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[Seite der Druckausg.: 19(Fortsetzung)]




Neue Heimat in der Lindenstraße: Alte und neue Schätze

Der Umzug in das Domizil des Parteivorstandes Lindenstraße 3 (und später Lindenstraße 69) war mit personellen Umstrukturierungen verbunden: Mit Wirkung vom 1. Oktober 1904 bestimmte der Parteivorstand Max Grunwald zum neuen Leiter von Parteiarchiv und Parteibibliothek. Grunwald suchte seine neue Aufgabe redlich mit seinen weiteren „Jobs„ als Geschäftsführer der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion und Lehrbeauftragter an der Berliner Arbeiterbildungsschule in Einklang zu bringen. [Fn 65: Mayer, „Die Geschichte des sozialdemokratischen Parteiarchivs...„, a.a.O., S. 51.] Max Grunwald konnte auf den Beständen der vereinigten Bibliotheken aufbauen. Stärken, Dichte und Güte des Bestandes lagen - nach den bewunderungswürdigen Katalogisierungsleistungen - offen „wie ein Buch„. Auf diesem Bestand konnte er aufbauen. Bestandslücken wurden nun auch im gleichen Maße sichtbar und öffentlich, wie es das Jenaer Parteitagsprotokoll von 1905 kritisch vermerkte. [Fn 66: Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Jena vom 17. bis 23. September 1905. Berlin, 1905, S. 53.]

Wo lagen nun die Stärken? Wo die Schwächen? Durch Blättern im Katalog wird vieles deutlich. Die Schriften der bedeutendsten utopischen Sozialisten lagen in hoher Vollständigkeit in ihren Erstausgaben vor. Von den deutschen Frühsozialisten - von Karl Grün und Moses Heß angefangen - bis hin zu den namhaften Repräsentanten der deutschen Sozialdemokratie war die einschlägige Broschürenliteratur nahezu vollständig vorhanden. Die Schriften der Klassi-

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ker Lassalle, Marx und Engels waren selbstverständlich mit ihren frühen Ausgaben präsent. Zeitschriften, an denen Marx und Engels mitgearbeitet hatten, waren als Belegexemplare vertreten. Die Bestände reichten von den Periodika der Französischen Revolution („Le Moniteur universel„, „Le Point du jour ou Résultat de ce qui s’est passé la veille à l’Assemble Natio-nale„) über die emanzipatorischen Blätter der französischen Hauptstadt der frühen vierziger Jahre („Revue sociale, ou solution pacifique du problème du prolétariat„, „La Ruche popu-laire. Journal des ouvriers rédigé et publié par eux-mêmes„) hin zu den berühmten Zeitungen und Zeitschriften der englischen Chartistenbewegung („Northern Star„, „Democratic Review of British and foreign politics, history and literature„).

Es war aber die Dichte der Überlieferung der deutschen emanzipatorischen und sozialistischen Zeitschriften und Zeitungen, die neutrale Beobachter immer wieder in ungläubiges Erstaunen versetzte. [Fn 67: Im Februar 1928 notierte der Zeitungswissenschaftler Alfred Schulz: „Das Archiv der SPD in Berlin besitzt eine außerordentlich reichhaltige Spezialbibliothek zur Geschichte der Partei im engeren Sinne, darüber hinaus auch viel zur Geschichte der ganzen sozialen Bewegung überhaupt. Ganz besonders wertvoll scheinen mir die für die Parteigeschichte wichtigen Zeitungen- und Zeitschriftenjahrgänge unter denen sich viele sehr seltene befinden.„ IISG Amsterdam, Bestand SPD Partei-Archiv. ] Unter diesen Raritäten befand sich das Organ des Bundes der Geächteten „Der Geächtete. Zeitschrift in Verbindung mit mehreren deutschen Volksfreunden„ und die Zeitschriften des Handwerkerkommunisten Wilhelm Weitling „Der Hülferuf der deutschen Jugend„ und die Monatsschrift „Die junge Generation„. Im Pariser „Vorwärts„ hatte Karl Marx seine politischen Artikel gegen Arnold Ruge veröffentlicht. In den Blättern des „wahren„ Sozialismus „Westphälisches Dampfboot„, „Rheinische Jahrbücher zur gesellschaftlichen Reform„, „Deutsches Bürgerbuch„, „Der Gesellschafts-Spiegel. Organ zur Vertretung der besitzlosen Klassen und zur Beleuchtung der gesellschaftlichen Zustände der Gegenwart„ war viel über die wirklichen sozialen Verhältnisse in Deutschland zu lesen. Natürlich fehlten in der Bibliothek die Blätter nicht, die stark unter dem Einfluss von Karl Marx standen: „Rheinische Zeitung„, „Deutsche Brüsseler Zeitung„, „Deutsch-Französische Jahrbücher„, „Kommunistische Zeitschrift„, „Neue Rheinische Zeitung„.

Die allerersten Zeitungen von Arbeitern für Arbeiter der bürgerlichen Revolution von 1848/49 („Das Volk„, „Die Verbrüderung. Correspondenzblatt aller deutschen Arbeiter„) waren als Kostbarkeiten in der Bibliothek ebenso präsent wie die Blätter in denen sich die Trennung der bürgerlichen von der demokratischen Demokratie manifestierte („Freie Blätter„, Mülheim etc.). Die deutschsprachige Emigrationspresse („Das Volk„, London) zählte zum Bibliotheksbestand wie die in Deutschland erschienenen Blätter, die der jungen Bewegung der Arbeiterbildungsvereine eine Stimme gaben („Coburger Allgemeine Arbeiterzeitung„, „Göppinger Arbeiterzeitung„ etc.). Besonders stolz waren die SPD-Bibliothekare auf die sozialdemokratische Presse, die mit der Agitation Ferdinand Lassalles zu neuem Leben erwacht war. Die periodischen Publikationen des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV) zu Lassalles Lebzeiten waren in der Bibliothek genauso vorhanden wie die Druckerzeugnisse sämtlicher „Spaltungen„ nach seinem Tode. („Der Nordstern„, Hamburg, „Der Social-Demokrat„, Berlin, „Neue Social-Demokrat„, Berlin, „Freie Zeitung des Lassalle’schen Allgemeinen Deutschen Arbeiter-Vereins„, „Lassalle’sche Westentaschenzeitung für Arbeiter„).

Die Gründung der Parteibibliothek war von August Bebel ausgegangen. Er selbst hatte viel in die Bibliothek eingebracht. So waren die von August Bebel und Wilhelm Liebknecht geführte Gruppe der Eisenacher mit ihren Zentralorganen und einer gut geführten Lokalpresse in der Bibliothek präsent. Die Berliner „Demokratische Zeitung„, der „Dresdner Volksbote. Organ

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für die Interessen des gesamten Volkes„, das „Demokratische Wochenblatt„ und das von Wilhelm Liebknecht geleitete Zentralorgan „Der Volksstaat„ waren fast lückenlos vertreten. Fehlende Einzelnummern bei den „heiligen„ Zeitschriften wurden als besonders schmerzlich empfunden, und Komplettierungsbemühungen lassen sich bis 1933 verfolgen.

Die Stärke der Bibliotheksbestände ist evident. Aber wo lagen ihre Schwächen? In den verschiedenen Phasen der sozialdemokratischen Parteibibliotheken lassen sich immer wiederkehrende Strukturelemente ausmachen: Mit hoher Sachkenntnis und mit hohem Engagement wurden die Bestände länger zurückliegender Perioden vervollständigt. Die Erwerbung aktueller Erscheinungen geriet dabei manchmal aus den Augen. Nimmt man den Katalog der SPD-Bibliothek von 1901 und den von 1927 zum Vergleich, wird der Sachverhalt für die „Ära Max Grunwald„ besonders deutlich. Natürlich: Die „hohe Parteiliteratur„ („Neue Zeit„, „Sozialistische Monatshefte„) war lückenlos präsent. Ebenso waren die renommierten Parteiverlage J.H.W. Dietz Nachf., Vorwärts-Verlag, Birk, Wörlein, Verlag der Leipziger Buchdrucker etc. gut vertreten.

Bei den regionalen Parteizeitungen klaffen indes schon große Lücken, das gleiche gilt für das lokale sozialdemokratische Schriftgut. Die SPD war nach dem Fall des Sozialistengesetzes zur Massenpartei geworden; ihre Publikationstätigkeit war in die Breite wie in die Tiefe gegangen. Mit der unzulänglichen Personalstruktur in Berlin war die gesamte Palette der blühenden Publikationskultur nicht mehr zu dokumentieren,

Aber auch auf anderen Gebieten konnten die eigenen Ansprüche nur teilweise eingelöst werden: Es gelang Max Grunwald nur punktuell, das Gewerkschaftsschrifttum zu sammeln. Weder gab es eine halbwegs vollständige Überlieferung der Verbandszeitschriften, noch eine halbwegs vollständige Überlieferung der Protokolle und Geschäftsberichte auf der nationalen Gewerkschaftsebene.

Und noch ein Drittes muss erwähnt werden: Zu dem brillanten Bestand an wissenschaftlicher Literatur aus der Bibliothek von Karl Marx und Friedrich Engels konnten die Nachfolger fast nichts dazu tun. Dafür fehlten die Mittel und die nötige Infrastruktur zur Beobachtung des Buchmarktes.

Der Parteiarchivar und Parteibibliothekar Max Grunwald war umfassend gebildet; er kannte „seine„ sozialistische Literatur, und er gab sich große Mühe. Mit aufrüttelnden Appellen an die Genossinnen und Genossen suchte er eine „möglichst komplette Sammlung aller auf die Arbeiterbewegung bezüglichen Literatur„ zusammen zu tragen. In Stil und Ton knüpfte er an die Aufrufe während der Zeit des Sozialistengesetzes an: „Um diesen Zweck zu erreichen, erinnern wir erneut daran, daß die Verleger sozialistischer Schriften, die Vorstände der Landes- und Provinzialorganisationen, die Gewerkschaften, die Partei- und Arbeitersekretariate, kurz alle Stellen, die sich mit Veröffentlichungen im Interesse der Arbeiterbewegung befassen, diese Publikationen an das Archiv gelangen lassen.„ [Fn 68: Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Jena...., a.a.O., S. 54.]

Freiwilligkeit und Solidarität sind hohe Güter. Beide sind durch nichts zu ersetzen. Aber sie haben auch ihre Grenzen: Die sozialdemokratischen Maurer lieferten an die Bibliothek ab, die sozialdemokratischen Gärtner taten es nicht.

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Mangelnde finanzielle Mittel beim Erwerb neuer Literatur konnten durch den Erwerb wertvoller geschlossener Privatbibliotheken ausgeglichen werden. Es waren vor allem die Privatbibliotheken, die wertvolle Einzelstücke und geschlossene Bestandssegmente bargen. Bis zu Grunwalds Ausscheiden im Jahr 1914 waren es die Büchersammlungen von August Bebel, Paul Singer, Ignaz Auer und Julius Motteler, die die Parteibibliothek bereicherten. [Fn 69: Drahn, „Das Archiv ...„, a.a.O., S. 54.] In diesem Zusammenhang muss auch die vertraglich vereinbarte Bücherleihgabe des vermögenden Fürsten David Bebutov genannt werden. Kein Vermächtnis ohne Konditionen. Bebutovs Sonderwünsche bekräftigten u.a. August Bebel und Friedrich Ebert mit ihren Unterschriften. [Fn 70: Mayer, „Die Geschichte des sozialdemokratischen Parteiarchivs...„, a.a.O., S. 55. IISG Amsterdam, Bestand SPD Partei-Archiv.]

Interpretiert man die parteigenössische Literatur über das Parteiarchiv richtig, so fügte Max Grunwald eine wichtige Erwerbungskomponente hinzu: Er initiierte regelmäßige Tauschbeziehungen mit den ausländischen Bruder- und Schwesterparteien, um die wichtigsten gedruckten Quellen der befreundeten Organisationen des Auslandes in Berlin verfügbar zu haben. [Fn 71: Hinrichsen, „Das Parteiarchiv„, a.a.O., S. 117 sprach 1928 über das Desaster des Kriegsausbruchs: „Der Aus bruch des Weltkrieges unterbrach mit einem Schlag die internationalen Verbindungen und Einsendungen vom Ausland.„]

Freiwillige Abgaben von Verlagen und Zeitungsredaktionen, wertvolle Geschenke von Privatpersonen und kostenloser Tausch waren und blieben im Kaiserreich die wichtigsten „Erwerbungsstrategien„ der Parteibibliothek. Der Bücherzuwachs von Gönnern und Freunden darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Wachstum sich eher in bescheidenem Rahmen abspielte. Alle gemittelten Durchschnittswerte weisen auf einen jährlichen Zuwachs von höchstens 500 Bänden hin. Der jährliche Literaturausstoß der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung lag um ein Mehrfaches höher. Die genaue Anzahl von Titeln und Bänden der Bibliothek im Kaiserreich wird sich nie genau ermitteln lassen. Im Kampf mit der Statistik von Titeln, Bänden und „Nummern„ lagen für die Verantwortlichen viele Fallstricke. Nimmt man die Angaben Jonny Hinrichsens zu Beginn der Weimarer Republik als eine seriöse Schätzung - und alles spricht dafür -, so bestand die Bibliothek 1919 aus ca. 14.000 Titeln, während die Bändezahl (vor allem wegen der „nichtgezählten„ Zeitschriftenbände) signifikant darüber lag. [Fn 72: Hinrichsen, Jonny: „Aus der Geschichte des Parteiarchivs„. In: Volk und Zeit, Nr. 8 (1920), unpag. ]

Bei aller kritischen Analyse im Detail: Keine andere Bibliothek auf der Welt konnte eine vergleichbare Sammlung aufweisen. Weder eine staatliche Sammlung noch eine private Sammlung hatte Ähnliches zu bieten. Zu Recht taucht in allen Beschreibungen das Prädikat „einmalig„ auf.

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Die Benutzung der „Rüstkammer„: Trockene Zahlen und wirkliches Parteileben

Wird in der zeitgenössischen sozialdemokratischen Literatur vom Parteiarchiv und seiner Bibliothek gesprochen, so nimmt die Sprache kriegerische Züge an: „Waffenkammer„, „Rüstkammer„, „Arsenal„. Die eigenen gesellschaftlichen Utopien einer kommenden gerechten Welt wurzelten in der Vorstellung, die Geschichte „richtig„ zu interpretieren und daraus die „richtigen„ Schlüsse zu ziehen. Aus der historischen und gesellschaftlichen Ent-

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wicklung und aus der Parteigeschichte galt es zu lernen und daraus Handlungsanleitungen abzuleiten. Dafür waren Archiv und Bibliothek auch geschaffen worden. Die Nutzung der „Rüstkammer„ sollte dem großen Ziel dienen. Und natürlich war es die reiche Parteiliteratur, die im „Tageskampf„ gegen den politischen Gegner schützen und kluge Angriffe vorbereiten sollte.

Über die wirkliche Alltagsnutzung vor dem Ersten Weltkrieg wissen wir nur wenig. Exakte Benutzungszahlen liegen nur für ein einziges Jahr vor. Paul Mayer spricht davon, „daß eine gewisse Scheu der Parteiführung vor der Publizität nicht zu verkennen„ sei. Schließlich waren die Erfahrungen aus der „sozialistengesetzlichen Zeit„ für die Verantwortlichen noch zu lebendig. Das Parteiarchiv war „bis zum Zusammenbruch der wilhelminischen Aera nur für wenige zugänglich und verwendbar„. [Fn 73: Mayer, „Die Geschichte des sozialdemokratischen Parteiarchivs...„, a.a.O., S. 68. ] Nur das Protokoll des Essener Parteitages von 1907 gibt knappen Aufschluss über die Benutzerstruktur zwischen 1905 und 1907.Von 144 Benutzern mit 258 Besuchen zum Arbeiten ist die Rede. Jährlich seien 234 Bände ausgeliehen worden. Von „bürgerlichen Schriftstellern und Gelehrten„ spricht das Protokoll. Die eigentliche parteiinterne Nutzung lag wohl in den brieflichen „literarischen Quellennachweisen und Materialzusammenstellungen„. [Fn 74: Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Essen vom 15. bis 21. September 1907. Berlin, 1907, S. 52.] Auf Anforderung das „Richtige„ herauszusuchen, zusammenzustellen und zu bewerten, darin lag der unmittelbare Nutzen der Bibliotheksbestände für den „Tageskampf„.

Die Zeugnisse für die regelmäßige Alltagsnutzung sind heute in der Regel verschüttet. Gut dokumentiert hat sich hingegen die Benutzung der Parteibibliothek durch Rosa Luxemburg unmittelbar vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Ihr „Fall„ soll exemplarisch und lebendig den Gebrauchswert für die sozialdemokratische Tagespolitik dokumentieren. So und ähnlich werden sich andere Fälle abgespielt haben.

Auf einer politischen Versammlung am 7. März 1914 in Freiburg im Breisgau hatte Rosa Luxemburg im Laufe der Rede scharf die systematischen Soldatenmisshandlungen in der preußischen Armee gegeißelt. Die gespannte Aufmerksamkeit aller Zuhörer war ihr gewiss. Bereits im Februar 1914 war sie wegen scharfer Töne auf Parteiversammlungen angeklagt worden. Sie schilderte im Südbadischen einen exemplarischen Fall, um dann fortzufahren: „Es ist sicher eins von den unzähligen Dramen, die in den deutschen Kasernen tagaus, tagein sich abspielen und wo nur selten das Stöhnen der Gepeinigten zu unseren Ohren dringt.„ [Fn 75: Zitat und Darstellung nach: Quack, Sibylle: Geistig frei und niemandes Knecht. Paul Levi - Rosa Luxemburg, politische Arbeit und persönliche Beziehung. Geringf. veränd. Ausg. Frankfurt/M., 1986, S. 85 f.]

Prompt klagte sie das preußische Kriegsministerium wegen Beleidigung und öffentlicher [Fn 76: AdsD, Levi-NL, Nr. 255. Auf diese Fundstelle im Nachlass Paul Levi im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung beziehen sich die folgenden Quellen.] Verächtlichmachung der Offiziere, Unteroffiziere und Soldaten an. Gemeinsam mit ihren Verteidigern Paul Levi und Kurt Rosenfeld dachte sie sich eine unkonventionelle Strategie aus: Tausende von Zeugen sollten vorgeladen werden. Parallel sollten eine Fülle von Berichten aus bürgerlichen und sozialdemokratischen Quellen dokumentiert werden. Bereits am 8. Juni 1914 listete Kurt Rosenfeld - später selbst preußischer Justizminister - eine Fülle von Broschüren auf („In Ihrer Strafsache müsste folgendes Material beschafft werden...„). Rosenfelds Angaben waren indes hastig zusammengestellt und voller Fehler im Detail. Gleichwohl initiierte Rosa Luxemburg einen emsigen Briefwechsel mit diversen Parteiver-

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lagen. Viele Antworten aus dem Reich waren jedoch ernüchternd („Diese beiden Broschüren sind vergriffen und auch trotz aller Mühe nicht mehr zu beschaffen.„)

Ein Mitarbeiter der Buchhandlung Vorwärts stellte am 20. Juni 1914 vorsichtig und defensiv die entscheidende Frage: „An das Parteiarchiv, in dem auch die älteren Broschüren enthalten sind, haben Sie sicher schon gedacht.„ Rosa Luxemburg hatte nicht. Das Broschürenmaterial wurde rasch beschafft und für die Prozessvorbereitung ausgewertet. Wie ihr Lehrmeister Karl Marx „las„ Rosa Luxemburg engagiert und nutzte verschiedenfarbige Stifte, um sich die Prozessvorbereitung zu erleichtern.

Im Prozess konnte Paul Levi ausführen, die Verteidigung besitze Material von über 30.000 Fällen von Soldatenmisshandlungen. Nicht wenig hatte die Parteibibliothek zu diesem guten Ergebnis beigetragen. Der Prozess wurde vertagt. Die sozialdemokratische Presse feierte die Vertagung als großen Sieg. Die ausgeliehenen Bücher, Broschüren und Zeitschriften gingen nicht in die Bibliothek des Parteiarchivs zurück. Der Ausbruch des Weltkrieges verhinderte dies. Einige liegen heute im Nachlass des Rechtsanwaltes Paul Levi. Der Weltkrieg brachte indes mehr als nur die Ordnung der Bücher in der „Rüstkammer„ der Sozialdemokratie „durcheinander„.

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Zusammenbruch - Neuaufbau - Blütezeit

Für die Bibliothek war der Kriegsausbruch ein Katastrophe. Der internationale Literaturaustausch brach zusammen. Sendungen der Bruder- und Schwesterparteien fielen der Beschlagnahme der Kriegszensur zum Opfer. Stattdessen wurde die Bibliothek mit einer Fülle von kriegsverherrlichenden Broschüren überschwemmt, die den Charakter der Bibliothek vollständig veränderten. [Fn 77: Hinrichsen, „Aus der Geschichte des Parteiarchivs„, a.a.O.]

Von der Parteiöffentlichkeit fast unbemerkt, hatte sich Max Grunwald von der Archiv- und Bibliotheksarbeit verabschiedet. [Fn 78: Zu den Einzelheiten seines Abganges s. Mayer, „Die Geschichte des sozialdemokratischen Parteiarchivs...„, a.a.O., S. 57 f.] Sein Nachfolger, der Reichstagsabgeordnete Eduard David, konnte der fachlichen Bibliotheksarbeit während des Krieges keine Impulse geben. David hatte andere Sorgen. 1917 verabschiedete er sich von seinem Amt. Sein Nachfolger - Ernst Drahn - galt in der Zunft durchaus als Fachmann. Seine sozialistische Buchhandelsgeschichte („Zur Entwicklung und Geschichte des sozialistischen Buchhandels und der Arbeiterpresse„), 1913 in Gauzsch in der Nähe von Leipzig verlegt, wies ihn als einen profunden Kenner der Materie aus. Sein unrühmlicher Abgang als „Neukommunist„ zu Beginn des Jahres 1920 und der ihm anhaftende Verdacht, Archivmaterial entwendet zu haben, ließen rasch aus dem Blickfeld geraten, dass Drahn in der revolutionären Umbruchphase viel und Gutes für die Parteibibliothek geleistet hatte. Er war seriöser Bibliograph des scheinbar minderwichtigen sozialistischen Broschürenschriftgutes und schätzte den Wert der Flugschriften der Revolutions- und Umbruchphase für die kommende historische Forschung richtig ein.

Angesichts neuer Materialströme erkannte der Buchhandelshistoriker rasch die Unzulänglichkeit der bestehenden Bibliothekssystematik und begann mit umfänglichen Revisionsarbeiten, die sein Nachfolger - Jonny Hinrichsen - zu einem guten Ende führte. Der gelernte Zimmerer Hinrichsen galt als solider „Parteiarbeiter„. Er widmete seine ganze Kraft der Benutzbarma-

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chung und Erschließung der Bestände. Er fasste Beratung, bibliographische Auskünfte Literaturzusammenstellungen und Katalogisierungsarbeiten als echte „Dienstleistung„ auf. Bescheiden und unprätentiös im Auftreten, war er der richtige Mann am richtigen Ort.

Seine Zusammenarbeit mit Paul Kampffmeyer erwies sich als eine glückliche Fügung. Der „geläuterte junge Wilde„ trat 1921 in den Dienst des Parteiarchivs als wissenschaftlicher Berater ein. [Fn 79: Mayer, ebda., S. 70.] Parallel zu seiner Archivtätigkeit schlüpfte er im Parteiverlag J.H.W. Dietz Nachf. in die Rolle eines wissenschaftlichen Lektors. Der ehemalige libertäre Sozialist verwandelte den traditionellen und angesehenen Verlag von einem trockenen „Nachdruckverlag„ sozialistischer Basisliteratur zu einem kulturell lebendigen Unternehmen, dessen Verlagsprogramm bis hin zum sozialistischen Wanderführer reichte. Kampffmeyer sah Archiv-, Bibliotheks- und Verlagsarbeit als eine Einheit auf dem Weg hin zu einem umfassenden Kulturangebot der Partei. Dem gedruckten Wort war der ehemalige Redakteur verschiedener Partei- und Genossenschaftszeitungen tief verpflichtet. Er galt als guter Pädagoge.

Kampffmeyer gelang es offensichtlich, einen angemessenen Betrag für den regelmäßigen Literaturerwerb zu sichern, so dass erstmals an eine planvolle bibliothekarische Bestandsergänzung gedacht werden konnte. Jedoch blieben auch in der ersten deutschen Republik die Segmente Tausch und Geschenk die wichtigsten Erwerbungsarten. Von den Erfolgen auf diesem Sektor berichteten regelmäßig die Jahrbücher der Partei. [Fn 80: „Einen nicht unerheblichen Teil der Eingänge verdankt das Archiv den Parteiverlagsgeschäften durch Zusen dung eines Freiexemplars ihrer Neuerscheinungen. Auch der Verlag des ADGB und mehrere mit der Partei sympathisierende Verleger, Institute und Privatpersonen tragen in derselben Weise dazu bei, die Sammlungen des Archivs laufend zu ergänzen.„ Jahrbuch der Deutschen Sozialdemokratie für das Jahr 1928, S. 182.]
Hinrichsen fügte ein weiteres aktives Erwerbungsmoment hinzu, indem er vor und nach Wahlkämpfen gedruckte Werbematerialien der Parteien einsammelte. [Fn 81: IISG Amsterdam, Bestand SPD Partei-Archiv.] In Deutschland sollte noch ein weiteres halbes Jahrhundert vergehen, ehe diese Art der Literaturerwerbung „hoffähig„, akzeptiert und schließlich sogar gefördert wurde.

Die Beendigung der sozialdemokratischen Parteispaltung und die Rückkehr der „Rest-USPD„ zur sozialdemokratischen Mutterpartei im September 1922 brachte auch die Rückführung der USPD-Parteibibliothek. [Fn 82: Die Bestände sind dokumentiert „Literatur der ehemaligen Unabhängigen Sozialdemokratie Deutschlands„. In: Bibliothek der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Systematischer Katalog. Berlin, Dezember 1927, S. 953 f.] 1920 hatten durchgängig alle bedeutenden Bildungs- und Kulturpolitiker der unabhängigen Sozialdemokratie den Weg zur Kommunistischen Partei Deutschlands abgelehnt. Sie kehrten mit „ihrer Bibliothek„ zur SPD zurück. Die wertvollen USPD-Bestände prägte das gleiche Strukturelement wie die Mutterbibliothek: Nahezu vollständige Überlieferung der Broschüren- und Zeitschriftenbestände; große Lücken bei der Überlieferung der reichen lokalen und regionalen Zeitungskultur. [Fn 83: Zu den USPD-Zeitungen s. Wheeler, Robert: Bibliographie und Standortverzeichnis der Unabhängigen Sozial demokratischen Presse von 1917-1922. In: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, H. 6 (Juni 1968), S. 35 f.]

In der Zwischenzeit war Großes geschehen: Der exzellente Ruf der Bibliotheksbestände war auch dem Preußischen Ministerium für Wissenschaft und Volksbildung nicht verborgen geblieben. Dort hatte bis April 1921 Konrad Hänisch, Verfasser zahlreicher politischer, kulturpolitischer und literarischer Werke und ehedem Leiter der „SPD-Flugschriftenzentrale„, das Sagen gehabt. Im größten Krisenmonat der Weimarer Republik wurde aus seinem ehe-

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maligen Ministerium die Bibliothek unter „Denkmalschutz„ gestellt. Am 19. November 1923 teilte das Ministerium mit: „Die Bibliothek der sozialdemokratischen Partei hat ein besonderes wissenschaftliches und geschichtliches Interesse für die Allgemeinheit und genießt daher den Schutz der Verordnung über den Schutz von Denkmälern und Kunstwerken vom 8. Mai 1920.„ [Fn 84: Hinrichsen, „Das Parteiarchiv„, a.a.O., S. 119.]

Dieses „Adelsprädikat„ verlieh viel Schwung. Die SPD verstand sich seit ihrer Gründung als „Kulturpartei„. Dieser Anspruch blieb auch in der Weimarer Republik ungebrochen. Nicht nur Intellektuelle aus der Führungsgruppe der Partei „lasen„. Mit Stolz wurden allenthalben Arbeiterbibliotheken präsentiert. Die zentrale SPD-Parteibibliothek profitierte während der kurzen Spanne dreizehnjähriger Demokratie enorm von dieser Politik- und Lebenshaltung. Zu Lebzeiten wurden „in Weimar„ erste testamentarische Verfügungen und Willenserklärungen zu Gunsten der Parteibibliothek getroffen. Die testamentarische Verfügung des gelernten Malers, Präsidenten des Preußischen Landtages und SPD-Parteikassierers Friedrich Bartels hat sich auf glückliche Weise erhalten. („Aus der Bibliothek des Unterzeichneten soll das parteigeschichtlich Wertvolle dem Archiv der Sozialdemokratischen Partei, Berlin [...] nach freier Auswahl unentgeltlich überlassen werden.„) [Fn 85: IISG Amsterdam, Bestand SPD Partei-Archiv.] Sie atmet den Geist des neuen Mäzenatentums in der Arbeiterbewegung.

Die Nachlassbibliothek des Hamburgers fiel in der Schlussphase der Weimarer Republik ebenso an die SPD-Parteibibliothek wie die des überraschend verstorbenen letzten sozialdemokratischen Reichskanzlers Hermann Müller. Zu „Ehren der Verstorbenen als eifrige Bücher- und Schriftensammler„ erhielten beide „umfangreiche und wertvolle Sammlungen„ in sich abgeschlossene Standorte. [Fn 86: Jahrbuch der Deutschen Sozialdemokratie für das Jahr 1931, S. 171.]
Mit dieser fast amerikanisch anmutenden Methode beschritt die Archiv- und Bibliotheksleitung Neuland und deutete damit auch gleichzeitig an, wie eng sich mittlerweile das Verhältnis von Funktionsträgern und Parteiarchiv und Parteibibliothek entwickelt hatte.

Wohl der größte wissenschaftliche Zugewinn in der Weimarer Republik lag 1932 im Erwerb der Privatbibliothek Eduard Bernsteins. Nach dem Tod des großen alten Mannes der Sozialdemokratie, der in der Londoner Emigration im eigenen Hause Archiv und Bibliothek Heimstatt geboten hatte, war die Bibliothek in Parteibesitz übergegangen [Fn 87: Die Bibliothek von Karl Marx und Friedrich Engels..., a.a.O., S. 68.]], ohne dass sie ordentlich in den Gesamtbestand integriert werden konnte.

Interpretiert man die diversen Quellen richtig, so lag das reale Wachstum der Parteibibliothek jährlich bei rund 500 bis 800 Titeln. [Fn 88: IISG Amsterdam, Bestand SPD Partei-Archiv. Jahrbuch der Deutschen Sozialdemokratie für das Jahr 1927, S. 212.] Hinrichsens letzte seriöse Zahlenangabe spricht 1928 von 15.326 Werken in 20.919 Bänden. [Fn 89: Hinrichsen, „Das Parteiarchiv„, a.a.O., S. 119.] Rechnet man den großen Zuwachs von Privatbibliotheken am Ende der Weimarer Republik hinzu und berücksichtigt die Tatsache, dass die Bibliothek Zeitschriftenbände nicht einzeln zählte, so konnte die Parteibibliothek zu Beginn des Jahres 1933 mehr als 30.000 Bände mustern. Der sozialdemokratische Bundestagsabgeordnete und Schöpfer der Bundestagsbibliothek, Wilhelm Gülich, schwärmte Jahre später noch von der „Einmaligkeit dieser Einrichtung„ [Fn 90: Gülich, Wilhelm: „Bibliotheken und Archive, sozial- und wirtschaftswissenschaftliche„. In: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. 2, Stuttgart, 1959, S. 204.]], deren Exklusivität entgegen dem „Widerstand

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fast aller damaliger Bibliotheksleiter„ darin begründet war, „Broschürensammlungen - besonders wenn sie von sozialistischen Verfassern stammte - in ihre Sammlungen aufzunehmen„. [Fn 91: Ebda.]

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Erschließung - Nutzung - Öffentlichkeitsarbeit und Vernetzung

Die Diskussion über neue Erschließungsmethoden der SPD-Bibliothek reichte bis in die Vorkriegszeit. Während des Weltkrieges strömte eine Fülle von Materialien in die Bibliothek, die mit der althergebrachten Heimannschen Systematik nicht mehr zu ordnen war. Spätestens die Spaltung der politischen Arbeiterbewegung machte eine neue „Systematik„ notwendig. Hinrichsen und Kampffmeyer arbeiteten an diesem Projekt mehrere Jahre. 1927 war es dann soweit: Der neue dreibändige Katalog umfasste 1020 maschinenschriftliche Seiten. Das zwingend notwendige komplementäre Arbeitsmittel - ein Formalkatalog in Zettelform - war über die ganzen Jahre akribisch gepflegt worden.

Der Katalog war kein Unikat. Er wurde in einer kleinen Auflage gedruckt und vertrieben. Zur Überraschung der Parteibibliothekare selbst forderten große deutsche Bibliotheken den Katalog an und nutzten ihn für Fernleihbestellungen. Diese Wünsche auf das „Herzstück„ der Bibliothek waren kein Zufall. Hatte die Parteibibliothek bis Kriegsende eher eine parteipolitische Binnenrolle gespielt, trat sie nach der Novemberrevolution ins Licht der wissenschaftlichen Forschung. Bislang Fernstehende nahmen von der reich bestückten Bibliothek Notiz, suchten sie auf und begannen, die ehedem „exotischen„ Bestände zu nutzen.

Der Autodidakt Jonny Hinrichsen griff zur Erklärung dieses Phänomens das in der deutschen Sozialdemokratie weitverbreitete Schlagwort vom „Marxismus wider Willen„ auf, „der sich in aller Forschung zeigt„. [Fn 92: Hinrichsen, „Das Parteiarchiv„, a.a.O., S. 120.]

Die Sozialdemokratie war auf vielen staatlichen Gebieten zu Verantwortung gelangt. Sie griff auf alte Ideen zurück und entwickelte neue. Der liberale und demokratische Wissenschaftsbetrieb reagierte seit den frühen zwanziger Jahren auf die radikalen politischen Veränderungen. Eine Fülle von Dissertationen zur Funktion, Struktur und Theorie der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften wurden an den deutschen Hochschulen initiiert. [Fn 93: Siehe Emig, Dieter und Rüdiger Zimmermann: Arbeiterbewegung in Deutschland. Ein Dissertationsverzeich nis. Berlin, 1977.] Natürlich war es nur ein kleiner Kreis „fortschrittlicher„ Hochschullehrer, die diese Arbeiten betreuten und förderten. Bei den behandelten Themen dominierten die konkreten gesellschaftspolitischen Lösungsansätze der Sozialdemokratie in der Alltagspolitik (Sozialversicherung, Wirtschaftsdemokratie, Reparationspolitik etc.).

Von der „Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft„ unterstützt, begannen deutsche Bibliotheken in den zwanziger Jahren sich für ihre Wissenschaftler gegenseitig Bücher auszuleihen. Die SPD-Bibliothek spielte in diesem System eine wichtige Rolle. Vielfach konnten die Verantwortlichen berichten: „Auffallend stark war die Nachfrage nach Literatur von auswärts. Besonders angefordert wurden Werke aus dem Gebiet der Sozialwissenschaften und des Sozialismus (Marxismus). Nicht minder verlangt wurden einzelne Jahrgänge ‚Die Neue Zeit’ und der Parteitagsprotokolle. [...] Die rege Nachfrage nach diesen Materialien findet wohl ihre Erklärung darin, dass die Universitäten sich mehr oder weniger mit dem wissenschaftlichen

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Sozialismus auseinandersetzen, ihre Bibliotheken auf diesem Gebiet versagen vollkommen.„ [Fn 94: Jahrbuch der deutschen Sozialdemokratie für das Jahr 1928, S. 101.]

In der Ausleihe nach außerhalb, die „grundsätzlich gar nicht zulässig sein soll„ [Fn 95: Ebda.] , lag vielleicht die wichtigste Funktion der SPD-Parteibibliothek in der ersten deutschen Republik. Als Literaturspeicher hatte die Bibliothek die „richtigen Bücher„ gesammelt, die man sonst in Deutschland vergeblich suchte. Zu Ende der Weimarer Republik hatten Archiv und Bibliothek den technischen Standard erreicht, um mit Hilfe neuer Reproduktionstechniken spezielle Literaturwünsche zu erfüllen. Die Möglichkeit der preisgünstigen photographischen Reproduktionen stieß das Tor zu gänzlich neuen Benutzungsmöglichkeiten und zu neuen Benutzerschichten weit auf.

Alle Keime waren angelegt, die SPD-Parteibibliothek zu einer großen bedeutenden Spezialbibliothek in der Literaturversorgung des Deutschen Reiches zu machen. Die nationalsozialistische Machtergreifung verhinderte die Entfaltung des gesamten Potentials der Bibliothek.

Wie sah es nun mit der Benutzung vor Ort aus? Wer „las„ in Berlin? Und zu welchem Zweck wurden die Bücher nach auswärts ausgeliehen? Die Jahrbücher der Partei geben darüber hinlänglich Auskunft. Die „harte„ langfristige wissenschaftliche Präsenzbenutzung lag in der Hauptstadt jährlich bei knapp einhundert Personen (1929: 94 Benutzer, 76 männliche, 18 weibliche; 1930: 97 Benutzer, 64 männliche, 23 weibliche). [Fn 96: Jahrbuch der deutschen Sozialdemokratie für das Jahr 1929; S 221, Jahrbuch der deutschen Sozialdemokratie für das Jahr 1930, S. 258.] Diese Zahl scheint nur auf den ersten Blick gering, verbergen sich hinter dieser Statistik doch nur die Berliner „Kunden„.

Stolz listeten die Bibliotheksverantwortlichen Jahr für Jahr die Themen der Arbeiten auf, die mit Hilfe der eigenen Materialien entstanden. Nimmt man verschiedene Hilfsmittel zusammen, so lassen sich einige der Themen gut rekonstruieren. Die konkreten Abschlussarbeiten illustrieren treffend den neuen Wissenschaftstrend der jungen Republik und die Rolle, die die Parteibibliothek in diesem Prozess spielte.

Ganz sicher (oder mit hoher Wahrscheinlichkeit) entstanden folgende Arbeiten mit Hilfe der hochspezialisierten Bibliotheksmaterialien: Arndt, Johanna: Die Stellung der Sozialdemokratie zur Agrarfrage. Diss. Halle, 1930; Fischer, Elfriede: Grundlagen der Interpretation der Politik der deutschen Sozialdemokratie durch die sozialdemokratische Presse. Diss. Heidelberg, 1928; Gartner, Theodor: Sozialdemokratische Partei und Strafrecht. Diss. Freiburg, 1930; Grote, Ernst: Betrachtungen zum sozialdemokratischen Agrarprogramm des Kieler Parteitages. Diss. Berlin, 1930; Hirschberg, Wolfgang: Landwirtschaftskrise und Sozialdemokratie. Analyse und Kritik des Kieler Agrarprogramms von 1927 unter Berücksichtigung der gegenwärtigen Agrarsituation in Deutschland. Diss. Heidelberg, 1930; Lange, Gerhard: Die Stellungsnahme der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands zum Allgemeinen Teil des Strafgesetzentwurfes von 1927. Diss. Heidelberg, 1933; Goldenberg, Boris: Beiträge zur Soziologie der deutschen Vorkriegssozialdemokratie. Diss. Heidelberg, 1932. Mit Scharfsinn und detektivischem Gespür ließe sich die Liste leicht erweitern.

Durch alle Benutzeranfragen ziehen sich - wie ein roter Faden - die Klagen über die Unzulänglichkeiten der deutschen Bibliotheken. („Hierdurch bitte ich höflichst, die Benutzung Ihrer Sammlung gestatten zu wollen. Ich arbeite an einer Dissertation über die Lage des

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Proletariats vor 1848 und benötige dazu Schriften, die in anderen Bibliotheken nicht erhältlich sind.„) [Fn 97: IISG Amsterdam, Bestand SPD Partei-Archiv.]

Einige wenige Hochschullehrer besuchten die Bibliothek selbst. Sogar die ersten Schüler wagten sich für ihre Referate in den eindrucksvollen Bau in der Lindenstraße. [Fn 98: Ebda.] Natürlich griff auch die verbandseigene Gewerkschaftsgeschichtsschreibung, die ansehnliche Werke produzierte, auf das gedruckte Gedächtnis der deutschen Arbeiterbewegung zurück, zumal sich unter den Beständen die Zeugnisse der frühen Gewerkschaftsbewegungen erhalten hatten („Botschafter„, „Concordia„, „Wanderer„). Der Redakteur des „Tabakarbeiters„, Ferdinand Dahms [Fn 99: AdsD Bonn, Bestand PV, Archiv/Bibliothek, Nr. 02277. Die Arbeit von Ferdinand Dahms konnte allerdings erst nach 1945 fertiggestellt werden.] , ließ sich für seine Geschichte der ältesten deutschen Gewerkschaft ebenso von Paul Kampffmeyer sachkundig und kompetent beraten wie der preußische Landtagsabgeordnete Karl Helfenberger für seine „Geschichte der Böttcher, Küfer- und Schäfflerbewegung„.

In den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts holte die Parteibibliothekare jäh die Überlieferungsgeschichte der eigenen Sammlung ein. War man in den achtziger Jahren noch recht sorglos mit den Büchern der beiden „Altmeister„ Karl Marx und Friedrich Engels umgegangen, begannen Wissenschaftler vierzig Jahre später Buch für Buch in die Hand zu nehmen, um Lese- und Gebrauchsspuren herauszufiltern und sie für die Marx-Engels-Gesamtedition nutzbar zu machen. Als mit der Herausgabe der Gesamtausgabe begonnen wurde, stellte sich fast zwangsläufig die Frage nach dem Verbleib der beiden Privatbibliotheken. David Borisovic Rjazanov, Direktor des Moskauer Marx-Engels-Instituts, beauftragte Ende 1924 den Menschewisten Boris Ivanovic Nikolaevskij mit der Durchsicht der SPD-Bibliothek. Nikolaevskij, der trotz seiner antibolschewistischen Grundeinstellung als Berliner Korrespondent des Moskauer Marx-Engels-Instituts fungierte, unterzog sich dieser „Knochenarbeit„ und erstellte ein Verzeichnis, in dem 1.130 Titel in 1.414 Bänden beschrieben wurden. Diese „Nikolaevskij-Liste„ sollte über Jahre hinweg Forschern auf den Spuren von Marx und Engels eine besondere Richtschnur sein. [Fn 100: Sperl, Richard: „Die Marginalien in den Büchern aus den persönlichen Bibliotheken von Marx und Engels. Ihr Stellenwert für biographische und wissenschaftliche Forschungen - Möglichkeiten und Grenzen ihrer Edition„. In: Editio. Internationales Jahrbuch für Editionswissenschaft. 9 (1995), S. 152f.]

Sicher: Auf die wissenschaftliche Nutzung der Bücher waren die Verantwortlichen in der Lindenstraße in Berlin nicht wenig stolz. Die Nutzung der „gelehrten Schatzkammer„ lag ganz in der Intention von Paul Kampffmeyer. Diejenigen, die den Schatz bezahlten, erwarteten allerdings auch reiche „Zinsen„. Die eher zufällig und sporadisch überlieferten Benutzungsanfragen vermitteln eine hinlänglich Impression, wie sich die „Zinsentwicklung„ gestaltete. Vergriffene Broschüren wurden an Mitarbeiter des Parteivorstandes ausgeliehen, die Vorwärts-Redaktion suchte Belege und Zitate, der Herausgeber der „Neuen Zeit„ benötigte Quellen, SPD-Reichstagsabgeordnete liehen aus, der Journalist Felix Fechenbach suchte unermüdlich Material [Fn 101: IISG Amsterdam, Bestand SPD Partei-Archiv.] für seinen publizistischen Kampf gegen den Nationalsozialismus.

Paul Kampffmeyer wollte allerdings mehr. Sein Anspruch von Arbeiterbildung ging weiter. Der Kulturexperte der Partei wollte vergriffene Quellen wieder zugänglich machen und durch „Buchausstellungen„ und Dokumentationen pädagogisch anleitend aufklären. Wenigstens die „goldenen zwanziger Jahre„ gaben ihm die Möglichkeit zu zeigen, welche kulturpolitischen Strategien er intendierte. Als ersten großen Nachdruck in Faksimile legte er das vollständige

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Exemplar der „Neuen Rheinischen Zeitung„ im Verlag J.H.W. Dietz Nachf. auf. Als Original diente ihm das in Berlin befindliche Bibliotheksexemplar. [Fn 102: Jahrbuch der deutschen Sozialdemokratie für das Jahr 1928, S. 181.] Dieses kommerziell gewagte Unternehmen [Fn 103: Die originalgetreue Wiedergabe in zwei Bänden durch das Wincor-Offset-Verfahren wurde über den Verlags buchhandel zum Preis von 130 Mark angeboten. Siehe Gesamtverzeichnis des deutschsprachigen Schrifttums (GV). Bd. 149, München, 1981, S. 14. Dies entsprach dem Monatsgehalt eines ungelernten Arbeiters. ] versprach richtungsweisend zu werden. In seiner Eigenschaft als Verlags-, Archiv- und Bibliotheksverantwortlicher hatte er alle Möglichkeiten, weitere Nachdrucke auf den Weg zu bringen. An Nachfrage mangelte es im deutschen Bibliothekswesen nicht. Jedoch unterband die Weltwirtschaftskrise alle weiteren Überlegungen.

Die weiteren kulturellen Ambitionen Kampffmeyers wurden schlaglichtartig durch seine 1928 im Dietz-Verlag veröffentlichte Jubiläumsschrift „Unter dem Sozialistengesetz„ und die große Zeitungsschau auf der Historischen Ausstellung der SPD im Hause der Arbeiterpresse auf der „Pressa„ in Köln beleuchtet. In beiden Projekten spielte die Bibliothek eine Schlüsselrolle. In der Dokumentation „Unter dem Sozialistengesetz„ wurde der Zusammenbruch der Zwangsmaßnahmen gegen die Sozialdemokratie mit Reproduktionen aus Parteizeitungen und einprägsamen Karikaturen aus der Parteipresse gefeiert. Auf der „Pressa„ präsentierte Kampffmeyer die gesamte Parteigeschichte in Form ihrer zentralen Publikationen. [Fn 104: Führer durch die Historische Ausstellung der SPD im Hause der Arbeiterpresse auf der Pressa zu Köln Mai - Oktober 1928, Köln, 1928.]

Zu Ende der Weimarer Republik war die SPD-Bibliothek mehr als ein „Broschürenlager„ und ein „Zeitungskeller„, in dem exquisite Bestände nur einer handverlesenen Schar von Experten bekannt waren. Die Bibliothek unterstützte die praktische Parteiarbeit, in der Kultur und Bildung einen hohen Stellenwert genossen. Die Bibliotheksbestände wurden von der wissenschaftlichen Öffentlichkeit angenommen und genutzt. Die Marx-Engels-Forschung hatte die Bibliothek quasi als Forschungsstätte wieder entdeckt. Alle Elemente waren vorhanden, die Bibliothek in das deutsche Wissenschaftsnetz zu integrieren. Eine lebendige Öffentlichkeitsarbeit bezog die Schätze aus der „Waffenkammer„ aktiv mit ein. Der Nachdruck von zentralen Parteiquellen vernetzte die Bibliothek mit dem sozialdemokratischen Verlagswesen. Die sozialdemokratische Parteibibliothek hatte ihre große Zukunft noch vor sich.

Die nationalsozialistische Barbarei zerschlug vieles, nur einiges konnte gerettet werden. Auf manche entwickelte Idee konnten Jahre später, in einem demokratischen Deutschland, erfolgreich aufgebaut werden. Das einzigartige Ensemble der Sammlung der Bibliothek ging indes 1933 mit vielen anderen Bibliotheken der Arbeiterbewegung unter. Nicht wenige Funktionäre der Sozialdemokratie konnten sich mit diesem Verlust nicht abfinden. Ihre Idee von einer großen Zentralbibliothek der Arbeiterbewegung blieb lebendig.

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Mut - Rettung - Zerstreuung

Der Machtantritt Hitlers bedrohte die gesamte Arbeiterbewegung: einfache Mitglieder, Funktionäre, Gewerkschaftshäuser, Selbsthilfeorganisationen, Parteieinrichtungen. Natürlich war auch das Parteiarchiv mit seinen wertvollen Materialien und seinen - oftmals respektvoll respektlos genannten - „Reliquien„ gefährdet. Barbarisch-totalitäre Herrschaftssysteme suchen sich in ihrer Unterdrückungspraxis Symbole. Das Parteiarchiv mit den persönlichen

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Papieren und den Büchern der verhassten Sozialisten war ein solches Symbol, an dem sich Allmachtsphantasien entzündeten.

Das Schicksal und die dramatische Rettungsaktion des Marx-Engels-Nachlasses und anderer wertvoller Papiere ist in der Literatur oft beschrieben worden. Existierte bis 1933 das eigentliche Archiv und die Bibliothek im Vorstandsgebäude der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands als wissenschaftliche und dokumentarische Einheit, so konzentrierten sich die Rettungsbemühungen ab Frühjahr 1933 auf das Archiv im engeren Sinne.

Schon aus logistischen Gründen verbot es sich, über die Rettung der Bibliotheksbestände überhaupt nachzudenken. Selbstverständlich gab es auch couragierte Versuche, Buch- und Zeitschriftenbestände zu retten. Der Parteiarchivar und Parteibibliothekar Jonny Hinrichsen spielte bei diesen Versuchen eine herausragende Rolle; seinen Mut und seine Zivilcourage gilt es besonders herauszustreichen. Zum einen packten Vertrauensmänner der Partei beim legalen Abtransport des russisch-menschewistischen Archivs nach Paris auch deutsches Bibliotheksgut bei. [Fn 105: Mayer, „Das Schicksal des sozialdemokratischen Parteiarchivs...„, a.a.O., S. 90 f.] Zum anderen verstaute Jonny Hinrichsen in Kisten Zeitschriften, Zeitungen, Bücher und Broschüren, die er im Frühjahr 1933 versteckte. Erst im August 1935 traf diese Sendung im Internationalen Institut für Sozialgeschichte (IISG) Amsterdam ein. [Fn 106:„Hinrichsens Sachverzeichnis„ ist abgedruckt bei Mayer, ebda., S. 162 f.] Mit dem Verkauf des Parteiarchivs an das IISG Amsterdam [Fn 107: Zum Verkauf des Archivs vgl. die Edition von Marlis Buchholz, Bernd Rother, Der Parteivorstand der SPD im Exil. Protokolle der Sopade 1933-1940. Bonn, 1995, passim (Archiv für Sozialgeschichte, Beiheft 15).] gingen auch die vorab nach Amsterdam geretteten Druckwerke später in den Besitz des niederländischen Instituts über.

Unter den geretteten und nach Amsterdam verbrachten Materialien befanden sich eine Reihe seltener Periodika, die zum ganzen „Gold„ der Parteibibliothek zählten. („Deutsche Arbeiterhalle„, „Deutsche Arbeiter-Zeitung„ von 1848, „Neue Oder-Zeitung„, Breslau etc.) [Fn 108: Die wichtigsten Titel der „Hinrichsen-Liste„ liegen in der Zwischenzeit als Reprints der Forschung vor. Im Februar 2001 kam es zwischen der Leitung des IISG Amsterdam und der Leitung der Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung zu einer Übereinkunft, in Bonn fehlende Titel zu verfilmen. Bei der Sicherheitsverfilmung der Archivalien aus dem „alten„ SPD-Parteiarchiv in den Jahren 1976/77 waren die gedruckten Periodika im Ver filmungsprojekt der Friedrich-Ebert-Stiftung aus finanziellen Gründen nicht berücksichtigt worden. Mündliche Mitteilung von Dr. Horst Heidermann an den Verfasser.] Daneben war in großer Hast auch bibliothekarische „Dutzendware„ beigepackt worden. Die vor dem Zugriff der Nationalsozialisten gesicherten Bibliotheksbestände waren in den kommenden Jahren auf das engste mit der Geschichte des Bibliotheksbestandes des IISG Amsterdam verflochten.

Nach der Besetzung der Niederlande durch deutsche Truppen konfiszierte der „Sonderstab Rosenberg„ die Buchbestände und transportierte sie 1944 auf Schleppkähnen nach Deutschland ab. [Fn 109: Scheltema-Kleefstra, Annie Adama: „Erinnerungen der Bibliothekarin des IISG Amsterdam„. In: Mitteilungs blatt des Instituts zur Geschichte der Arbeiterbewegung Bochum (1979), H. 4, S. 9 f.] Suchaufrufe der deutschen Sozialdemokratie nach Kriegsende zeigten ungeahnte Erfolge: Mitglieder entdeckten die Amsterdamer Bibliothek im Frühjahr 1946 auf der Weser und gaben sie ihrem rechtmäßigen Besitzer zurück. Die wertvollen Materialien aus der alten SPD-Bibliothek waren Bestandteil dieser spektakulären Rettungsaktion, auf die Vorstandsmitglieder der deutschen Sozialdemokratie nicht wenig stolz waren.

Eine weitere Rettungsaktion vor nationalsozialistischem Zugriff, die Paul Mayer beschreibt, und die scheinbar ihr gutes Ende in der Deutschen Bücherei in Leipzig fand, ist in der biblio-

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graphischen Fachliteratur häufig aufgegriffen worden. [Fn 110: Rösch-Sondermann, Hermann: Die Bibliotheken parteinaher Stiftungen, am Beispiel der Bibliotheken der Konrad-Adenauer-Stiftung und der Friedrich-Ebert-Stiftung. Assessorarbeit Köln, 1989, S. 47.] Der Mitarbeiter des Parteivorstandes Alfred Flatau habe Kisten aus dem Vorstandsgebäude an die Deutsche Bücherei geschickt, „in der Hoffnung, Bibliothekare würden schon alles aufheben„. [Fn 111: Mayer, „Das Schicksal des sozialdemokratischen Parteiarchivs...„, a.a.O., S. 92 f.] Die Leiterin der Deutschen Bücherei und stellvertretende Generaldirektorin der Deutschen Bibliothek, Frau Irmgard Spencker, konnte diesen Sachverhalt allerdings nicht bestätigen. [Fn 112: Schriftliche Mitteilung an den Verfasser vom 9. 2. 2001.]

Im Juni 1933 besetzten „Ordnungskräfte„ das Parteivorstandsgebäude der SPD und beschlagnahmten Archiv und Bibliothek. Nahezu die gesamte Bibliothek wurde dem Geheimen Staatsarchiv in Berlin-Dahlem zugewiesen. [Fn 113: Die Bibliotheken von Karl Marx und Friedrich Engels, a.a.O., S. 64 f.] Die reichen einmaligen Bestände weckten sofort Begehrlichkeiten. Vor allem die Generaldirektion der Preußischen Staatsbibliothek suchte sich der SPD-Bibliothek zu bemächtigen. Im Februar 1936 war das Geheime Staatsarchiv gezwungen, 6700 Titel der sozialdemokratischen Sammlung an die Staatsbibliothek abzugeben. Das Schicksal der Staatsbibliothek, die Auslagerung, Zerstörung und Zerstreuung ihrer Bestände, bestimmte künftig auch die Geschichte der zwangsrequirierten „SPD-Bücher„.

Weiterhin konnte sich das dem Auswärtigen Amt nahestehende Institut für Staatsforschung an der Universität Berlin 1940 mit 3.618 Titeln aus dem Geheimen Staatsarchiv „bedienen„. Dem Statistischen Seminar der Universität gelang es, ca. 1.300 Titel aus der SPD-Bibliothek in seinen Besitz zu bringen. [Fn 114: Ebda., S. 65.] In den letzten Kriegsjahren lagerte das Institut für Staatsforschung seine Bibliotheksbestände auf das Gebiet der heutigen Tschechischen Republik aus. Nach Kriegsende gelangten diese Bestände in den Besitz verschiedener Prager Bibliotheken. [Fn 115: Ebda., S. 72.]

Zu Beginn der sechziger Jahre begann das Antiquariat Sauer & Auvermann, Altbestände aus staatlichen Einrichtungen damaliger Comecon-Länder aufzukaufen. Bibliotheken trennten sich (oder mussten sich trennen) von Mehrfachexemplaren und wenig benutzter Literatur, um über den internationalen Antiquariatsmarkt als Devisenbeschaffer zu fungieren. Das Frankfurter Antiquariat Sauer & Auvermann war in der Lage, bei diesen Transaktionen Teile der Bibliothek des Instituts für Staatsforschung zu erwerben. [Fn 116: Hintergründe dieses Buchtransfers konnten leider nicht mehr aufgeklärt werden. Schriftliche Mitteilung des Geschäftsführers Dr. Michael Simon des heutigen Verlages Keip & Auvermann vom 7.2.2001 an den Verfasser.] Unbemerkt wurden damit Segmente der alten SPD-Bibliothek wieder nach Deutschland transferiert. Einige Bücher gelangten in die Friedrich-Ebert-Stiftung. [Fn 117: 1967/68 kauften die Mitarbeiter des Forschungsinstituts der Friedrich-Ebert-Stiftung Helmut Esters und Horst Heidermann in Frankfurt am Main direkt unter Autopsie große Partien des Angebotes von Sauer & Auvermann für das neu geschaffene Archiv der sozialen Demokratie der FES auf. Mündliche Mitteilung von Dr. Horst Heidermann.] Unwissentlich erwarben auch die Bibliothek für Verwaltungswissenschaft in Speyer und die Bibliothek des Deutschen Bundestages sozialdemokratisches Eigentum.

Auf Veranlassung der ehemaligen Präsidentin des Deutschen Bundestages, Annemarie Renger, übergab die Bundestagsbibliothek der Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung 1994 die Bände aus der SPD-Bibliothek als Dauerleihgabe.

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1945 waren Standortwechsel, Beschlagnahme, Verschleppung, Besitzwechsel noch lange nicht beendet. Geradezu gespenstisch spiegeln sich die dramatische Umbrüche der Nachkriegszeit in Berlin im Schicksal der „überlebenden Bücher„. Auf der Suche nach Marx-Engels-Dokumenten in Deutschland beschlagnahmten Spezialtrupps der Roten Armee an Auslagerungsorten der Staatsbibliothek etwa 1000 Bände aus der SPD-Bibliothek und verbrachten diese direkt nach Moskau. [Fn 118: Hecker, Rolf: „Marx/Engels-Dokumente dem IMEL zugeführt. Zur Requirierungsaktion des Moskauer Marx-Engels-Lenin-Instituts 1945/46. Mit zwei Briefen„. In: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung, 39(1997), H. 3, S. 76.]

Im Geheimen Staatsarchiv hatte bis 1945 die geplünderte Rest-Bibliothek der SPD „überlebt„. Auf Ersuchen des Berliner Zentralausschusses der SPD gab die amerikanische Besatzungsmacht ihre Zustimmung, diese Bestände dem „Archiv der SPD„ im Ostsektor zurückzugeben. Am 20. November 1945 wechselten 4000 Bände in den Ostteil der Stadt. Nach der im Ostsektor mit Druck erzwungenen Vereinigung von SPD und KPD bildeten 1949 diese Bücher den Grundstock für die Bibliothek des Marx-Engels-Lenin-Instituts (des späteren Instituts für Marxismus-Leninismus) beim Zentralkomitee der SED. [Fn 119: Die Bibliotheken von Karl Marx und Friedrich Engels, a.a.O., S. 66.]

Nicht genug der Verwerfungen: Die Renaissance der Marx-Engels-Forschung in den fünfziger Jahren brachte viele Bücher aus dem Besitz von Marx und Engels ans Tageslicht. Eine systematisch eingeleitete Suche in der SED-Bibliothek und der Staatsbibliothek in Ost-Berlin endete mit 600 wiederaufgefundenen Titeln aus der alten SPD-Bibliothek. Auf Beschluss des Zentralkomitees der SED gingen diese Titel Exlibris Marx und Engels an das Moskauer Institut für Marxismus-Leninismus. In Berlin verblieben lediglich Kopien. [Fn 120: Ebda., S. 71.]

Die für Bibliotheksfragen verantwortlichen Vorstandsmitglieder der SPD in Hannover und später Bonn beobachteten diese Transaktionen - soweit sie ihnen bekannt wurden - mit großer Verbitterung. Intern hielt der für geraume Zeit zuständige Bibliotheksbeauftragte Fritz Heine viele Details, die er der Presse entnommen hatte, fest, um gegebenenfalls Rechtsansprüche stellen zu können.

In einigen Fällen war der Rechtsanspruch klar und unmissverständlich „verwirkt„. Der Verkauf wertvoller Bücher an das IISG Amsterdam zusammen mit dem Parteiarchiv war der konkreten historisch-politischen Situation im Exil geschuldet, gewollt und rechtlich klar fixiert. In anderen Fällen war die Rechtslage nicht so eindeutig. In der „Westdeutschen Bibliothek„ in Marburg, der späteren West-Berliner Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, lagerten Bücher aus der alten SPD-Bibliothek, über deren rechtmäßigen Eigentümer es sich schon gelohnt hätte, intensiver nachzudenken.

Nur: In den fünfziger Jahre fehlten dem Parteivorstand der SPD Kraft, Kapazität und wohl auch das nötige know how, um Versuche zu starten, diese Ansprüche auch durchzusetzen. Vieles hat sich nach der friedlichen Revolution des Jahres 1989 verändert. Ein Teil der SPD-Bibliothek ist im Zuge der Marx-Engels-Forschung virtuell rekonstruiert. Auf anderen Sektoren hat die deutsche Sozialdemokratie ihren Rechtsanspruch nach der Wiedervereinigung unterstrichen. Als Rechtsnachfolgerin des Instituts für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der SED figuriert heute die Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv. Bei der Gründung dieser vom Deutschen Bundestag ins Leben

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gerufenen Bundesstiftung spielten die SPD-Archivalien und die alte SPD-Bibliothek für die Vergabe eines Kuratoriumssitzes an die Friedrich-Ebert-Stiftung eine wichtige Rolle.

Die Enttäuschung und die Scham, aus einer verzweifelten Notlage heraus 1938 das Parteiarchiv verkaufen zu müssen, hinterließ bei vielen Sozialdemokraten Spuren. Die Wut über die Aufteilung und die Zersplitterung der alten Parteibibliothek wog nicht minder schwer. Es gehörte zur Identitäts- und Selbstfindung der Nachkriegssozialdemokratie, diese Verluste - so weit es möglich war -, auszugleichen. Einen „Ausgleich„ konnten nur die gedruckten Bestände erbringen. Hier war einiges bei gutem Willen noch zu ersetzen. Ein Neuanfang ließ daher nicht lange auf sich warten.

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„Schicken Sie Ihre Bücher nach hier; wir sind für jede Buchspende dankbar„: Neuanfang in Hannover und Bonn

Unmittelbar nach Kriegsende und der alliierten Erlaubnis, in den Westzonen überregionale Parteiorganisationen aufzubauen, setzten innerhalb der Sozialdemokratischen Partei Deutsch-lands Planungen ein, einen Verbund von Archiv und Bibliothek neu aufzubauen. Traditionell gab man der Einrichtung den Namen „Zentrales Parteiarchiv„, obgleich in erster Linie an die Sammlung von Bibliotheksgut gedacht war. 1949 konnte das Jahrbuch der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands erste Erfolge vermelden: „Seit 1948 ist das eigentliche zentrale Parteiarchiv ebenfalls wieder ins Leben gerufen worden. In ihm werden die sozialistische Literatur der älteren und neuen Zeit, Bücher und Zeitschriften aus anderen Lagern und parteipolitische Dokumente gesammelt.„ [Fn 121: Jahrbuch der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands 1948/1949, S. 105.]

Die Akzentsetzung war eindeutig: Sammelwürdige Registraturen und Nachlässe konnten erst nach und nach ihren Weg in das „Zentrale Parteiarchiv„ finden. Retrospektiv war nur der Erwerb älterer gedruckter Parteidokumente möglich. Ausschließlich der systematische Erwerb von Protokollen, Jahrbüchern, Zeitschriften, Rechenschaftsberichten, Broschürenliteratur und Zeitungen konnte den schmerzlichen Verlust der geistigen „Waffenkammer der Partei„ kompensieren.

Als „Zentrales Parteiarchiv„ gehörte die Einrichtung bis 1951 zum Geschäftsbereich des hautamtlichen Vorstandsmitgliedes Fritz Heine; danach bis 1962 unter der Bezeichnung „Archiv/Bibliothek„ und später unter dem Rubrum „Bibliothek und historisches Archiv„ zum Zuständigkeitsbereich von Willi Eichler. Von 1963 bis zur Überführung der Materialien als Dauerleihgabe an die Friedrich-Ebert-Stiftung zeichnete der Schatzmeister Alfred Nau für den Arbeitsbereich verantwortlich. [Fn 122: Bungert, Mario: „Archiv/Bibliothek„. In: Findbuch AdsD, Abt. II, SPD-Parteivorstand, Bd. IV, S. 1048.]

Als im Juni 1946 sich Friedrich Wilhelm Heyl [Fn 123: Heyl hatte 1930 mit seiner Dissertation „Die Tätigkeit des internationalen Gerichtshofs 1922-1928 unter besonderer Würdigung der deutschen Minderheitenfrage in Polen„ in Würzburg promoviert.] aus Berlin in Hannover in der Odeonstraße beim Parteivorstand um die Stelle eines Parteiarchivars/Parteibibliothekars bewarb, musste ihm Fritz Heine eine Absage erteilen: „Unser Archivar und Leiter des Zentralarchivs ist seit fast 20 Jahren für uns tätig. Er ist gegenwärtig noch in London und wird voraussichtlich in einigen Wochen zurück kommen.„ [Fn 124: AdsD, Bestand PV, Archiv/Bibliothek, Nr. 02277.] Heine hatte als neuen Beauftragten Fritz Salomon im

Illustriertes Zwischenenblatt (Seite 34a/b)

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Sinn, Mitarbeiter im SPD-Parteiarchiv seit 1928. Über die Tschechoslowakei war ihm 1938 die Flucht nach Großbritannien gelungen. Kurze Zeit nach Heines Absage an Heyl verstarb Salomon überraschend in London. [Fn 125: Bungert, Mario: „Das Archiv der sozialen Demokratie: In der Tradition des SPD-Parteiarchivs„. In: Findbuch AdsD, Abt. II, SPD-Parteivorstand, Bd. I, S. III.] Die Stelle des Parteiarchivars/Parteibibliothekars war wieder offen. Ganz in der Tradition der Zeit wählte Heine keinen Akademiker, sondern einen gestandenen „Parteiarbeiter„ aus.

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„Ich weiß, Herr Rothe, daß diese Fragen für Sie wahrscheinlich viel Arbeit bedeuten„: die Ära Rudolf Rothe

Als Nachfolger Salomons berief Heine den gelernten Werkzeugschlosser Rudolf Rothe. Dieser zählte „in Weimar„ zur jüngeren Parteigeneration und hatte in der Schlussphase der Republik in seiner Heimatstadt Leipzig auf erstaunlich vielen Ebenen Verantwortung getragen. Bei den Reichstagswahlen im November 1932 hatte er knapp ein Reichstagsmandat verfehlt. 1934 stellten ihn die Nationalsozialisten wegen angeblicher Mitschuld am Tode eines SA-Mannes nach schwerer Misshandlung unter Hochverratsanklage. Nach Verbüßung der Strafe erfolgte seine Einweisung in das Konzentrationslager Buchenwald. Seine Unterschrift stand unter dem berühmten Buchenwald-Manifest. Der Zwangsverschmelzung mit der KPD erteilte er in Leipzig eine entschiedene Absage. 1946 wurde er auf Druck der russischen Besatzungsmacht aus seinen Parteiämtern entfernt. Im November 1947 glückte ihm die Flucht nach Westdeutschland. Einen Monat später stellte Heine den Leipziger als neuen Archivleiter ein. [Fn 126: AdsD. Bestand PV, Archiv/Bibliothek, Nr. 02281.]

Rothe hatte vor 1933 als Arbeiterbibliothekar Erfahrungen im Leipziger Bibliothekswesen sammeln können. Im Bildungswesen der Partei und der Gewerkschaften hatte er tiefe Wurzeln geschlagen. Er galt als ausgezeichneter Kenner der Geschichte der Arbeiterbewegung und der sozialistischen Literatur. Mit den Vokabeln „leidenschaftlicher Eifer„ haben Freunde seinen Arbeitsstil beim Ausscheiden aus der Arbeit des Parteivorstandes beschrieben. [Fn 127: Ebda.] Keine anderen Worte mögen vielleicht besser auf ihn zutreffen. Die alte Geschichte der SPD in ihren Büchern wieder lebendig zu machen, Parteimitgliedern sachkundig zu helfen, einer jungen Wissenschaftlergeneration auf ihre neugierigen Fragen zu antworten, Rothe widmete sich dieser Aufgabe mit Obsession. Seine finanziellen Mittel waren bescheiden, seine Sammelergebnisse beeindruckend.

Die Büchermassen, die sich zunächst in Hannover und ab 1951 in Bonn ansammelten, zeugen von dieser Leidenschaft. Wie kamen nun diese Bücher an den Sitz des Parteivorstandes? Wie gelang es Rothe in so kurzer Zeit, Lücken zu schließen? Noch vor der Anstellung einer hauptamtlichen Kraft hatten sozialdemokratische Zeitungen ab Sommer 1946 Suchaufrufe gestartet. Im September gingen aus dem Großraum Frankfurt die ersten Materialien nach einem Aufruf im SPD-Mitteilungsblatt Groß-Hessen ein. Als wichtigste Starthilfe erwiesen sich jedoch die Aufrufe in ausländischen Blättern. Dies galt für die in London erscheinenden „Sozialistischen Mitteilungen„ und die „New Yorker Volkszeitung„ gleichermaßen. Vor allem in den USA entwickelten sich die „Bücheraufrufe„ zu einer breiten Solidaritätswelle, mit der in der deutschen Sozialdemokratie niemand in den kühnsten Träumen gerechnet hatte.

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„Seele„ der „Büchersammelaktion„ war in New York der ehemalige Sekretär des Reichsausschusses für sozialistische Bildungsarbeit Alexander Stein. [Fn 128: Siehe Papanek, Hanna: „Alexander Stein (Pseudonym: Viator) 1881-1948. Socialist activist and writer in Russia, Germany, and Exile. Biography and bibliography". In: Internationale Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. IWK. 30 (1994), H. 3, S. 343 f.]

Besonders die Sammlung des in Bremen geborenen New Yorker „Krankenkassenbeamten„ Walter Wenderich [Fn 129: AdsD, Bestand PV, Archiv/Bibliothek, Nr. 02281.] löste in Hannover große Freude aus. Die breite und unerwartete Unterstützung amerikanischer Sozialdemokraten bedeutete der deutschen Sozialdemokratie viel und ließ hoffen, bald die quälende kriegsbedingte Isolation überwinden zu können. Stolz berichtete der Sozialdemokratische Pressedienst im August 1947: „In den USA ist eine Büchersammlung in Gang gekommen, die der SPD zu gute kommen soll. [...] Eine erste Sendung von etwa eintausend Bänden wird in absehbarer Zeit erwartet. Darunter befinden sich eine Sammlung sozialistischer Literatur von dreihundert Bänden, die ein sozialistischer Krankenkassenbeamter in 25 Jahren erworben hat und die dieser Sammler unter der Bedingung zur Verfügung gestellt hat, daß sie geschlossen der Bibliothek des Parteivorstandes der SPD eingegliedert wird.„ [Fn 130: „Bücherspende aus den USA„. In: Sozialdemokratischer Pressedienst, 26. August 1947.] Bezahlt wurden die Transporte durch die New Yorker Arbeiterwohlfahrt. Die ehemalige sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete und Begründerin der Arbeiterwohlfahrt Marie Juchacz half, ohne viel Aufsehen zu machen.

Der Umfang der Privatsammlungen, die - manchmal gegen symbolisches Entgelt - den Parteivorstand erreichten, waren höchst erstaunlich, teilweise repräsentierten die Sammlungen einen unschätzbaren Wert. 1952 bot der fünfundachtzigjährige Schriftsetzer Hermann Jacob eine Sammlung von über tausend Broschüren an. Die gerettete Bibliothek des ehemaligen Redakteurs des „Norddeutschen Volksblattes„, Stadtratmitgliedes in Rüstringen, Redakteurs im Presseamt des Parteivorstandes und Leiters des städtischen Verkehrsamtes Rüstringen enthielt nahezu das gesamte theoretische sozialistische Schrifttum der deutschen Arbeiterbewegung. [Fn 131: Zu Jacobs Kurzbiographie s. Handbuch des Vereins Arbeiterpresse, 4. Folge, 1927, S. 538.] Für 150 DM wechselte seine Sammlung den Besitzer. [Fn 132: AdsD, Bestand PV, Archiv/Bibliothek, Nr. 02277.] Jacobs Bibliothek bildete das Rückgrat für alle kommenden Anfragen zu programmatischen und theoretischen Themenkomplexen.

Im gleichen Jahr wies ein Berliner Parteigenosse („nach dem Umbruch 1945 war ich an dem Inhalt aller Zeitungen interessiert„) auf seine komplette Berliner Nachkriegszeitungssammlung hin, die niemand je in Privatbesitz vermutet hätte. [Fn 133: Ebda.] Die Briefe an Archiv und Bibliothek mit ihren Buchangeboten und ihren Geschenken waren in der Regel stark emotional gefärbt und vom Geist geprägt, die SPD wieder zu einer „geistig starken Partei„ zu machen. Bei Rudolf Rothe fühlten sich die Geber ernst genommen und entsprechend geachtet. Jedem Buchhinweis ging er nach, jeder Spender und jede Spenderin erhielten eine angemessene Antwort.

Neben den Sammlungen eher unbekannter Parteimitglieder wurden dem Parteivorstand auch Buchbestände prominenter und herausragender Persönlichkeiten der Sozialdemokratie angeboten. Beim Erwerb entsprechender Bibliotheken schalteten sich in der Regel Vorstandsmitglieder (meist Fritz Heine, Erich Ollenhauer oder Alfred Nau) unmittelbar ein, um alles in „die richtigen Bahnen zu lenken„. Zu diesen Spezialsammlungen gehörten u.a. die Bibliothek des ehemaligen Reichstagsabgeordneten Alfred Henke und die Bibliothek des ehemaligen

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preußischen Innenministers Carl Severing. Severings Bibliothek wurde zwischen der SPD und der Bundestagsbibliothek aufgeteilt. Sein Schwiegersohn Walter Menzel hatte diese Aufteilung in die Wege geleitet. Menzel, einer der „Verfassungsväter„ der jungen Republik, sorgte dafür, dass das parteipolitische Schrifttum im engeren Sinne für die Sozialdemokratie unmittelbar genutzt werden konnte.

Weitere Lücken im Bestand konnte Rothe durch enge Zusammenarbeit mit befreundeten Institutionen des Auslandes schließen. Die SPD mit ihren Jahrbüchern, Protokollen und Zeitschriften war in der Zwischenzeit für ausländische Einrichtungen ein interessanter Partner geworden, und so hatte Rothe auch „einiges zu bieten„. Vor allem das Arbetarrörelsens Arkiv in Stockholm - nach dem Vorbild des SPD-Parteiarchivs als zweite Parteieinrichtung in Europa gegründet - stellte großzügig ganze Zeitschriftenbände im Tausch zur Verfügung. In Stockholm saßen deutsche Emigranten, bei denen Rothe ein offenes Ohr fand. Ein sehr enges menschliches Verhältnis pflegte Rothe zu Werner Blumenberg, dem Leiter der deutschen Abteilung im IISG Amsterdam. Beide standen sich politisch nahe; ihre Freundschaft mündete in einem breiten Strom Amsterdamer Dubletten in Richtung Rhein. Mit Hilfe der Amsterdamer Doppelexemplare legte Rothe den Grundstock für eine Sammlung zur österreichischen Arbeiterbewegung, die über die kommenden Jahre hinweg kontinuierlich ausgebaut werden konnte.

Entscheidende Hilfestellungen für die junge Bibliothek kam allerdings auch von den Literaturproduzenten innerhalb der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands selbst. Am 13. und 14. Februar 1947 trafen sich in Bielefeld 18 Verleger zur konstituierenden Sitzung der „Gruppe Sozialistischer Verleger„ im kleinen Saal des Bielefelder Rathauses. Anwesend waren auch einige Buchhändler. Äußerer Rahmen der Tagung war die große Bielefelder Buchaustellung vom 7. bis 28. Februar 1947, die nach Krieg und Zerstörung erste wichtige kulturpolitische Impulse für das Buch vermittelte. Die erste große Buchausstellung in der britischen Zone fand mit lebhafter Unterstützung namhafter Repräsentanten der Bielefelder Sozialdemokratie statt. [Fn 134: Severing, Carl: „Über Zeitungen und Zeitschriften„. In: Ausstellung vom 7. bis 28. Februar 1947. Deutsches Buchschaffen. Bielefeld, 1947, unpaginiert.] In Ostwestfalen richtete August Albrecht an die SPD-Verlage einen flammenden Appell, „je zwei Exemplare aller bisher erschienenen Werke für unser Archiv abzugeben„. Der Aufruf verhallte nicht ungehört und zeigte erfreuliche Wirkung. Mit seinem Appell gab der ehemalige Verleger des Arbeiterjugendverlages der neu entstandenen Bibliothek einen kräftigen Anschub. [Fn 135: AdsD, NL Karl Drott, Nr. 14.]

Der Bücherzufluss nach Hannover und später Bonn war reichlich. Auf etwa 80 m² stapelten sich in der „Baracke„ in Bonn bald unübersehbare Büchermassen. Reichten diese Bücher aus? Gab es Chancen, aus der Sammlung eine richtige Bibliothek zu machen?


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | August 2001

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