung zu. Die Bundesrepublik muß ein Land bleiben, in dem zu leben es sich lohnt. Wir werden die Arbeit zum Umweltschutz auf die Gesundung unserer Flüsse und Gewässer konzentrieren; die Bekämpfung des Verkehrslärms und das Umweltstrafrecht vereinheitlichen.
Wir wollen den Künstlern u.a. durch die Einführung einer Sozialabgabe helfen sowie das Urheber- und Vertragsrecht und die Beschäftigungsmöglichkeiten für die Künstler verbessern. Wir werden den Spitzensport weiterhin fördern. Wir lehnen es ab, unsere Sportler von Staats wegen unter Leistungszwang zu setzen. Sport ist und bleibt in unserer Gesellschaft freiwillig. Besonders wichtig ist der Schulsport.
Unsere Demokratie braucht beides: mehr Solidarität und mehr Liberalität.
Die Bundesregierung bekennt sich zur Kontinuität der Außenpolitik. Sie tritt für die Fortsetzung der Entspannungspolitik ein. Noch hält der stetige Ausbau der militärischen Stärke des Warschauer Paktes an, obwohl dessen militärisches Potential bereits weitaus größer ist als es für reine Verteidigungszwecke notwendig wäre. Die Bundesregierung wird weiter alle Bemühungen für eine dauerhafte Zusammenarbeit zwischen Ost und West unterstützen. Das Atlantische Bündnis bleibt Grundlage unserer Sicherheit, und die Bundeswehr bleibt unser militärischer Beitrag zur Allianz.
Unsere Politik der guten Nachbarschaft gegenüber allen osteuropäischen Staaten bleibt unverändert. Wir halten am Ziel der Europäischen Union fest. Wir wollen direkte Wahlen zum Europäischen Parlament im Jahre 1978.
Die Bundesregierung will ihr Verhältnis zu den Staaten Afrikas enger gestalten. Sie lehnt jede Art von Rassismus und Kolonialismus ab. Auch das südliche Afrika muß sein Schicksal selbst bestimmen, und die Herrschaft der Mehrheit muß bald verwirklicht, gleichzeitig aber der Schutz der Minderheit gesichert werden. Wir setzen uns ein für eine gerechte und dauerhafte Friedensregelung im Nahen Osten, die mit den Entschließungen des Sicherheitsrates und den Erklärungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft übereinstimmt. Die Bundesregierung plant weiter die Verstärkung der Zusammenarbeit mit den Staaten Lateinamerikas. Zur Verringerung des Nord-Süd-Gefälles ist erforderlich: eine weltweite Arbeitsteilung bei weitgehend freiem Austausch von Gütern, Dienstleistungen, Kapital und Technologie; ein Schutz vor entschädigungsloser Enteignung, damit zugunsten der Entwicklungsländer eine Intensivierung der Investitionen und des Kapitalverkehrs erreicht wird; eine weitere Öffnung der Märkte für Industrieländer; eine Liberalisierung des Welthandels; eine Anerkennung des Souveränitätsanspruchs der Entwicklungsländer über ihre Rohstoffe; Verzicht auf Mißbrauch der Verfügungsgewalt über wirtschaftliche und Marktmächte durch Kartelle und Monopole. Wir halten weltweiten Rohstoffdirigismus für unzweckmäßig. Besser ist eine Stabilisierung der Rohstoffexporterlöse für Entwicklungsländer. 1975 war die deutsche öffentliche Entwicklungshilfe mit rund 1,7 Milliarden Dollar doppelt so hoch wie die aller kommunistischen Staaten zusammengenommen, und ein Teil der letzteren hat sich leider auf die Lieferung von Waffen und militärischem Gerät konzentriert.
Das Verhältnis zwischen den beiden deutschen Staaten gilt es weiter zu entwickeln und zu gestalten. Die Gegensätze und Unterschiede können nicht durch Vertragspolitik aus der Welt geschafft werden. Uns schmerzt die Grenze, die mitten durch Deutschland geht, an der immer wieder auf Menschen geschossen wird. Wir haben unsere Meinung darüber nie verschwiegen. Die Verantwortung für den Schußwaffengebrauch liegt nur bei der DDR. Die Bundesregierung bekräftigt ihre Verpflichtung, mit den Drei Mächten die Lebensfähigkeit Berlins aufrechtzuerhalten und zu stärken. Das Viermächte-Abkommen ist strikt einzuhalten und voll anzuwenden. Unsere Deutschlandpolitik ist frei von Illusionen. Wir werden durch zähe und geduldige Arbeit den Zusammenhalt der Menschen in Deutschland wahren. Bei uns wird die Macht zwischen Bund, Ländern und Gemeinden ausbalanciert. Es soll nicht eine der Staatsgewalten alle Verfügungsmacht in ihrer Hand, aber auch nicht eine andere alle Verhinderungsmacht in ihrer Hand haben. Der Bundesstaat ist auf Kooperation, nicht auf Konfrontation angelegt.



Vorhergehender StichtagInhaltsverzeichnisFolgender Stichtag


net edition fes-library | Juni 2001