Chronik der deutschen Sozialdemokratie / Franz Osterroth ; Dieter Schuster. - [Electronic ed.]. - Berlin [u.a.]
In Dortmund findet ein außerordentlicher Parteitag der SPD mit 426 Delegierten statt. Tagesordnung: Regierungsprogramm 1976-1980 (H. Schmidt). Unser Modell ist eine gelungene, ausbaufähige und ausbauwürdige Alternative zum Kapitalismus einerseits und zum Kommunismus andererseits. Sozialdemokraten lassen Idee und Leistung des demokratischen Sozialismus nicht durch Gleichsetzung mit kommunistischen Systemen verunglimpfen. Wer diese Gleichsetzung vornimmt, zerstört die notwendige demokratische Übereinstimmung in unserem Land. Die Sozialdemokratie ist und bleibt Kern der sozialen Freiheitsbewegung in Deutschland. Am 3. Oktober geht es darum, daß Helmut Schmidt Bundeskanzler bleibt. Für sichere Arbeitsplätze und eine leistungsfähige Volkswirtschaft. Soziale Sicherheit und persönliche Freiheit durch Solidarität. Stetige Reformen für ein modernes Deutschland. Den Rechtsstaat zu bewahren und auszubauen. Öffentliche Finanzen. Europapolitik. Für eine Politik der aktiven Friedenssicherung und Verständigung. Deutschland- und Berlinpolitik. Weiterarbeiten am Modell Deutschland.
3. Nach dem Zweiten Weltkrieg. 2., neu bearb. und erw. Aufl. 1978.
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2001
Stichtag:
17./18. Juni 1976
H. Schmidt führt in seinem Referat u.a. aus: Nach sieben Jahren Regierungsarbeit können wir uns auf ein überzeugendes Fundament an Leistungen stützen und auf ein solides Programm für die kommenden vier Jahre. Wir haben das Selbstbewußtsein zu sagen, daß wir einen dritten Weg zwischen schrankenlosem Kapitalismus einerseits und diktatorischem Kommunismus andererseits gegangen sind. Was wir auf unserem dritten Wege geschaffen haben, ist aber nichts Endgültiges, nichts Vollkommenes. Deshalb arbeiten wir weiter an unserem Modell Deutschland. Wir fühlen uns dabei nicht als der Nabel der Welt.
Jetzt kommt es darauf an, unsere Mitbürger über diese Leistungen zu informieren und sie manchen von ihnen wieder ins Bewußtsein zu heben. Wir Sozialdemokraten wollen die sozial-liberale Koalition fortsetzen. Viele neue Fragen kann niemand besser beantworten als die sozial-liberale Koalition. Uns verbindet der Geist der Partnerschaft. Wir haben mit der Eigenständigkeit der Liberalen durchaus auch Schwierigkeiten; wir werden sie auch in Zukunft haben. Wir Sozialdemokraten haben keine Stimme - auch nicht an die FDP -, auch keine Zweitstimme zu verschenken.
Der Slogan der CDU/CSU »Freiheit oder Sozialismus« ist ein schlimmer Verstoß gegen das Gebot: Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten. Wer uns den Willen zur Freiheit oder die Fähigkeit zur Freiheit aberkennen will, wer uns Sozialdemokraten außerhalb des Grundgesetzes stellen will, der verdient unseren Zorn und unsere Verachtung.
Unser Land, unsere Arbeitsplätze und unser Wohlstand sind ungewöhnlich eng mit der Weltwirtschaft verknüpft. Weltwirtschaftspolitik ist deshalb für unser Land ein Kernelement der Politik schlechthin geworden. Hier liegt eine der großen Aufgaben sozialdemokratischer Politik für die kommenden Jahre: beizutragen zur Schaffung eines internationalen Managements unserer wechselseitig abhängigen Volkswirtschaften. Es wird dabei unser Grundprinzip bleiben, Ausgleich und Kooperation zu suchen; Nötigung und Machtmißbrauch von Kartellen entgegenzutreten und zu den Reformen im Weltwirtschaftssystem beizutragen, die tatsächlich das Los der armen Entwicklungsländer verbessern.
Demokratie erfordert Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit. Deshalb verlangen wir für die Hochschulen die Abschaffung des Numerus clausus. Wir wollen die Konkurrenz nicht beseitigen. Leben ist Wettbewerb. Aber der Konkurrenzkampf in der Schule darf nicht zu einem Leistungsdruck führen. Unser Land braucht eine gut ausgebildete und zugleich verantwortungsbereite und mündige Jugend, die zum politischen Engagement bereit ist.
Am Beispiel der Kampagne gegen fälschlich so genannte Berufsverbote erleben wir wieder einmal, wie sich die Extremisten von ganz links und die reaktionären Rechten auf unsere Kosten gegenseitig hochzuschaukeln versuchen. Natürlich machen wir keine Feinde unserer grundgesetzlichen Ordnung zu staatlichen Hoheitsträgern. Von Oktober 1974 bis Mai 1976 sind 183 politisch motivierte Gewalttäter festgenommen worden. Damit ist der harte Kern der kriminellen Vereinigungen weitgehend hinter Schloß und Riegel. Man kann trotzdem neue Anschläge nicht ausschließen. Wir werden in jedem Falle angemessen und entschlossen handeln und nicht vor Gewalt zurückweichen.
Bei den Programmschwerpunkten steht die Wiederherstellung der Vollbeschäftigung an der Spitze. Wir stehen zum Sozialstaat. Wir wollen das Erreichte sichern, und wir wollen den Sozialstaat weiter ausbauen.
Wir setzen die Reform von Staat und Gesellschaft beharrlich fort. Wir haben den Mut zu neuen Lösungen, um unserer Jugend genügend Ausbildungs- und Arbeitsplätze zu verschaffen. Wir wollen das komplizierte Gesundheitssystem der Bundesrepublik schrittweise verbessern.
Die Hauptarbeit wird bei der neuen sozialdemokratischen Bundestagsfraktion liegen. An der Spitze unserer Fraktion steht ein Mann, dessen Arbeitsleistung, dessen Energie und Leidenschaft, dessen Weitblick und dessen Tapferkeit die Fraktion - und die Bundesregierung auch - vieles verdankt: Herbert Wehner.
Die Bundesregierung weiß: Ohne die Fraktion wäre ihr kein Erfolg möglich gewesen. So wird es auch im 8. Deutschen Bundestag sein. Partei und Fraktion und Regierung - das ist eine Kraft, das ist ein Geist. Wir sind aufeinander angewiesen, deswegen helfen wir einander und deswegen können wir uns aufeinander verlassen. Nächstenliebe, Solidarität, Toleranz und der Wille zur Versöhnung sind jedenfalls uns Sozialdemokraten von unseren eigenen Grundwerten her gegenüber jedermann geboten.
Not ist oft die Einsamkeit der Alten, die Hilflosigkeit der Kranken, die Obdachlosigkeit der Entwurzelten, das Fremdsein derer, die aus dem Ausland zu uns kommen, die quälende Arbeitssuche mancher derer, die sich plötzlich aus der produktiven Sphäre einer an Leistung orientierten Gesellschaft verstoßen fühlen. Sie bedürfen der Gerechtigkeit. Aber Gerechtigkeit ist ohne Solidarität nicht zu leisten. Die Neigung, den Staat, wenn es nur ginge, zu einem Selbstbedienungsladen zu machen, dem man nach Belieben entnimmt, ohne den Preis dafür zu entrichten, hat mit unserem sozialdemokratischen Verständnis von Freiheit nichts zu tun.
Die politische Demokratie hat jedem Menschen eine Stimme gegeben. Die soziale Demokratie sichert ihm seinen realen Freiheitsraum. Erst die solidarische Demokratie wird die Humanität gewährleisten. Die Sozialdemokratie ist eine lebendige Partei, sie ist kein Gesangverein. Wir haben Auseinandersetzungen mit uns selbst und Diskussionen, weil sich Politik anders nicht fortbewegt.
Ich kann hier den FDP-Vorsitzenden zitieren, der gesagt hat: Vielleicht dämmert es eines Tages auch in den konservativen Köpfen, daß sich die SPD in einer Zeit großer ideologischer Verwerfungen in Europa der schmerzhaften Aufgabe unterzieht, auch Gruppen links von ihr in unsere Demokratie zu integrieren. Wer eine Partei, die sich der Integrationsaufgabe unterzieht, wegen dabei auftretender innerparteilicher Probleme diffamiert, versündigt sich an der Demokratie.
Wir sagen den Jungen unter uns: Verschiedenheit der Meinungen ist nicht nur erlaubt, sondern erwünscht. Aber wenn wir einerseits keine angepaßten Knilche wollen - andererseits sollt ihr gefälligst auch nicht jammern, wenn wir nicht in jedem Papier eure Meinung teilen können und werden! An uns alle richtet sich die Frage, ob die Art, wie wir diskutieren und wie wir die Probleme wälzen, dem Lebensgefühl unserer Gesellschaft in der Mitte der 70er Jahre wirklich noch ganz entspricht. Manchmal denke ich, daß wir bisweilen zu ernst, zu arbeitsbesessen, zu grundsätzlich sind, um die Lockerheit und die Lässigkeit und die Lebenskunst der heute jungen Generation mitzuerleben und in uns aufzunehmen. Eine unruhige Jugend hat uns in den 60er Jahren geholfen, politische Verkrustungen zu überwinden. Von der Jugend der 70er Jahre können wir lernen, das Leben etwas leichter zu nehmen und das Glück des Augenblicks zu begreifen. Wir könnten lernen, wenigstens dann unproblematisch zu sein, wenn es zum Weltschmerz nun wirklich keinen Anlaß gibt. Die Herren von der CDU und CSU sagen immer »oder« und »statt«. Sagen wir doch bitte: Leben und leben lassen.
Das Regierungsprogramm 1976-1980 »Weiter arbeiten am Modell Deutschland« weist einen umfangreichen Leistungskatalog auf: Sozialdemokraten in der Verantwortung haben seit 1966, aufbauend auf der Leistung jedes einzelnen Bürgers, ein Deutschland geschaffen, das vielen Menschen als nachahmenswertes Modell gilt. Wir alle können stolz auf unser Land, den Aufbau unseres Staates, die erworbene Achtung und Freundschaft in der Welt sein. Die Sozialdemokraten haben sich vorgenommen, dieses Deutschland weiter zu bauen, es nach innen zu festigen und nach außen als aktive Kraft für den Weltfrieden einzusetzen. In fünf wichtigen Bereichen ist unser Land zu einem Modell geworden:
Seit 1966 sind die Nettoeinkommen der Arbeitnehmer um rund 100 Prozent gestiegen. Seit 1974 haben wir im Dreijahresdurchschnitt die höchste Preisstabilität aller Industrieländer. Die D-Mark ist eine der härtesten Währungen der Welt. Wir verfügen über das dickste Polster an Währungsreserven.
Unsere Politik für ausreichende und zukunftssichere Arbeitsplätze hat gegenwärtig drei Schwerpunkte: Aktive, stabilitätsorientierte Konjunktur- und Beschäftigungspolitik; sichere Ausbildungs- und Arbeitsplätze für Jugendliche; Modernisierung der Volkswirtschaft.
Wir streben die Bildung von freiwilligen Investitionsrücklagen der Unternehmen in einem neutralisierten Fonds an, der bei Beschäftigungseinbrüchen aufgelöst werden kann. Außerdem sollten in der Wirtschaft und im öffentlichen Dienst verstärkt Teilzeit-Arbeitsplätze geschaffen werden - vornehmlich für verheiratete Arbeitnehmer, die nur Teilzeit arbeiten wollen.
Wir brauchen eine vorausschauende Industriepolitik. Es ist eine vordringliche Aufgabe sozialdemokratischer Politik, durch Verbesserung von Organisation, Verfahren und Koordination die Planungsfähigkeit des Staates systematisch zu erhöhen. Die wichtigste Voraussetzung hierzu ist ein systematischer Ausbau des Instrumentariums der wirtschaftlichen Diagnose und Prognose.
Für den Sozialstaat - gegen die Ellbogen-Gesellschaft.
Der Sozialstaat schafft Sicherheit für alle. Soziale Sicherheit garantiert persönliche Freiheit, weil sie vor Not im Alter, bei Krankheit, Arbeitslosigkeit und Invalidität bewahrt. Unser Netz sozialer Sicherung ist wesentlich Ursache für den beispielhaften sozialen Frieden und damit für die politische Stabilität unseres Landes.
Die erweiterte Mitbestimmung wird den Interessen der Arbeitnehmer bei Unternehmensentscheidungen mehr Gewicht verleihen. Sie ist ein wesentlicher Schritt auf dem Wege zur vollen paritätischen Mitbestimmung. Die dynamische Rente bleibt. Heute sind die Rücklagen der Sozialversicherung höher als jemals zuvor. In der Krankenversicherung muß die volle Solidarität gewahrt bleiben.
Unsere Hauptaufgabe sehen wir darin, die Gleichstellung der Frauen in der Arbeitswelt, im Bereich der Bildung, in der Familie zu verwirklichen. Wir haben uns als längerfristige Aufgabe gesetzt, eine eigenständige soziale Sicherung für alle Frauen zu schaffen.
Die Wohnungspolitik muß noch stärker auf die Bedürfnisse kinderreicher Familien zugeschnitten werden. Die Erziehung der Kinder in Familien, in denen die Eltern berufstätig sind, muß durch ein größeres Angebot z.B. an Tagesstätten, Kindergärten und Ganztagsschulen verbessert werden.
Wir wollen, innerhalb bestimmter Einkommensgrenzen, jedem jungen Ehepaar einen zinsbegünstigten Kredit von 5000 DM als Starthilfe geben. Wir werden die Unterhaltsleistungen für Frauen, die allein für die Erziehung und materielle Sicherung der Kinder verantwortlich sind, öffentlich absichern, damit die Kinder nicht darunter leiden müssen.
Die Partner in der Sozialarbeit verdienen weiterhin öffentliche finanzielle Unterstützung.
Wir werden dafür sorgen, daß jeder Rentenversicherte vom 50. Lebensjahr an alljährlich eine Mitteilung der Rentenversicherung über die Höhe seiner Ansprüche erhält.
Das seit 1974 geltende Wohngeldrecht bedarf einer Neuregelung. Wir setzen unser Bemühen um die Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivkapital fort.
Wer unser Land voranbringen will, muß Mut zu stetigen Verbesserungen haben. Die politische Stabilität und Kontinuität verlangt Reformbereitschaft.
Unsere wichtigste bildungspolitische Aufgabe der nächsten Jahre ist es, qualifizierte Ausbildungsplätze in Betrieben, in Schulen und Hochschulen in ausreichender Zahl zu sichern und zu schaffen. Wir bejahen das duale System und wollen die Wirtschaft nicht aus ihrer Verantwortung für das Ausbildungsplätzeangebot entlassen. Die SPD ist für die Einführung der integrierten Gesamtschule als Regelschule. Wer die Gesamtschule für alle will, darf heute die Hauptschule nicht ins Abseits geraten lassen. Unser Ziel ist es, möglichst alle Hauptschüler zum Hauptschulabschluß zu führen, der ihnen den Weg in eine qualifizierte Berufsausbildung öffnet. Das Abitur muß zunehmend auch ohne Hochschulstudium in angemessene Berufswege führen. Der Widerspruch zwischen einer wachsenden Zahl arbeitsloser Lehrer und den nach wie vor bestehenden zu großen Klassen in den Schulen und dem Stundenausfall muß aufgelöst werden.
Die Studienreform und die Verkürzung der Studiendauer müssen schnell vorankommen. Der Zugang zur Hochschule und die Ablegung eines Examens können nicht für den Rest des Lebens eine berufliche Stellung mit garantiert hohem Einkommen gewährleisten. In fast allen Fächern kann und muß der Numerus clausus alsbald ausgesetzt werden. Wir fordern die Länder und die Hochschulen auf, die Reform des Hochschulstudiums nicht länger durch partikulare Interessen zu verzögern oder sogar zu blockieren.
Nur eine Städtebaupolitik, die Erhaltung und Erneuerung mit dem Neubau zu einem Konzept verbindet, kann unsere Städte und Dörfer lebensfähig und lebendig erhalten. Der Bau von Kinderspielplätzen, Grünanlagen und die Verbesserung der Verkehrssicherheit sind vordringlich. Der soziale Wohnungsbau wird zugunsten von kinderreichen Familien, alten Menschen, jungen Familien mit Kindern sowie Behinderten und ausländischen Arbeitnehmern fortgesetzt.
Wir fördern das Privateigentum an Grund und Boden; wir nehmen die Sozialpflichtigkeit ernst. Deshalb haben wir die Novelle zum Bundesbaugesetz vorgelegt. Wir halten an der Einführung des Planungswertausgleiches fest.
Unser Gesundheitssystem ist nicht gerecht genug. Die Kosten dürfen nicht in dem Maße steigen wie bisher. Mehr Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen heißt für uns Sozialdemokraten nicht Leistungsabbau, sondern zweckmäßiger und kostenbewußter Mitteleinsatz in allen Krankenhäusern, bei den niedergelassenen Ärzten und beim Arzneimittelverbrauch im partnerschaftlichen Zusammenwirken mit den Trägern der gesetzlichen Krankenversicherung. Eine Verstaatlichung des Gesundheitswesens lehnen wir ab.
Die Verwaltung muß bürgernah und unbürokratisch geführt werden. Die eigene Initiative der Bürger muß in das staatliche Handeln einfließen. Eine Privatisierung oder Kommerzialisierung staatlicher Leistungen scheidet als Lösungsmöglichkeit aus, wo sie neue soziale Randgruppen, neue Ungerechtigkeiten und neue Monopole schafft.
Sozialdemokraten treten dafür ein, das Verursacherprinzip beim Umweltschutz konsequent zum Vorsorgeprinzip auszubauen.
Der öffentliche Nahverkehr steht auch in Zukunft im Vordergrund unserer Verkehrspolitik. Die Deutsche Bundesbahn bleibt ein unverzichtbarer Bestandteil unseres Verkehrssystems. Es gilt, sie zu besserer Wirtschaftlichkeit zu führen. Die publizistische Meinungsvielfalt muß gewahrt bleiben. Die Beschränkung von Funk und Fernsehen auf öffentlich-rechtliche Anstalten bietet allein die Gewähr dafür, daß diese Medien zu umfassender Information und freier Meinungsbildung beitragen.
Unsere Rechtsordnung immer humaner und sozial gerechter auszugestalten und die Sicherheit der Bürger zu gewährleisten, ist Ziel unserer Politik. Wir bekennen uns zu einer wehrhaften Demokratie. Je freier und unbefangener sich die demokratische Meinungs- und Willensbildung entfaltet, desto glaubwürdiger und wirksamer sind unsere Anstrengungen zum Schutze der inneren Sicherheit.
Politisch motivierte Kriminalität muß unter voller Ausschöpfung aller rechtsstaatlichen Mittel bekämpft werden. Dieser Kampf kann aber nur erfolgreich sein, wenn freie Diskussion in einer liberalen Atmosphäre immer aufs neue alle ins Unrecht setzt, die anderen ihre Meinung durch Terror auf zwingen wollen.
Die Steuerverwaltung wird auf mehr Steuerehrlichkeit und damit mehr Steuergerechtigkeit achten müssen. Eine weitere Angleichung der Wirtschafts- und Finanzkraft in den verschiedenen Teilen der Bundesrepublik wird auch zukünftig Ziel sozialdemokratischer Politik sein.
Wir Sozialdemokraten sind für Direktwahlen zum Europäischen Parlament ab 1978 und Ausweitung der Befugnisse des Europäischen Parlaments. Stärkung der außenpolitischen Zusammenarbeit, damit die Europäische Gemeinschaft nach außen und in immer mehr Bereichen mit einer Stimme spricht.
Die Absichtserklärung der KSZE-Schlußdokumente von Helsinki müssen im Verhalten der Staaten und durch konkrete Absprachen und Abkommen in die Tat umgesetzt werden. Im Vordergrund sollte dabei die Verbesserung der persönlichen Beziehungen zwischen den Menschen stehen. Wir fordern, daß die Grenzen noch durchlässiger werden, und daß es zu einer verbesserten wechselseitigen Information über wesentliche Gebiete des öffentlichen und sozialen Lebens kommt. Die Wiener Verhandlungen über ausgewogene beiderseitige Truppenreduzierung (MBFR) und die amerikanisch-sowjetischen Verhandlungen über die Begrenzung strategischer Waffensysteme müssen zu einem baldigen erfolgreichen Abschluß gebracht werden. Wir Sozialdemokraten halten fest an unserer Politik der Beschränkung des Rüstungsexports. Die Nichtverbreitung von Kernwaffen muß durch ein striktes und universal durchgesetztes Verbot auf der Grundlage der bestehenden Verträge gesichert werden. Wir halten die Zusammenarbeit mit der Sowjetunion und ihren Verbündeten - trotz der notwendigerweise andauernden ideologischen Auseinandersetzungen - für nützlich und für verbesserungsfähig.
Das Lebensrecht Israels in sicheren und anerkannten Grenzen muß garantiert, die legitimen Rechte der arabischen Staaten und Völker im Nahen Osten einschließlich des palästinensischen Volkes müssen jedoch berücksichtigt werden.
Sozialdemokratische Regierungspolitik wird sich weiterhin darum bemühen, daß die Bundesrepublik das im Rahmen der 2. UN-Entwicklungsdekade aufgestellte Ziel erreicht.
Die DDR verstößt vielfältig gegen Menschenrechte. Gerade deswegen sind Verhandlungen notwendig und ist der Grundlagenvertrag eine unerläßliche Voraussetzung, um die Beziehungen Schritt für Schritt zu normalisieren und die Abgrenzung wieder durchlässiger zu machen. Nur die Normalisierung der Beziehungen zur Sowjetunion und zur DDR bei Wahrung unserer Interessen ermöglicht die Ausweitung innerdeutscher Kontakte und die Stabilisierung der Position West-Berlins. Schwerpunkte unserer künftigen Aktivität werden sein: Verbesserung der Kontakte durch Ausweitung des Reiseverkehrs zwischen beiden deutschen Staaten und durch erweiterten Austausch von Informationen und Meinungen; außerdem Familienzusammenführungen und Eheschließungen. Ausbau der kulturellen und sportlichen Beziehungen sowie des Handels. Projekte industrieller Kooperation und ein Austausch von Erfahrungen im Bereich der wirtschaftlichen und technischen Forschung müssen gefördert werden. Um diese Ziele zu erreichen, werden wir nötigenfalls auch finanzielle Mittel einsetzen. Stärkung der Bindungen Berlins an den Bund; vor allem durch Verbesserung der Verkehrswege. West-Berlin muß größte deutsche Industriestadt bleiben und als kultureller und wissenschaftlicher Anziehungspunkt weiter ausgebaut werden.
Freiheit und Solidarität nach innen für den einzelnen Bürger und Freiheit und Solidarität als Partner nach außen: das ist der Kern unseres Konzepts im Übergang für die 80er Jahre.
Das Regierungsprogramm wird gegen zwei Stimmen und drei Enthaltungen angenommen, nachdem noch einige Änderungen und Ergänzungen beschlossen worden waren. So die Forderung für die Gesamtschule als Regelschule; die Meldepflicht für größere Investitionen; die Kostenexplosion im Gesundheitswesen und der Mitbestimmungskompromiß als Schritt auf dem Weg zur vollen Parität.
Die Ergänzung des Programms um die Gesamtschule wird mit 201 gegen 159 Stimmen (darunter W. Brandt, H. Schmidt und H. Wehner) beschlossen.
Der Vorsitzende der SPD, W. Brandt, sagt in seinem Abschlußreferat u.a.: Wir Sozialdemokraten sind alle miteinander entschlossen, für Helmut Schmidt zu kämpfen und mit ihm zu gewinnen. Wir stehen in der Kontinuität einer Politik und es bleibt bei unserem Bekenntnis, damals wie heute: Wir wollen ein Volk des inneren Friedens sein. Wir wollen ein Volk des gesicherten Fortschritts bleiben. Wir wollen ein Volk der ehrlichen Demokratie sein. Wir wollen uns als ein Volk der guten Nachbarschaft bewähren. Unsere Rolle als Partei der deutschen Freiheit lassen wir uns nicht streitig machen.
Es besteht eine größere Pflicht: Nicht zu verzweifeln vor den scheinbaren Zwängen unserer heutigen Industriegesellschaft, nicht zurückzuscheuen vor dem Versuch, unser Leistungssystem dem Menschen gemäßer zu gestalten. Wenn ich das mal scherzhaft sagen darf, ich bin ganz froh, daß ich hier nicht in einer fremden Sprache reden muß. Uns sollte nämlich zu denken geben, daß dieses Wort »Leistung« so deutsch ist wie das Wort »Gemütlichkeit« und daß sich beide schwer, wenn überhaupt, übersetzen lassen in eine der sonst in der Kulturwelt gebräuchlichen Sprachen.
Freiheit bleibt auch in der Demokratie ein Wagnis. Und doch ist sie jene Art von Wagnis, das wir eingehen müssen, wenn wir das Prinzip nicht preisgeben wollen, daß das Volk selbst bestimmt, wie es regiert werden will.
Wir Sozialdemokraten kämpfen beharrlich weiter für mehr Mitmenschlichkeit und gesellschaftliche Solidarität.