Chronik der deutschen Sozialdemokratie / Franz Osterroth ; Dieter Schuster. - [Electronic ed.]. - Berlin [u.a.]
3. Nach dem Zweiten Weltkrieg. 2., neu bearb. und erw. Aufl. 1978.
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2001

Stichtag: 29. Okt. 1974

Zum Ergebnis der Landtagswahlen in Hessen und Bayern stellt das Präsidium der SPD fest: Die sozial-liberale Koalition ist von den Bürgern in Hessen bestätigt worden. Die Zugewinne der CSU in Bayern sind bundespolitisch insoweit von anderem Gewicht, als sie die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat nicht berühren. Mit Sorge muß jedoch das Erstarken des rechten Flügels innerhalb der CDU/CSU gesehen werden. Im Verhältnis zu den Wahlen Anfang des Jahres sind die sozialdemokratischen Stimmeneinbußen geringer ausgefallen. Dies ist jedoch kein Grund zur Beschönigung eines insgesamt unbefriedigenden und enttäuschenden Wahlergebnisses. Um die örtlich voneinander abweichenden, insgesamt empfindlichen Stimmeneinbußen der SPD - es gibt auch erfreulich positive Einzelergebnisse! - richtig werten zu können, bedarf es eingehender Untersuchungen. Ohne diesen vorgreifen zu wollen, kann heute festgestellt werden:
Unser Hinweis auf die im Vergleich zu anderen Ländern erfolgreiche Wirtschaftspolitik der sozial-liberalen Koalition unter Bundeskanzler H. Schmidt und die Aufklärung über die weltwirtschaftlichen Zusammenhänge und Schwierigkeiten haben nicht das wünschenswerte Ergebnis gebracht. Der SPD ist es fast nirgends gelungen, in das gegenwärtig sehr festgefügte Wählerpotential der Unionsparteien einzudringen. Die regional zum Nachteil der SPD unterschiedliche Wahlbeteiligung und praktische Wahlkampfführung deuten darauf hin, daß es der SPD auch nicht gelungen ist, ihre Mitglieder und Freunde überall in dem erforderlichen Ausmaß zu mobilisieren.
Innerparteilicher Streit, dem Godesberger Programm widersprechende Parolen, Selbstgefälligkeit und mangelnde Konzentration auf das Wesentliche haben das Erscheinungsbild der SPD mancherorts beeinträchtigt. Ziel und Leistungen unserer Partei einerseits und ihr Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit andererseits, drohen weiterhin auseinanderzuklaffen.
Das hessische Ergebnis zeigt, daß es einer die Grenzen des Sachlichen weit überschreitenden Wahlschlacht letzten Endes doch nicht gelungen ist, einer fortschrittlichen Politik unter dem Ministerpräsidenten A. Osswald das Wasser abzugraben. Alle Propaganda hat nicht die Tatsache zu unterdrücken vermocht, daß dieses Bundesland in bezug auf die wirtschaftliche und soziale Entwicklung in der Bundesrepublik vorteilhaft dasteht.
Der Wahlkampf in Hessen und Bayern läßt erkennen, womit bei den kommenden Landtagswahlen und erst recht bei der Bundestagswahl 1976 zu rechnen sein wird. Die erschreckende demagogische Verkürzung komplizierter politischer Zusammenhänge muß angesichts der schweren Probleme, die insbesondere aus der weltwirtschaftlichen Entwicklung auf uns zukommen, allen denen Sorge bereiten, die aus der Vergangenheit gelernt haben.