Chronik der deutschen Sozialdemokratie / Franz Osterroth ; Dieter Schuster. -
[Electronic ed.]. - Berlin [u.a.]
SPD-Parteitag in Heidelberg, 398 Delegierte. Tagesordnung u. a. Probleme der europäischen Politik (Bericht vom Kongreß der SAI) (A. Crispien); das Parteiprogramm (R. Hilferding). Im »Heidelberger Programm« heißt es u. a.: Als Mitglied der SAI kämpft die SPD in gemeinsamen Aktionen mit den Arbeitern aller Länder gegen imperialistische und faschistische Vorstöße und für die Verwirklichung des Sozialismus. Der Antrag von M. Seydewitz und anderen, die Reichstagsfraktion aufzufordern, in allen künftigen Kämpfen ohne jede Rücksicht auf die bürgerlichen Parteien mit aller Schärfe die Interessen des Proletariats so zu vertreten, daß auch die proletarischen Anhänger jener Parteien in ihr die Vertreterin ihrer Interessen erkennen und das große Heer klassenbewußter Proletarier vermehren, wird in namentlicher Abstimmung mit 285 gegen 81 Stimmen abgelehnt. Ausgesprochene Tendenzurteile und unverständliche Handlungen deutscher Gerichte gegen Sozialisten und Republikaner hätten das elementare Rechtsempfinden des Volkes aufs schwerste verletzt.
2. Vom Beginn der Weimarer Republik bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. 3., unveränd. Aufl. 1980.
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2001
Stichtag:
13./18. Sept. 1925
Der Sachsenkonflikt wird diskutiert. Der Parteitag billigt gegen die Stimmen der überwiegenden Mehrheit der sächsischen Delegierten die Stellungnahme des Parteivorstandes und seine dauernden Bemühungen, den sächsischen Parteikonflikt zu lösen. Der Parteitag verlangt, daß Fraktionsmehr- und -minderheit in Sachsen sich wieder zusammenschließen und darüber beraten und entscheiden solle, wie die Frage der Landtagsauflösung sobald wie möglich gelöst werden könne.
R. Hilferding erklärt, daß die Programmkommission im großen und ganzen dem Programmentwurf K. Kautskys folgen konnte. Man sei abgerückt von jener alten Form des Staatssozialismus. Die Erkenntnis sei in den Vordergrund getreten, daß der Prozeß der Sozialisierung nur geleistet werden könne, wenn er zugleich ein Prozeß der wirtschaftlichen Demokratisierung sei. Untrennbar vom Begriff des Sozialismus sei der Begriff der Demokratie, der Freiheit. Das System der Wirtschaftsräte werde als eine unerläßliche Bedingung der Neuorganisation der Wirtschaft begriffen. Demokratie bedeute für die Sozialdemokratie in noch höherem Grade als vorher den Zwang, auch jene Mittelschichten zu gewinnen, die zur Eroberung der politischen Macht notwendig seien. Die grundsätzliche Analyse der kapitalistischen Entwicklung im Erfurter Programm sei nicht nur unerschüttert geblieben, sondern habe durch die Entwicklung der letzten Jahrzehnte ihre Bestätigung erfahren.
»Das kapitalistische Monopolstreben führt zur Zusammenfassung von Industriezweigen und zur Organisierung der Wirtschaft in Kartelle und Trusts. Dieser Prozeß vereinigt Industriekapital, Handelskapital und Bankkapital zum Finanzkapital.
Einzelne Kapitalistengruppen werden so zu übermächtigen Beherrschern der Wirtschaft, die nicht nur die Lohnarbeiter, sondern die ganze Gesellschaft in ihre ökonomische Abhängigkeit bringen. Mit der Zunahme seines Einflusses benutzt das Finanzkapital die Staatsmacht zur Beherrschung auswärtiger Gebiete als Absatzmärkte, Rohstoffquellen und Stätten für Kapitalsanlagen. Dieses imperialistische Machtstreben bedroht die Gesellschaft ständig mit Konflikten und mit Kriegsgefahr. Doch mit dem Druck und den Gefahren des Hochkapitalismus steigt auch der Widerstand der stets wachsenden Arbeiterklasse. Immer größer wird die Zahl der Proletarier, immer schroffer der Gegensatz zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten, immer erbitterter der Klassenkampf zwischen den kapitalistischen Beherrschern der Wirtschaft und den Beherrschten. Indem die Arbeiterklasse für ihre eigene Befreiung kämpft, vertritt sie das Gesamtinteresse der Gesellschaft gegenüber dem kapitalistischen Monopol.
Das Ziel der Arbeiterklasse kann nur erreicht werden durch die Verwandlung des kapitalistischen Privateigentums an den Produktionsmitteln in gesellschaftliches Eigentum. Die Umwandlung der kapitalistischen Produktion in sozialistische für und durch die Gesellschaft betriebene Produktion wird bewirken, daß die Entfaltung und Steigerung der Produktivkräfte zu einer Quelle der höchsten Wohlfahrt und allseitiger Vervollkommnung wird.
Der Kampf der Arbeiterklasse gegen die kapitalistische Ausbeutung ist nicht nur ein wirtschaftlicher, sondern notwendigerweise ein politischer Kampf. Die Arbeiterklasse kann ihren ökonomischen Kampf nicht führen und ihre wirtschaftliche Organisation nicht voll entwickeln ohne politische Rechte. In der demokratischen Republik besitzt sie die Staatsform, deren Erhaltung und Ausbau für ihren Befreiungskampf eine unerläßliche Notwendigkeit ist. Sie kann die Vergesellschaftung der Produktionsmittel nicht bewirken, ohne in den Besitz der politischen Macht gekommen zu sein.
Die Sozialdemokratische Partei kämpft nicht für neue Klassenprivilegien und Vorrechte, sondern für die Abschaffung der Klassenherrschaft und der Klassen selbst, für gleiche Rechte und Pflichten aller, ohne Unterschied des Geschlechts und der Abstammung.«
Im zweiten Teil des Aktionsprogramms fordert die SPD u. a.:
»Die demokratische Republik ist der günstigste Boden für den Befreiungskampf der Arbeiterklasse und damit für die Verwirklichung des Sozialismus. Deshalb schützt die Sozialdemokratische Partei die Republik und tritt für ihren Ausbau ein. Sie fordert: Das Reich ist in eine Einheitsrepublik auf Grundlage der dezentralisierten Selbstverwaltung umzuwandeln.
Ziel der sozialdemokratischen Verwaltungspolitik ist die Ersetzung der aus dem Obrigkeitsstaat übernommenen polizeistaatlichen Exekutive durch eine Verwaltungsorganisation, die das Volk auf Grundlage der demokratischen Selbstverwaltung zum Träger der Verwaltung macht.
Die SPD bekämpft jede Klassen- und Parteijustiz und tritt ein für eine mit sozialem Geiste erfüllte Rechtsordnung und Rechtspflege unter entscheidender Mitwirkung gewählter Laienrichter in allen Zweigen und auf allen Stufen der Justiz.
Der Schutz der Arbeiter, Angestellten und Beamten und die Hebung der Lebenshaltung der breiten Massen erfordern:
Schutz des Koalitions- und Streikrechts. Gleiches Recht der Frauen auf Erwerbsarbeit. Verbot jeder Erwerbsarbeit schulpflichtiger Kinder. Gesetzliche Festlegung eines Arbeitstages von höchstens acht Stunden, Verkürzung der Arbeitszeit für Jugendliche und in Betrieben mit erhöhten Gefahren für Gesundheit und Leben. Einschränkung der Nachtarbeit. Wöchentliche ununterbrochene Ruhepausen von mindestens 42 Stunden. Jährlicher Urlaub unter Fortzahlung des Lohnes.
Die SPD erstrebt die Aufhebung des Bildungsprivilegs der Besitzenden. Erziehung, Schulung und Forschung sind öffentliche Angelegenheiten; ihre Durchführung ist durch öffentliche Mittel und Einrichtungen sicherzustellen. Unentgeltlichkeit des Unterrichts, Unentgeltlichkeit der Lehr- und Lernmittel, wirtschaftliche Versorgung der Lernenden.
Die öffentlichen Einrichtungen für Erziehung, Schulung, Bildung und Forschung sind weltlich.
Die SPD fordert eine grundlegende umfassende Finanzreform, die auf dem Prinzip der Quellenbesteuerung und der Lastenverteilung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit aufgebaut ist. Grund und Boden, Bodenschätze und natürliche Kraftquellen, die der Energieerzeugung dienen, sind der kapitalistischen Ausbeutung zu entziehen und in den Dienst der Gemeinschaft zu überführen.
Ausgestaltung des wirtschaftlichen Rätesystems zur Durchführung eines Mitbestimmungsrechts der Arbeiterklasse an der Organisation der Wirtschaft unter Aufrechterhaltung des engen Zusammenwirkens mit den Gewerkschaften.
Kontrolle des Reichs über die kapitalistischen Interessengemeinschaften, Kartelle und Trusts.
Abbau des Schutzzollsystems durch langfristige Handelsverträge zur Herstellung des freien Güteraustauschs und des wirtschaftlichen Zusammenschlusses der Nationen.
Ausbau der Betriebe des Reichs, der Länder und der öffentlichen Körperschaften unter Vermeidung der Bureaukratisierung.
Förderung der nicht auf Erzielung eines Profits gerichteten Genossenschaften und gemeinnützigen Unternehmungen.
Förderung des gemeinnützigen Wohnungsbaues, öffentlich-rechtliche Gestaltung des Mietrechts, Bekämpfung des Bauwuchers.
Sie tritt mit aller Kraft jeder Verschärfung der Gegensätze zwischen den Völkern und jeder Gefährdung des Friedens entgegen. Sie fordert die friedliche Lösung internationaler Konflikte und ihre Austragung vor obligatorischen Schiedsgerichten.
Sie tritt ein für das Selbstbestimmungsrecht der Völker und für das Recht der Minderheiten auf demokratische und nationale Selbstverwaltung. Sie widersetzt sich der Ausbeutung der Kolonialvölker, der gewaltsamen Zerstörung ihrer Wirtschaftsformen und ihrer Kultur.
Sie verlangt die internationale Abrüstung.
Sie tritt ein für die aus wirtschaftlichen Ursachen zwingend gewordene Schaffung der europäischen Wirtschaftseinheit, für die Bildung der Vereinigten Staaten von Europa, um damit zur Interessensolidarität der Völker aller Kontinente zu gelangen.«
Der Programmentwurf wird nach kurzer Diskussion, in der vor allem P. Levi grundsätzlich Kritik übt, gegen wenige Stimmen angenommen.
Die SPD fordert in Übereinstimmung mit den Beschlüssen des Marseiller Kongresses der Sozialistischen Arbeiter-Internationale (SAI) den Eintritt Deutschlands in den Völkerbund.
Der Anschluß Deutschösterreichs an Deutschland sei mit geeigneten Mitteln anzustreben.
Der Parteitag fordert den baldigen Erlaß des zum Artikel 48 der Reichsverfassung vorgesehenen Ausführungsgesetzes mit der Maßgabe, daß die Vollzugsgewalt nicht auf einen Militärbefehlshaber übertragen werden dürfe.
Parteileitung und Reichstagsfraktion werden beauftragt, unter allen Umständen dahin zu wirken, daß die »Technische Nothilfe«durch Gesetz aufgehoben wird.
Der Parteitag erhebt den entschiedensten Widerspruch gegen den neuen sogenannten Reichsschulgesetzentwurf der Regierung Luther-Schiele. Entgegen dem ausdrücklichen Willen der Verfassung, wonach die Simultanschule die Regelschule sein soll, werde die Simultanschule durch den Entwurf entrechtet.
Die Finanz- und Wirtschaftspolitik der Reichsregierung führe zu einer Verschärfung der Wirtschaftskrise, insbesondere zu einer Erhöhung der Preise, einer Erschwerung der Ausfuhr und einer Einschränkung der Lebenshaltung der breiten Massen des Volkes. Die freie Konkurrenz, das wichtige Mittel in der kapitalistischen Wirtschaftsordnung zur Herstellung normaler Preisverhältnisse, sei durch die Zollpolitik der Reichsregierung ausgeschaltet. Der Parteitag fordert deshalb die Parteiorganisation auf, alle Aktionen der Arbeiter, Angestellten und Beamten nach Anpassung ihrer Löhne an die erhöhten Preise mit allem Nachdruck zu unterstützen.
Das Washingtoner Abkommen über den Achtstundentag muß rasch von Deutschland ratifiziert werden.
Der Parteitag fordert die Parteifraktionen des Reiches und die der Länder auf, mit allem Nachdruck dahin zu wirken, daß die verfassungsmäßige Gleichstellung der Geschlechter überall ausnahmslos verwirklicht werde, insbesondere die Ausnahmebestimmungen gegen weibliche Angestellte und Beamte verschwinden.
Die Reichstagsfraktion wird beauftragt, auf eine Ergänzung des Wahlverfahrens im Reichstagswahlgesetz hinzuarbeiten, daß Einrichtungen geschaffen werden, die es ermöglichen, das Abstimmungsergebnis der männlichen und weiblichen Wahlberechtigten je gesondert für sich festzustellen.
Die Sozialdemokratie betrachtet es als eine wichtige Aufgabe, den Alkoholismus, der die Massen in gesundheitlicher, wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht schwer schädigt, nicht nur indirekt durch Hebung der sozialen Lage der Arbeiterschaft zu bekämpfen, sondern auch direkt durch großzügige Aufklärung und entsprechende Gesetze. Sie unterstützt alle Bestrebungen zur Verringerung der Trinkgelegenheiten, insbesondere die Schaffung alkoholfreier Jugendheime und Volkshäuser.
Die Reichstagsfraktion wird beauftragt, mit allem Nachdruck dahin zu wirken, daß die seit langem angekündigte Reform der Reichsversicherungsordnung in Angriff genommen wird. Diese Reform muß zur Vereinheitlichung und zu einem solchen Umbau der Versorgungs- und Fürsorgegesetze führen, daß die heute bestehenden Unterschiede in der Art und dem Unterschiede der Versorgung, die lediglich durch das Bestehen besonderer Versicherungs-, Versorgungs- und Fürsorgeträger hervorgerufen werden, beseitigt werden. Die soziale Hilfeleistung muß dem Grade der Hilfsbedürftigkeit und der Art der Körperbeschädigung ent-
sprechen. Der jetzige Organisationswirrwarr ist zu beseitigen und eine einheitliche Versorgungsorganisation für alle Zweige der bestehenden Versicherung, Versorgung und Fürsorge zu schaffen. Hand in Hand mit der Vereinheitlichung des Organisationsapparates muß auch ein einheitlicher Rechts- und Beschwerdeweg geschaffen werden, der den Vorsorgungsberechtigten ein entscheidendes Mitbestimmungsrecht sichert.
Parteimitglieder, die in den Reichstag, in die Landtage, in die Provinz-, Bezirks- und Gemeindevertretungen gewählt werden, dürfen Aufsichtsratsstellen in privatwirtschaftlichen Erwerbsunternehmungen nur bekleiden, wenn die Fraktionen, deren Mitglieder sie sind, dagegen keine Einwendungen erheben. Das gleiche gilt für die Annahme solcher Stellen während der Dauer einer Wahlperiode.
Der Parteivorstand wird ersucht, sich mehr als bisher mit den Zielen und der Arbeit der jungsozialistischen Bewegung zu befassen.
Die Wahlen für die Mitglieder des Parteivorstandes und der Kontrollkommission ergeben folgendes Ergebnis: H. Müller (327 Stimmen), O. Wels (284), A. Crispien (247) als Vorsitzende; F. Bartels (358), K. Ludwig (275), als Kassierer; A. Braun (329), W. Dittmann (260), Marie Juchacz, H. Molkenhuhr (343), J. Stelling (312) als Sekretäre; R. Fischer (275), O. Frank (221), K. Hildenbrand (263), R. Hilferding 61) ,J. Moses (217), Anna Nemitz (229), Elfriede Ryneck (236), H. Schulz (273), F. Stahl (231), F. Stampfer (260) als Beisitzer; Lore Agnes (231), W. Bock (320) A. Brey (288), F. Brühne (309),C. Hengsbach 302), P.Löbe (324), H. Müller/Lichtenberg (278), A. Schönfelder (296), M. Treu (294) als Kontrolleure; Vorsitzender: F. Brühne.