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TITEL/INHALT

Chronik der deutschen Sozialdemokratie / Franz Osterroth ; Dieter Schuster. - [Electronic ed.]. - Berlin [u.a.]
1. Bis zum Ende des Ersten Weltkrieges. 2., neu bearb. und erw. Aufl. 1975.
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2001

Stichtag:
15./21. Sept. 1912

Parteitag in Chemnitz, 409 Delegierte. Tagesordnung: Die Lebensmittelteuerung (Ph. Scheidemann); Bericht der Reorganisationskommission (H. Müller); die Reichstagswahlen (Ph. Scheidemann); der Bergarbeiterschutz (0. Hue); der Imperialismus (H. Haase); die Maifeier (W. Pfannkuch). Der Parteitag beschäftigt sich auch mit dem Ausschluß G. Hildebrands. In der Diskussion über die Reichstagswahl kommt es zu Auseinandersetzungen über das Stichwahlabkommen.

Zur Imperialismusfrage erklärt der Parteitag, daß die Sozialdemokratie auf das nachdrücklichste imperialistische und chauvinistische Bestrebungen bekämpfe, wo immer sie sich zeigen mögen. Sie pflege dagegen mit aller Entschiedenheit die internationale Solidarität des Proletariats, das nirgends feindselige Gefühle gegen ein anderes Volk hege. Der Parteitag bekunde den entschlossenen Willen, alles aufzubieten, um eine Verständigung zwischen den Nationen herbeizuführen und den Frieden zu hüten. Der Parteitag verlangt die Beendigung des Wettrüstens und fordert die Beseitigung des Schutzzollsystems.

Gegen die Verfolgungen der proletarischen Jugendbewegung durch die staatlichen Behörden wird Einspruch erhoben, ebenso gegen das »heuchlerische Gebaren« und die »wüsten Methoden der bürgerlichen Jugendpflege«. Der Parteitag empfiehlt den Parteigenossen, junge Arbeiter und Arbeiterinnen im Alter von 18 bis 21 Jahren durch geeignete Maßnahmen für die Arbeiterorganisation zu gewinnen.

Gegen die planmäßige Bewaffnung von Arbeitswilligen bei Streiks und gegen die nachsichtige Haltung der Behörden gegenüber deren Gewalttaten wird schärfstens protestiert.

Die Fraktion wird beauftragt, den Reichstag nachdrücklichst zur Beschlußfassung über eine den modernen Betriebs- und Arbeitsverhältnissen entsprechende reichsgesetzliche Regelung des Bergarbeiterschutzes zu veranlassen. Diese müsse zwingend festlegen: Eine Arbeitszeit von höchstens acht Stunden, Verbot der Untertagearbeit für Arbeiter unter 18 Jahren, Bereithaltung einer genügenden Zahl von Rettungsapparaturen, Einrichtung von entsprechenden Wasch- und Badeanstalten.

Die sofortige Einberufung des Reichstages sei unerläßlich, um durchgreifende Maßnahmen gegen die zunehmende Teuerung, deren Ursache in der herrschenden Schutzzollpolitik Deutschlands liege, zu beschließen.

Der Parteitag spricht den dringenden Wunsch aus, daß Parteimitglieder in Zukunft keine Sonderzusammenkünfte mehr abhalten. Eine populär-wissenschaftliche Broschüre über die moderne Strafrechtstheorie, in der der prinzipielle Kampf der Partei gegen die Todesstrafe zu propagieren sei, soll herausgegeben werden. Beim Schnapsboykott wird eine noch gewissenhaftere Durchführung der Parteitagsbeschlüsse erwartet.

Der Parteitag beschließt ein neues Organisationsstatut. Die wesentliche Neuerung ist die Bildung des Parteiausschusses. Dieser Ausschuß besteht aus je einem Vertreter der Bezirks- und Landesvorstände, der von ihnen aus ihrer Mitte für die Dauer eines Jahres zu wählen ist. Der Ausschuß hat nur beratende Funktion. Seine Aufgabe ist es, gemeinsam mit dem Parteivorstand über wichtige, die Gesamtpartei berührende politische Fragen, über die Einrichtung zentraler Parteiinstitutionen, die die Partei finanziell dauernd erheblich belasten, über die Festsetzung der Tagesordnung des Parteitages sowie über die Bestellung der Referenten zu beraten. Der Parteivorstand muß den Parteiausschuß regelmäßig alle Vierteljahre und im Bedarfsfalle auch häufiger unter Angabe der Tagesordnung zu einer Sitzung berufen. Eine außerordentliche Sitzung muß stattfinden, wenn ein Drittel der Landes- und Bezirksvorstände unter Angabe der Gründe diese beantragt.

Die bisher von der Kontrollkommission gewählten Beisitzer werden nun vom Parteitag gewählt. Das weibliche Vorstandsmitglied gehört künftig zu den Schriftführern.

Als Vorsitzende der Partei werden bei 454 gültigen Stimmen A. Bebel; (452) und H. Haase (438), als Kassierer 0. Braun (447), zu Sekretären W. Pfannkuch (449), H. Molkenbuhr (452), A. Gerisch (450), F. Ebert (423), H. Müller (417), Ph. Scheidemann (442) und Luise Zietz (446), als Beisitzer R. Wengels, P. Brühl und J. Silberschmidt, als Kontrolleure A. Kaden (Vorsitzender, 446), W. Bock (383), C. Hengsbach (343), E. Ernst (432), H. Stubbe (391), F. Brühne (327), J. Timm (376), A. Geck (348), Clara Zetkin (309), P. Löbe (159), A. Brey (128), Helene Grünberg (127) und C. Severing (134) gewählt.


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net edition fes-library | Juni 2001