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TEILDOKUMENT:
[Seite der Druckausg.: 149 (Fortsetzung)]
Hubert Woltering
"Diejenigen Genossen, welche je einmal in die Lage gekommen sind, Studien machen zu können, werden auch häufig die Schwierigkeit empfunden haben, sich die dazu nöthigen Werke und Schriften zu beschaffen. Selbst derjenige, dem größere Bibliotheken zur Benutzung offen standen, wird oft das nicht gefunden haben, was er suchte, weil diese Bibliotheken meist nach ganz anderer Richtung ihre Vervollständigung suchen." [ August Bebel am 20. Februar 1878 im (Leipziger) Vorwärts.] [Seite der Druckausg.: 150] Diese Worte August Bebels vom 20. Februar 1878 im Leipziger "Vorwärts" waren nicht nur Situationsaufnahme, sondern auch Zielbestimmung: die Schaffung einer Parteibibliothek tat Not. Das Sozialistengesetz machte ihre Gründung im Deutschen Reich jedoch unmöglich. Trotzdem wurde auch im Exil dieser Gedanke lebendig gehalten und sogar erweitert: Im "Sozialdemokrat" vom 27. April 1882 plädierte Hermann Schlüter für den Aufbau eines Parteiarchivs parallel zu der von Bebel initiierten Bibliothek; dieser Empfehlung folgte die vom 19. bis 21. August 1882 in Zürich tagende Parteikonferenz und beschloss die Bibliotheks- und Archivgründung. Nach den Wanderjahren von Bibliothek und Archiv (1882-1886 Zürich, 1886-1890 London) folgte nach Aufhebung des Sozialistengesetzes am 1. Oktober 1890 der sachgerechte Aufbau der Bibliothek (Bestandsauf-bau, Katalogisierung der Bestände) durch bibliothekarisch geschultes Personal in Berlin. Die Aufbauarbeit der folgenden vier Jahrzehnte wurde während der Flucht vor nationalsozialistischer Verfolgung, der vernichtenden Kraft des Zweiten Weltkrieges und den Folgen der deutschen Teilung zunichte gemacht. Über die Zeit nach 1945 wird jedoch in anderen Beiträgen dieses Bandes kompetenter und ausdifferenzierter berichtet. Der von mir hier vorgenommene kurze Flug durch die Anfangsjahrzehnte der Bibliothek der SPD soll vor allem aufzeigen, welche bibliothekarischen Entwicklungen eine Vision möglich machte. Ich werde versuchen, von meiner Warte aus Zukunftsperspektiven der Bibliothek aufzuzeigen. Zuvor jedoch ist zu fragen: In welcher Weise entwickelte ich ein Verhältnis zur Bibliothek der FES? Bereits als Studierender (Mitte/Ende der 80er-Jahre) befasste ich mich in Seminararbeiten mit der Geschichte der deutschen und europäischen Arbeiterbewegung. Die zu diesem Zweck unausweichlichen Recherchen für Fernleihen verwiesen mich am häufigsten auf das Bibliothekssigel "Bo 133", gefolgt in gewissem Abstand von "Dü 51". Während meiner Arbeit als Hilfskraft und Angestellter in der Fernleihe der Universitäts- und Landesbibliothek Münster erfuhr ich, dass sich hinter "Bo 133" die Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) in Bonn, hinter "Dü 51" die Bibliothek des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) in Düsseldorf verbarg. Die Abfassung meiner Magisterarbeit zum Thema "Das Parteiverständnis der SPD im Spiegel der wehr- und sicherheitspolitischen Debatte 1928-1930" [ Hubert Woltering: Das Parteiverständnis der SPD im Spiegel der wehr- und sicherheitspolitischen Debatte 1928-1930. (Magisterarbeit) Münster 1995. Ein Exemplar der Arbeit befindet sich im Bestand der Bibliothek der FES (Signatur: C98-899).] baute in noch stärkerem Maße auf die Unterstützung dieser wissenschaftlichen Spezialbibliothek. In besonderem Maße konnten für diese Arbeit mikroverfilmte Zeitungen der Arbeiterpresse der Weimarer Republik aus der Bibliothek in die Arbeit eingebracht werden. Auch für meine laufende Promotion "Die europäische Integration als Faktor sozialdemokratischer und freigewerkschaftlicher Politik 1924/25-1933" ist die Fernleih-Kooperation der Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung von entscheidender Bedeutung. Die Angliederung der Bibliothek des DGB im Jahr 1995 an die Bibliothek der FES, [ Die Bibliothek des DGB besteht als geschlossener Bestand (geschlossene Aufstellung, Beibehaltung des Signatursystems) innerhalb der Bibliothek der FES fort.] die einheitliche bibliothekarische Betreuung und Erschließung von "Bo 133" und "Dü 51", führte zu einer Verbesserung und Ergänzung der Bestände vor Ort und optimierte so die zu effizienter Forschung notwendige Infrastruktur. Die Aufnahme und Einarbeitung weiterer Bestände (z. B. der Bibliotheken diverser DGB-Einzelgewerkschaften, Teilbestände der Deutschen Ange- [Seite der Druckausg.: 151] stelltengewerkschaft (DAG) und einiger Internationaler Berufssekretariate) führte zu einer weiteren Literaturverdichtung vor Ort. Von der Einzigartigkeit der Bestände und der Motivation des Bibliotheksteams konnte ich mich während eines Praktikums in der Bibliothek der FES von Anfang Februar bis Ende April 1998 selbst überzeugen. Während dieser Zeit, die für mich nur durch die Finanzierung im Rahmen des Praktikaprogrammes der Hans-Böckler-Stiftung (HBS) in Düsseldorf möglich wurde, konnte ich zum einen an der Realisation eines Publikationsvorhabens [ Zeitungen und Zeitschriften der deutschen Gewerkschaftsbewegung in der Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung. Veröffentlichungen des Deutschen Gewerkschaftsbundes, seiner Einzelgewerkschaften und ihrer Vorläuferorganisationen. Bonn 1998.] mitwirken, zum anderen die Geschäftsgänge einer großen wissenschaftlichen Spezialbibliothek kennenlernen. Das Praktikum wurde gleichzeitig im Rahmen meines postgradualen Fernstudiums "Bibliothekswissenschaft" an der Humboldt-Universität zu Berlin absolviert. Neben einem allgemeinen ersten Teil, in dem ich Einblicke in die tägliche Arbeit der einzelnen Abteilungen (z. B. Akzession/Katalogisierung, Auskunft) gewinnen konnte, folgte in den zweiten sechs Wochen die Einführung in die Fachreferatsarbeit. Vor allem im letzten Zeitabschnitt machte ich mich mit den zukünftigen Planungen der Bibliothek vertraut. Hierbei bestätigte sich, dass das Selbstverständnis der Bibliothek als "Pionierbibliothek" im Bereich "Neuer Medien" zu Recht besteht. Auch ein Blick in die Geschichte der technischen Entwicklung der Bibliotheksarbeit stützt diese Einschätzung: Die Einführung neuer Technologien und neuer Medien in der Bibliothek der FES
Quelle: Zusammenstellung aufgrund der Jahresberichte der FES 1992-1998 [ Jahresbericht der Friedrich-Ebert-Stiftung. Bonn 1994 (1995), 1995 (1996), 1996 (1997), 1997 (1998), 1998 (1999).] Dies bewog mich letztlich, meine bibliothekswissenschaftliche Abschlussarbeit zum Thema "Neue Medien und neue Technologien in der Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung. Stand, Planungen und weiterführende Möglichkeiten ihres Einsatzes" zu schreiben. [Seite der Druckausg.: 152] Warum diese umfassende Selbstdarstellung meiner Person? Der Umgang mit der Bibliothek der FES in verschiedenen Rollen ermöglicht es mir, aus einem gewissen Abstand den Ist-Zustand zu erfassen und weitere Einsatzmöglichkeiten zu entwickeln. Dies soll und darf nicht als unangemessene Kritik von außen verstanden werden, sondern als ungebundenes, von stiftungsinternen Rücksichtnahmen freies "Brainstorming"; gleichzeitig muss jedoch beachtet werden, dass das bibliothekarisch und wissenschaftlich Sinnvolle und Nützliche im Zeitalter leerer Kassen nicht immer das Machbare werden kann. Ein Ansatzpunkt für die Veränderung und Optimierung des Arbeitens der Bibliothek ist und bleibt der Einsatz der "Neuen Medien" in der Bibliothek der FES, da dieser Bereich für viele kultur- und sozialwissenschaftliche Institutionen das Schaufenster ist, vor dem auch die Finanzverwalter dieser Einrichtungen stehen. Die Aufgeschlossenheit der Entscheidungsträger (in Bibliothek und Stiftungsleitung) für diese Projekte, wie auch die Motivation der Bibliotheks-Crew bei ihrer Umsetzung, sichern den hohen Standard der Bibliotheksdienstleistungen. Unterstützt wird dies durch die gute bibliotheksinterne Kommunikation (u. a. Rundschreiben via E-mail, regelmäßige Versammlungen), die Bildung projektbezogener Arbeitsgruppen mit hoher Eigenverantwortung und den Umstand, in einer "Bibliothek der kurzen Wege und offenen Türen" zu arbeiten. Das Zusammenspiel all dieser Faktoren sichert den optimalen Einsatz der Ressourcen und macht die Bibliothek zu einer dienstleistungsorientierten Einrichtung. Wie könnte der Einsatz neuer Medien und Technologien - über das bereits bestehende Maß hinaus - aussehen? In meiner Abschlußarbeit wies ich - auf der Basis einer Ist-Zustandsanalyse - auf weitergehende Einsatzmöglichkeiten hin. Im Bereich "Digitale Bibliothek" der Bibliothek der FES seien einige wenige Beispiele genannt:
Einige dieser genannten Projekte wurden bereits parallel zur Erstellung meiner Arbeit umgesetzt; sowohl eine elektronische Biographiensammlung [ Rüdiger Zimmermann: Biographisches Lexikon der ÖTV und ihrer Vorläuferorganisationen. Bonn 1998 (Electronic Edition FES Library/ URL: //www.fes.de/fulltext/bibliothek/tit 00205/00205toc.htm). Die gekürzte Fassung erschien 1996 in Buchform.] wie auch eine chronologische Publikation [ Dieter Schuster: Chronologie der deutschen Gewerkschaftsbewegung von den Anfängen bis 1918. Bonn 1999 (Electronic Edition FES Library/URL: http://www.fes.de/fulltext/00148toc.htm).] in elektronischer Form stehen im Netz zur Verfügung bzw. kurz vor der Publikation. Aus der Warte des Forschenden und Bibliothekars ließe sich diese Publikationstätigkeit noch maßgeblich durch zwei Maßnahmen ergänzen bzw. optimieren:
Im besonderen Maße könnte die als Punkt 4 der Beispielauflistung genannte "retro-spektive Digitalisierung" der zwischen 1933 und 1945 verlorenen Bestände ein visionäres Projekt werden. Die Diskussion um die "digitale Restitution" der zur sogenannten "Beutekunst" zählenden Bibliotheksbestände [ Eine Kooperation (z. B. Erstellung einer bibliothekarischen Computerinfrastruktur gegen Digitalisie rung und teilweise Restitution von "Beutekunst") könnte einen Ausweg aus der festgefahrenen Ver handlungssituation bieten. Ausführliche Literaturhinweise zur "Beutekunst"-Thematik (auch mit Be zugnahme auf Bibliotheksbestände) sind unter der URL http://www.ib.hu-berlin.de/ ~ pbruhn/b-kunst.htm ("Beutekunst". Internationale Bibliographie des neueren Schrifttums über das Schicksal des im Zweiten Weltkrieg von der Roten Armee in Deutschland erbeuteten Kulturgutes (Museums-, Archiv- und Bib liotheksbestände)) zusammengestellt.] wie auch die "digitale Konservierung" im Falle der Auflösung gewachsener Bibliotheksbestände [ Zu nennen ist hier die Diskussion um den Verkauf der Fürstlich Fürstenbergischen Hofbibliothek in Donaueschingen (Baden-Württemberg). Von Klaus Graf wurden zahlreiche Hintergrundinformationen zum Geschehen unter der URL http://www.uni-koblenz.de/ ~ graf/index.html#kulturgut zusammen ge stellt; in einem Leserbrief an die FAZ vom 4. August 1999 erklärte Graf: "Kommt die Forderung nach der Bewahrung des Gesamtbestands auch zu spät, so könnte durch entschiedenes Handeln der für die Forschung eingetretene Verlust noch abgemildert werden. Erstens: Es ist eine virtuelle Rekonstruk tion der Hofbibliothek als Gesamtheit in Form einer Datenbank (Donaueschingen digital) anzustreben, in der die bereits vorliegenden und die noch im Antiquariatshandel erreichbaren Informationen zu den indivi duellen Eigenheiten der ehemals Donaueschinger Bücher zusammenzutragen wären. Zweitens: Durch koordinierte gemeinsame finanzielle Anstrengung des Landes Baden-Württemberg, der wissen schaftli chen Bibliotheken im Oberrhein- und Bodenseeraum sowie weiterer öffentlicher Institutionen muss so viel wie möglich des erhaltenswerten Altbestands, insbesondere natürlich der Lassbergschen Bibliothek, angekauft werden. Bei diesen Ankäufen sollte es, anders als bei den Erwerbungen anlässlich des bekla genswerten Inkunabelverkaufs von 1994 (FAZ vom 28. Juni 1994), der unter anderem die er haltenen Reste der Klosterbibliothek der Villinger Franziskaner (90 Bände) in alle Winde zerstreute, nicht primär um das Füllen von Lücken in den Landesbibliotheken gehen, sondern um die Bewahrung der gewachse nen Büchersammlungen (Provenienzen), die den besonderen Wert dieses einzigartigen Gesamtkunst werks ausmachten."] wurde in den letzten Monaten [Seite der Druckausg.: 154] des öfteren in bibliothekarischen Mailinglisten und konventionellen Foren erörtert. Nach der Ermittlung der fehlenden Bestände könnte die "digitale Rekonstruktion" der Bibliothek des SPD-Parteivorstandes des Jahres 1927 ein solches Projekt für die Bibliothek der FES bilden; um der gegenwartsbezogenen Aufgaben der Bibliothek willen (Literaturversorgung und digitaler Verleger der FES) könnte ein solch bibliothekshistorisches Projekt jedoch nur langfristig realisiert werden. Die "digitale Vervollständigung" der Bestände der Bibliothek könnte jedoch eine Vision für die zukünftige Arbeit der Bibliothek sein und - in der zu erwartenden Einzigartigkeit fehlender Bestände - als beispielhaft für weitere Digitalisierungsvorhaben gelten.
© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Dezember 1999 |