Chronik der deutschen Sozialdemokratie / Franz Osterroth ; Dieter Schuster. - [Electronic ed.]. - Berlin [u.a.]
3. Nach dem Zweiten Weltkrieg. 2., neu bearb. und erw. Aufl. 1978.
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2001

Stichtag: 30. Sept. 1973

Auf dem in Münster stattfindenden Parteitag des Landesverbandes Nordrhein-Westfalen der SPD fordert H. Kühn die SPD auf, zur Solidarität zurückzufinden. Die Partei wird schwere Wahlniederlagen in den kommenden Landtagswahlen erleiden, wenn sie die Spaltungsgefahr in ihren eigenen Reihen nicht bannen kann. Starke Wählergruppen, die man in den letzten Jahren aus der Mitte heraus gewonnen habe, drohen wieder verlorenzugehen; die SPD steht in der Defensive; sie muß das Erreichte gegen die Reaktion verteidigen, darf auch nicht weiterhin Gipfelstürmerei betreiben. Man muß auch einsehen, daß Reformpolitik sich nur in den Gesetzen der Konjunktur- und Währungssituation vollziehen kann; auch an die Ostpolitik ist viel zu viel Erwartungseuphorie geknüpft worden.
Die SPD hat ein bedenkliches Defizit an Theorie; dieser Leerraum wird nun von einem gefährlichen Schwall aufgewärmter Ideologie aufgefüllt; die Partei muß aufpassen, daß ihr bewährter Pragmatismus nicht in einen Ideologismus umkippt; die Jungsozialisten verstehen sich immer mehr als Partei in der Partei: das darf nicht zugelassen werden. Zu warnen ist auch vor politischen Langzeitprogrammen mit perfektionierten Zukunftsbildern.
Koalitionen mit der FDP sind auch über die nächsten Jahre hinaus in Bund und Ländern notwendig; man darf aber die Belastbarkeit solcher Koalitionen nicht so weit aufreizen, daß dadurch eine permanente Krisensituation entsteht; politische Erfolge sind nur in sehr kleinen Schritten zu erreichen.
Neuer Vorsitzender des Landesverbandes wird der Arbeits- und Sozialminister W. Figgen.