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TITEL/INHALT

Chronik der deutschen Sozialdemokratie / Franz Osterroth ; Dieter Schuster. - [Electronic ed.]. - Berlin [u.a.]
2. Vom Beginn der Weimarer Republik bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. 3., unveränd. Aufl. 1980.
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2001

Stichtag:
17. Okt. 1920

Der Parteitag wird in einem anderen Lokal fortgesetzt. Er lehnt die 21 Bedingungen einstimmig ab. Toni Sender beantragt, die Tagesordnung um die Punkte »Politische Lage« und »Aufgaben der USPD« unter besonderer Berücksichtigung der wirtschaftlichen Krise, der Sozialisierung, der Arbeitslosenprobleme und der Finanz- und Steuerkrise zu erweitern, was angenommen wird.
Der Parteitag nimmt zu Beginn eine von Toni Sender eingebrachte Resolution an, in der es u. a. heißt:
»Der Vorstand des Exekutivkomitees der 3. Internationale, Sinowjew, brachte in seinem Referat zum Ausdruck, daß die der Amsterdamer Internationale angeschlossenen Gewerkschaften viel gefährlicher seien als Bürgerwehr, Orgesch und Weißgardisten.
Der Parteitag der USPD weist aufs entschiedenste diese unerhörten Beschimpfungen und dauernde Herabsetzung der in den freien Gewerkschaften organisierten vielen Millionen von Arbeitern, Arbeiterinnen und Angestellten und die Methode der bewußten Verhetzung der Gewerkschaften und die daraus folgende Spaltung der Gewerkschaften zurück.
Angesichts der starken Einheitsfront des gesamten Unternehmertums ist die geschlossene Front der freien Gewerkschaften als Kampfinstrument gegen die kapitalistischen Verelendungstendenzen eine zwingende Notwendigkeit.
Der Parteitag fordert daher alle Genossen und Genossinnen auf, jeden Versuch - von welcher Seite er auch kommen möge – die Zersplitterung in die Reihen der nationalen wie internationalen freien Gewerkschaftsorganisationen hineinzutragen, aufs Entschiedenste zurückzuweisen.«
A. Crispien betont, daß die Partei an der Diktatur des Proletariats festhalte und für die proletarische Weltrevolution arbeite. R. Hilferding sieht die Bedeutung des Parteitages darin, daß der Bolschewismus enthüllt worden sei als ein System einer opportunistischen Machtpolitik, das in immer steigenden Widerspruch gerate zu den wichtigsten Prinzipien des Marxismus und der öko-
nomischen Bedingungen der Verwirklichung des Sozialismus. Der Parteitag verabschiedet ein »Manifest der USPD an das deutsche Proletariat«:
»Die revolutionäre Arbeiterbewegung ist durch diese Spaltung für den Augenblick geschwächt worden. Statt Zusammenfassung aller Kräfte im Kampf für die Eroberung der Macht und für die Verwirklichung des Sozialismus haben die Kommunisten unter dem Druck von außen die revolutionäre Massenpartei des deutschen
Proletariats zersetzt und ihre Kraft zersplittert.
Die USPD hat stets unerschütterlich und unter großen Opfern den Kampf für die Grundsätze des revolutionären internationalen Sozialismus geführt.
Während der Revolution setzte sich die Partei ein für die Diktatur des Proletariats bis zur endgültigen Sicherung der proletarischen Herrschaft und der Beseitigung aller politischen und ökonomischen Machtpositionen der Bourgeoisie.
Die Politik der USPD wurde vereitelt durch die Rechtssozialisten. Sie hielten an der Koalition mit dem Bürgertum fest.
Auf der anderen Seite haben die Kommunisten in dieser Entwicklungszeit die gemeinsamen Aktionen des revolutionären Proletariats aus Eigensüchtelei durch die sklavische Nachahmung russischer Methoden durchkreuzt und geschwächt.
Erfüllt von dem Bewußtsein, daß die Krise des Kapitalismus von der Arbeiterklasse zum revolutionären Vorstoß ausgenutzt werden muß, aber auch in Besitz der marxistischen Einsicht in die ökonomischen Bedingungen zum Kampfe, vertrat sie in jeder Phase der revolutionären Entwicklung das Gesamtinteresse der Bewegung gegenüber der rechtssozialistischen Kompromißpolitik wie gegenüber der kommunistischen Revolutionsmache.
In diesem Kampfe wurde die USPD zur revolutionären Massenpartei.

Die deutschen Kommunisten sind infolge ihrer Politik eine einflußlose Sekte geblieben, zu schwach, um als revolutionärer Stoßtrupp gebraucht zu werden. Deshalb sollten die Massen der USPD unter die kommunistische Diktatur kommen. Damit aber diese Diktatur widerstandslos ausgeübt werden könne, mußte die USPD gespalten werden.
Die USPD hätte mit der Annahme der 21 Bedingungen nicht nur ihr Wesen geopfert, sondern auch die Zukunft der revolutionären Arbeiterbewegung in Deutschland. Diese wäre rettungslos ausgeliefert worden den Bedürfnissen der russischen kommunistischen Partei.
Die USPD bleibt bestehen als die deutsche revolutionäre, sozialistische Partei! Sie muß bestehen bleiben, weil nur sie imstande ist, die Aufgaben zu lösen, die die revolutionäre Situation der Arbeiterklasse stellt.
Wir halten fest an unserem Leipziger Aktionsprogramm. Wir erstreben mit allen Mitteln die Eroberung der politischen Macht und ihre Behauptung durch die Diktatur des Proletariats.
In diesem Kampf kann die deutsche Arbeiterklasse nur den Sieg in einem zähen Ringen erobern, wenn sie selbst einig ist.
Einig kann das Proletariat nur werden im revolutionären Kampf um Ziele, die aus seiner Klassenlage, aus seinem Klassenbewußtsein sich mit Notwendigkeit ergeben.
Im Vordergrund dieser Kämpfe muß aber immer die Verwirklichung des Sozialismus stehen.

Deshalb fordern wir in der gegenwärtigen Situation die proletarische Massenaktion zur sofortigen Inangriffnahme der Sozialisierung in den entscheidenden Wirtschaftszweigen, insbesondere den Kampf um die sofortige Sozialisierung im Bergbau.
Wir fordern angesichts der schweren ökonomischen Krise die Arbeiter und Angestellten auf zum Kampf um die Erweiterung der Rechte der Betriebsräte zur Erringung der Produktionskontrolle. Die wichtigste Aufgabe ist gegenwärtig der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit. Da die Arbeitslosigkeit die untrennbare Begleiterscheinung des kapitalistischen Wirtschaftslebens ist, so ist die Verwirklichung des Sozialismus die wirksamste Hilfe für die Arbeitslosen.
Wir fordern zur Linderung der augenblicklichen Not ausreichende Arbeitsgelegenheit für die Arbeitslosen und durchgreifende Erhöhung der Unterstützung bis zur Garantie des Existenzminimums, das unter Mitwirkung der Gewerkschaften und Betriebsräte festzusetzen ist.
Unsere Vertreter in den Gemeinden müssen eine energische Kommunalisierungspolitik betreiben, insbesondere eine sozialistische Wohnungspolitik, unterstützt durch eine Sozialisierung des Baugewerbes und der Bauhilfsindustrien und der Forsten.
Wir fordern die sofortige rücksichtslose Erhebung der Besitz- und Vermögenssteuern, die Durchbrechung der bürgerlichen Finanzpolitik durch die sofortige Sozialisierung der entscheidenden Produktionszweige.
Wir fordern ausreichende soziale Fürsorge, insbesondere für die Kriegsbeschädigten und Hinterbliebenen, Arbeitsinvaliden und Altersrentner.
Die Partei ist sich bewußt, daß die Erfüllung aller dieser Forderungen des Proletariats eine Machtfrage ist, die nicht durch parlamentarische Entscheidungen gelöst werden kann.
Die gesamte politische und ökonomische Macht der Arbeiterklasse muß in diesen Kämpfen zur Anwendung gelangen. Deshalb müssen auch die ökonomischen Organisationen der Hand- und Kopfarbeiter mit revolutionärem Geist erfüllt werden. Deshalb verpflichtet die Partei ihre Vertreter in den Gewerkschaften und Betriebsräten, unablässig die Politik der Arbeitsgemeinschaften zu bekämpfen.
Sie lehnt alle paritätischen Selbstverwaltungskörper ab und erblickt in einer von diesen getragenen »Planwirtschaft auf kapitalistischer Grundlage eine schädliche Illusion, die die Arbeiterklasse von dem Kampf um den Sozialismus ablenkt. Gewerkschaften und Betriebsräte müssen sich vor allem als Organisationen zur Verwirklichung des Sozialismus betrachten. Die Partei unterstützt die Umwandlungen der Gewerkschaften in Industrieorganisationen und lehnt jede Zersplitterung und Spaltung der Gewerkschaften auf nationaler und internationaler Basis mit aller Entschiedenheit ab.«

Die Reichstagsfraktion wird beauftragt, mit aller Kraft darauf hinzuwirken, daß eine Amnestie aller politischen Gefangenen und das Asylrecht aller politischen Flüchtlinge sichergestellt werden. Eine Zentrale für das gesamte Bildungswesen sei zu schaffen und dem Zentralkomitee anzugliedern.
Organisationsrichtlinien, nach denen Mitglied der Partei ist, der das Aktionsprogramm der USPD des Parteitages von 1919 sowie die Beschlüsse der Parteitage anerkennt und die Beiträge der Partei entrichte, werden angenommen. Bei der Aufnahme von neuen Mitgliedern sei sorgfältig zu verfahren.
Die Übernahme von Parteiämtern setzt eine einjährige, von öffentlichen Ämtern eine dreijährige Mitgliedschaft voraus. Die Zentralleitung besteht aus dem Vorstand und dem Beirat. Die Zentralleitung habe die politischen und organisatorischen Geschäfte zu führen, Massenaktionen vorzubereiten und durchzuführen, die grundsätzliche und taktische Haltung der Parteipresse zu überwachen und die geschäftlichen Unternehmungen der Partei zu kontrollieren. Sie habe das Recht, an den Zusammenkünften aller Parteikörperschaften beratend teilzunehmen, bei Aufstellungen von Bewerbern zu den Landtagen und dem Reichstag mit zu beraten und zu entscheiden. Die Parteileitung sei nicht befugt, Kreis- oder Bezirksangestellte zu besolden.
Bei 137 gültigen Stimmen werden A. Crispien und G. Ledebour (je 137) zu Vorsitzenden, W. Dittmann (136), Luise Zietz (136) zu Sekretären, P. Brühl (137), F. Künstler 136), J. Moses (136), Anna Nemitz (137), K. Rosenfeld (136), K. Schneider (136) und Mathilde Wurm (136) zu Beisitzern, R. Dißmann (137), F. Donalies (136), A. Henke (137), H. Knauf (137), K. Kürbs (137), R. Lipinski (135), K. Ludwig (137), Toni Sender (135), /. Simon (137) zu Mitgliedern des Beirats gewählt. Lore Agnes (137), W. Bock (137), G. Fuchs (137), M. Güth (137), A. Karsten (136), A. Schwarz (137), R. Wengels (137), H. Fleißner (131)
gehören der Kontrollkommission an.



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