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TITEL/INHALT

Chronik der deutschen Sozialdemokratie / Franz Osterroth ; Dieter Schuster. - [Electronic ed.]. - Berlin [u.a.]
2. Vom Beginn der Weimarer Republik bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. 3., unveränd. Aufl. 1980.
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2001

Stichtag:
11./14. Juni 1924

SPD-Parteitag in Berlin, 390 stimmberechtigte Teilnehmer, davon 285 Delegierte. Tagesordnung: Das Organisationsstatut (R. Lipinski); die Sozialdemokratie und die Landwirtschaft (W. Helling); die Reichstagswahlen und die Sozialdemokratie (R. Hilferding).
K. Ludwig teilt mit, daß die Partei wieder über 169 Zeitungen verfüge, von denen 104 in eigenen Druckereien hergestellt würden. Die Zahl der Abonnenten habe die Zahl vor Ausbruch des Krieges überschritten. Seit einiger Zeit erscheine das »Mitteilungsblatt des Parteivorstandes für Funktionäre« wieder.
Die Kinderfreunde-Bewegung zählt 70 Ortsgruppen, die Jugendorganisation hat über 100 000 Mitglieder, die Zahl der Bildungsausschüsse beträgt 600.
O. Wels betont im Bericht des Parteivorstandes die Einigkeit der Partei in den beiden wichtigsten Zielen, dem Klassenkampf und dem Kampf für die Demokratie. Zum Schutz der Republik könne es für die Partei nur rücksichtslosen Kampf gegen die gefährlichen Organisationen der Kommunisten und Nationalsozialisten geben. »Die Kommunistische Partei ist unser Feind, wenn auch Klassengenossen in ihr tätig sind«. Entschieden und klar müsse die Scheidungslinie gezogen werden.
A. Crispien erklärt: »Die Reparationsfrage in allen ihren internationalen und nationalen Ausmaßen, die gleichbedeutend ist mit der Frage, ob Krieg, ob Frieden, ist die politische Frage der Gegenwart, von deren Lösung alles abhängt.«

Gegen die Politik der Reichstagsfraktion sprechen sich u. a. aus: R. Dißmann, Toni Sender, S. Aufhäuser und M. Seydewitz.

Der Parteitag beschließt mit 262 gegen 105 Stimmen, Koalitionspolitik sei keine Frage des Prinzips, sondern der Taktik. Das Viel-Parteien-System habe seit der Revolution die Sozialdemokratie im Reich und in den Ländern vielfach gezwungen, mit bürgerlichen Parteien an der Regierung teilzunehmen. Das Interesse der Arbeiterklasse erfordere außenpolitisch die Befriedung Europas, innenpolitisch die Sicherung der Republik gegen den Ansturm der Reaktion. Die Teilnahme an der Regierung müsse die Durchsetzung der Demokratie und die Erfüllung der bürgerlichen Republik mit sozialem Inhalt zum Ziele haben. Sie dürfe deshalb nur unter Abwägung aller Vor- und Nachteile für die Interessen der Minderbemittelten erfolgen, damit die Sicherheit gegeben sei, daß die Arbeiterklasse nicht einseitige Opfer zu bringen habe. Für eine Koalitionspolitik müsse ein Mindestprogramm gegenüber den übrigen Koalitionsparteien gefordert werden. Die Republik müsse verteidigt werden, koste es, was es wolle - mit Leib und Leben.
Ph. Scheidemann wendet sich scharf gegen die Antragsteller aus Frankfurt a. M., die beantragen, F. Ebert aus der Partei auszuschließen.

Die Anträge werden auf dem Parteitag nicht behandelt, weil nach Auffassung des Parteivorstandes der Parteitag nicht die Instanz ist, die darüber zu befinden hat.

Ein Antrag von E. Eckstein, die Reichstagsfraktion aufzufordern, dem Reichswehretat nicht zuzustimmen, wird mit 249 gegen 99 Stimmen abgelehnt.

Einstimmig wird die Erklärung zur Beilegung des Parteistreits in Sachsen angenommen: Über die Regierungsbildungen haben die Landtagsfraktionen selbständig zu entscheiden, wenn möglich aber vorher den Landesparteivorstand zu hören. Parteivorstand und Parteiausschuß behalten das Recht, Landesbeschlüsse bis zur Entscheidung eines Reichsparteitages zu suspendieren. Ein Zusammengehen mit den Kommunisten komme in absehbarer Zeit nicht in Betracht. Die Taktik der Kommunisten, die Vernichtung der Sozialdemokratie zum Leitmotiv ihres Handelns zu machen, habe die proletarische Mehrheit im sächsischen Landag zerstört und für absehbare Zeit unmöglich gemacht. Mit dem Zurückgehen der Verzweiflungswelle werde die kommunistische Welle verschwinden. In dieser Übergangszeit sei zu verhindern, daß die Regierung Sachsens in die Hände der Reaktion falle. Die Landtagskandidaturen sollen der Landesparteivertretung zur Zustimmung unterbreitet werden.

Die Mitarbeit an der kommunistischen »Internationalen Arbeiterhilfe« sei unvereinbar mit der Parteimitgliedschaft.

Der Parteitag verabschiedet ein Beamtenprogramm.

Er begrüßt den Antrag der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion, in dem eine Neuregelung der Bodenverteilung, der Bodennutzung und der Bodenbewirtschaftung verlangt wird. Der Parteivorstand wird ersucht, eine Agrarkommission einzusetzen, die ein Agrarprogramm vorbereiten soll.
Der Parteitag fordert die schnelle Rückführung der aus den besetzten Gebieten Ausgewiesenen und die Entlassung der während des Ruhrkampfes Inhaftierten sowie deren Betreuung und wirtschaftliche Unterstützung.
Die Teilnehmer des Parteitages protestieren scharf gegen den faschistischen Mord an dem italienischen sozialdemokratischen Parteisekretär G. Matteotti.
In einem neuen Organisationsstatut wird die Aufnahme in die Partei erschwert, dem Parteivorstand für bestimmte Fälle ein außerordentliches Ausschlußrecht übertragen.
Der Parteitag beschließt, die Partei wieder »Sozialdemokratische Partei Deutschlands« (SPD) zu nennen.
In den Parteivorstand werden bei 376 abgegebenen Stimmen gewählt: als Vorsitzende: H. Müller (340 Stimmen), O. Wels (264), A. Crispien (214); als Kassierer: F. Bartels (313), K. Ludwig (300); als Sekretäre: H. Molkenbuhr (351), Marie Juchacz (306), J. Stelling (305), A. Braun (301) und W. Dittmann (300); zu Beisitzern: Anna Nemitz (284), J. Moses (269), R. Fischer (263), K. Hildenbrand (257), H. Schulz (257), R. Hilferding (253), Elfriede Ryneck (235), O. Frank (225) und E. Stahl (201).
In die Kontrollkommission werden gewählt: P, Löbe (339), F. Brühne (275), W. Bock (258), A. Brey (258), C. Hengsbach (242), H. Müller/Lichtenberg (241), M. Treu (225), A. Schönfelder (224), Lore Agnes (217); Vorsitzender: F. Brühne.



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