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TITEL/INHALT

Chronik der deutschen Sozialdemokratie / Franz Osterroth ; Dieter Schuster. - [Electronic ed.]. - Berlin [u.a.]
2. Vom Beginn der Weimarer Republik bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. 3., unveränd. Aufl. 1980.
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2001

Stichtag:
23. März 1933

Der Reichstag nimmt gegen die Stimmen der SPD das »Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich« (Ermächtigungsgesetz) an. Die Regierung erhält damit das Recht, Gesetze, die von der Reichsverfassung abweichen, ohne Zustimmung des Reichstages zu erlassen. 94 SPD-Abgeordnete sind, trotz zahlreicher Warnungen, anwesend. J. Leber wird auf dem Weg zur Sitzung verhaftet, 26 Abgeordnete sind bereits verhaftet oder emigriert.
O. Wels erklärt in seiner Rede:
»Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht. Nach den Verfolgungen, die die Sozialdemokratische Partei in der letzten Zeit erfahren hat, wird billigerweise niemand von ihr verlangen oder erwarten können, daß sie für das hier eingebrachte Ermächtigungsgesetz stimmt. Noch niemals, seit es einen Deutschen Reichstag gibt, ist die Kontrolle der öffentlichen Angelegenheiten in solchem Maße ausgeschaltet worden, wie es jetzt geschieht und wie es durch das neue Ermächtigungsgesetz geschehen soll. Die Herren von der Nationalsozialistischen Partei nennen die von ihnen entfesselte Bewegung eine nationale Revolution, nicht eine nationalsozialistische. Das Verhältnis ihrer Revolution zum Sozialismus beschränkt sich bisher auf den Versuch, die sozialdemokratische Bewegung zu vernichten, die in mehr als zwei Menschenaltern die Trägerin sozialistischen Gedankengutes gewesen ist und es auch in Zukunft bleiben wird. Wollten die Herren von der NSDAP sozialistische Taten verrichten, brauchten sie kein Ermächtigungsgesetz.

Wir Sozialdemokraten haben in schwerster Zeit die Mitverantwortung getragen und sind dafür mit Steinen beworfen worden. Unsere Leistungen für den Wiederaufbau von Staat und Wirtschaft für die Befreiung der besetzten Gebiete werden vor der Geschichte bestehen. Wir haben gleiches Recht für alle und ein sozialeres Arbeitsrecht geschaffen. Wir haben geholfen, ein Deutschland zu schaffen, in dem nicht nur Fürsten und Barone, sondern auch Männern aus der Arbeiterklasse der Weg zur Führung des Staates offensteht. Davon können Sie nicht zurück, ohne ihren eigenen Führer preiszugeben. Vergeblich wird der Versuch bleiben, das Rad der Geschichte zurückzudrehen.

Wir Sozialdemokraten wissen, daß man machtpolitische Tatsachen durch bloße Rechtsverwahrungen nicht beseitigen kann ....
Aber auch das Rechtsbewußtsein des Volkes ist eine politische Macht, und wir werden nicht aufhören, an dieses Rechtsbewußtsein zu appellieren.

Die Verfassung von Weimar ist keine sozialistische Verfassung, aber wir stehen zu den Grundsätzen des Rechtsstaates, der Gleichberechtigung, des sozialen Rechts, die in ihr niedergelegt sind.

Wir deutschen Sozialdemokraten bekennen uns in dieser geschichtlichen Stunde feierlich zu den Grundsätzen der Menschlichkeit und der Gerechtigkeit, der Freiheit und des Sozialismus. Kein Ermächtigungsgesetz gibt Ihnen die Macht, Ideen, die ewig und unzerstörbar sind, zu vernichten . . . Das Sozialistengesetz hat die Sozialdemokratie nicht vernichtet. Auch aus neuen Verfolgungen kann die deutsche Sozialdemokratie neue Kraft schöpfen. Wir grüßen die Verfolgten und Bedrängten, wir grüßen unsere Freunde im Reich. Ihre Standhaftigkeit und ihre Treue verdienen Bewunderung. Ihr Bekennermut, ihre ungebrochene Zuversicht verbürgen eine hellere Zukunft.«

Das Präsidium des Reichsverbandes der Deutschen Industrie kommt zu der einmütigen Auffassung, daß durch die Wahlen die Grundlage für ein stabiles Regierungsfundament geschaffen und damit die Störungen beseitigt sind, die sich aus den ständigen politischen Schwankungen der Vergangenheit ergeben und die wirtschaftliche Initiative stark gelähmt haben. Für den notwendigen tatkräftigen Wiederaufbau komme es darauf an, die Sammlung und Mitwirkung aller aufbauwilligen Kräfte herbeizuführen. Die deutsche Industrie, die sich als einen wichtigen und unentbehrlichen Faktor für den nationalen Aufbau betrachtet, sei bereit, an dieser Aufgabe tatkräftig mitzuwirken, und der Reichsverband der Deutschen Industrie - als ihre wirtschaftspolitische Vertretung - werde alles tun, um der Reichsregierung bei ihrem schweren
Werke zu helfen.
Die Vereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände begrüßt in einer Erklärung das Bekenntnis der Regierung zum sozialen Frieden und zur Beseitigung des die Volksgemeinschaft zerreißenden Klassenkampfes. Sie stellt sich der Regierung mit allen ihren Kräften zur Mitarbeit an dem Ziel zur Verfügung, durch harmonische Zusammenarbeit der Arbeitgeber und Arbeitnehmer eine neue Kraftquelle zur Wiederaufrichtung von Volk und Wirtschaft zu erschließen.



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net edition fes-library | Juni 2001