FES HOME MAIL SEARCH HELP NEW
[DIGITALE BIBLIOTHEK DER FES]
TITELINFO / UEBERSICHT



TEILDOKUMENT:



[Seite der Druckausg.: 86]

Erika Bitter
Ein Vierteljahrhundert Erwerbung von Grauer Literatur aus Westeuropa in der Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung


Ende der siebziger Jahre vergab die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) das Projekt Erwerbung von Grauer Literatur an die Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung.

Ausschlaggebend für die Übertragung des Erwerbs von Publikationen von Parteien und Gewerkschaften, die nicht über den Buchhandel vertrieben wurden, waren einmal das Profil der Bibliothek mit seinem Sammelschwerpunkt Deutsche und Internationale Arbeiterbewegung, politische Geschichte, Geschichte der Parteien und Sozialgeschichte, zum anderen das Netz der Stiftungsbüros im westlichen Ausland wie z. B. in Rom, Madrid, Lissabon, deren Verbindungen die Suche nach Publikationen erleichtern sollten.

Die DFG förderte das Projekt mit der Stelle eines wissenschaftlichen Mitarbeiters, die später etatisiert wurde, sowie mit einem Erwerbungs- und einem Reiseetat.
Die Anfangsförderung war auf sechs Jahre begrenzt; der Erwerbungs- und Reiseetat muss alle zwei Jahre detailliert beantragt werden.

Da die Publikationen der Parteien nur selten in Bibliographien angezeigt werden, wurden zunächst die Zentralorgane und Mitgliederzeitschriften abonniert, um über das Erscheinen von Publikationen, über Parteitage, Gewerkschaftskongresse und Wahltermine informiert zu werden. Diese Praxis wird bis heute beibehalten.

Berücksichtigt wird in allen Ländern Westeuropas das ganze Spektrum der in den jeweiligen nationalen Parlamenten vertretenen Parteien, die Gewerkschaftsdachverbände und große Einzelgewerkschaften, wie z. B. die Lehrergewerkschaft FEN (Fédération de l'Éducation Nationale) in Frankreich oder die Gewerkschaft der Metallarbeiter FIOM (Federazione Impiegati Operai Metallurgici) in Italien. Eine kurze Zeit wurde aus Gründen von Personalmangel an Diplombibliothekaren in der Titelaufnahme der Bibliothek nur das linke Parteienspektrum gesammelt; aber diese Entscheidung ist glücklicherweise zurückgenommen worden, denn sie führte dazu, dass z. B. die stärkste Partei Portugals, die liberale Partei (PDS - Partido Social-Democrata), nicht gesammelt wurde. Nicht berücksichtigt werden links- und rechtsradikale Parteien.

Selbstverständlich wurde im Referat Westeuropa die über den Buchhandel vertriebene Literatur zum Sammelschwerpunkt erworben. Graue Literatur d. h. die Quellen und die dazugehörige Sekundärliteratur ergänzen einander und verleihen der Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung ihren hohen Stellenwert in der historischen Forschung.

Was die Graue Literatur anbelangt, so musste die Beschaffung über Anzeigen in den Zentralorganen und Mitgliederzeitschriften lückenhaft bleiben, so dass Erwerbungsreisen notwendig wurden.

1981 wurde das große Westeuropareferat entlang der Sprachgrenze geteilt. Ein Kollege übernahm die Länder Großbritannien, Niederlande, USA, Kanada; ich behielt als Romanistin die Länder romanischer Sprache. Nachdem für den Gesamtraum schon einige

[Seite der Druckausg.: 87]

Erwerbungsreisen gemacht worden waren, konnte ich nach der Teilung auch meinerseits mit den Beschaffungsreisen beginnen.

In der Beschreibung dieser Erwerbungsreisen spreche ich zwar für ganz Westeuropa, beziehe die Paradigmen jedoch aus dem Referat Westeuropa/Romanische Länder (Bel-gien, Frankreich, Italien, Luxemburg, Portugal und Spanien).

Die erste Reise ging nach Paris, wo es zu diesem Zeitpunkt noch kein Stiftungsbüro gab.
Ausgestattet mit einem Dutzend Adressen wurde versucht Kontakte zu knüpfen, um Programme, Statuten und Publikationen zu aktuellen politischen Themen zu erhalten. Im Laufe der Jahre ist das Projekt unter Einbezug der wissenschaftlichen Institute der Parteien und Gewerkschaften, wie in Belgien das Institut Emile Vandervelde (francophon), das Emile Vandervelde Instituut (flämisch) und AMSAB (Archief en Museum van de Socialistische Arbeidersbeweging, Gent), in Frankreich OURS (Office de Recherche Socialiste), IRES (Institut de Recherches Economiques et Sociales) und ISERES (Institut Syndical d'Etudes et de Recherches Economiques et Sociales) oder der partei- oder gewerkschaftsnahen Stiftungen wie in Italien die Nenni- und die Gramsci-Stiftung, in Portugal die Soares-Stiftung und in Spanien die Stiftungen Pablo Iglesias und Largo Caballero, stark angewachsen.

Sowohl die Institute wie auch die Stiftungen geben gewichtige, z. T. hervorragend ausgestattete Publikationen zur Geschichte der Parteien und Gewerkschaften heraus.

Inzwischen ist die Zahl der Reisen nach Paris, wo es seit einigen Jahren ein Büro der FES im Regierungsviertel gibt, das die Arbeit vor Ort sehr erleichtert, auf 10 (1998) angewachsen, dazu 8-mal Brüssel, 6-mal Rom, je 5-mal Portugal und Spanien in den Jahren 1981-1999.

In den einzelnen Ländern besuche ich die Partei- und Gewerkschaftszentralen und die zugehörigen Forschungsinstitute und Stiftungen. Zuständig sind jeweils die Abteilungen Information, Dokumentation, Bibliothek oder auch manchmal eine Buchhandlung. Ich erbitte oder kaufe die neuesten Parteitagsprotokolle, Programme, Statuten und Publikationen zu aktuellen Problemen. Zuweilen werde ich auf ein neues Periodikum aufmerksam gemacht, das abonniert werden kann. Leider wechselt das Personal gerade in diesen Abteilungen sehr häufig, so dass man auf den Reisen immer wieder neu ansetzen muss. In der Zeit zwischen den Reisen geht schon mal der eine oder andere Kontakt verloren.
Bei den Besuchen kann es sich um kurze Aufenthalte mit schneller Übergabe der Materialien handeln, aber es können sich auch längere, intensive Gespräche ergeben. Hin und wieder wird man auch auf neue Institutionen aufmerksam gemacht und der Kontakt dort-hin wird hergestellt.
Ich versuche mich ein wenig zu revanchieren, indem ich über das Neueste aus der Bibliothek berichte und auch, wenn vorhanden, die aktuellen Publikationen der Bibliothek überreiche.

Der Terminplan der meist eine Wochen dauernden Beschaffungsreisen ist dicht gedrängt. Ärgernisse, wie Verzögerung bei der Ausgabe des Fluggepäcks (Portugal), große Verspätung bei Zügen (Frankreich), Streik der Verkehrsbetriebe (Italien) oder Handtaschendiebstahl (Spanien), müssen verdrängt werden, weil der Zeitplan eingehalten werden muss.

[Seite der Druckausg.: 88]

Zentral gelegen sind die Institutionen in Frankreich mit Paris, in Italien mit Rom, in Portugal mit Lissabon und in Luxemburg.
In Belgien berücksichtige ich neben Brüssel auch Gent für den flandrischen Teil des Landes, weil sich dort der liberale Gewerkschaftsverband CGSLB (Centrale Générale des Syndicats Libéraux de Belgique) und AMSAB (Archief en Museum van de Socialistische Arbeidersbeweging) befinden.
In Spanien wird in einer Woche Madrid besucht; in der zweiten Woche wird ein wenig dem katalonischen Nationalismus Rechnung getragen, und in Barcelona werden die entsprechenden Parteien, Gewerkschaften und Forschungsinstitute besucht.

Für die Terminplanung werden möglichst Parlamentswahlen berücksichtigt, weil dann besonders viele programmatische Schriften auf dem Markt sind. Wenn es nicht möglich war zu bestimmten Wahlterminen zu reisen, wurden die entsprechenden Stiftungsbüros eingeschaltet, wie z. B. kürzlich zu den Parlamentswahlen in Portugal (Büro Lissabon) am 10.10.1999 oder den Regionalwahlen in Katalonien (Büro Madrid) am 18.10.1999.

Bei den Terminabsprachen mit den einzelnen Institutionen sind die Stiftungsbüros in Brüssel, Paris, Rom, Lissabon und Madrid behilflich und ebenso beim Transport der Materialien nach Bonn. In den einzelnen Ländern habe ich von dem ausgezeichneten Ruf, den die Friedrich-Ebert-Stiftung im Ausland genießt, profitiert.
Die Leiter der Büros informieren über die aktuelle politische Lage und stehen, wie z. B. der langjährige Leiter des Stiftungsbüros in Madrid, Dieter Koniecki, aus seiner großen Erfahrung heraus, mit Rat und Tat zur Seite.

Auf den vielen Reisen bekam ich einen sehr lebendigen Eindruck von den Parteien und Gewerkschaften und deren Forschungsinstituten; auch von dem Wachsen und Vergehen von Parteien wie z. B. 1999 in Belgien bei Agalev (Anders gaan leven), den flandrischen Grünen, die nach den letzten Parlamentswahlen in der Regierung sitzen und entsprechend selbstbewusst sind, oder bei dem Gegenbeispiel in Italien (1998), dem PSI (Partito Socialista Italiano), der traditionsreichen sozialistischen Partei, von der kaum noch Spuren auszumachen sind und an deren Stelle die einstige kommunistische Partei PDS (Partito democratico della Sinistra) getreten ist.

Die Materialien Graue Literatur sind in der zeitgeschichtlichen Forschung sehr gesucht, wie eine kürzlich zum PCI (Partito Comunista Italiano) verfasste Magisterarbeit beweist: "Besonders hilfreich für die Nachforschungen erwies sich die Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn. Dort befindet sich nicht nur umfangreiche Literatur zu den sozialistischen und kommunistischen Schwesterparteien der SPD, sondern auch zahlreiche originalsprachliche Werke zur vergleichenden Parteiengeschichte und zur Landeskunde. Die dort vorhandene Literatur über den PCI umfasst nicht nur sekundärliterarische Monographien, sondern es sind auch Quellen, sowie sämtliche kommunistischen Periodika, wie die Tageszeitung L'Unità und die Wochenzeitschrift Rinascita, einsehbar." [ Karsten Lux: Wandel in der Einstellung des Partito Comunista Italiano in Bezug auf das System des abrogativen Referendums. Bonn 1999, S. 7.]

Besonders der Quellencharakter der Grauen Literatur ist hervorzuheben.

[Seite der Druckausg.: 89]

Bei vielen Institutionen sind die Publikationen kurz auf dem Markt und dann mangels geeigneter Infrastruktur (Archiv, Bibliothek, Dokumentation) unwiederbringlich verloren. Umso notwendiger ist es, dass die Graue Literatur Westeuropas in der Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung kontinuierlich gesammelt und erschlossen wird, trotz aller damit verbundenen Schwierigkeiten. Es ist das Verdienst der DFG, dass diese Kontinuität über lange Jahre gewährleistet war. Politische Prozesse, wie z. B. die Demokratisierung in Spanien und Portugal lassen sich heute ohne das Material der Grauen Literatur kaum noch nachvollziehen.

Die Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung veröffentlichte jahrelang eine jährlich erscheinende Zugangsliste zur Grauen Literatur, die heute u. a. aus Kostengründen nur im Internet erscheint.
Aus den programmatischen Schriften ging 1990 eine 3-bändige Publikation der Bibliothek hervor: Programme und Statuten sozialdemokratischer und sozialistischer Parteien Westeuropas. Sie war gedacht als programmatische Anregung für die sich neu konstituierenden Parteien Osteuropas nach der Wende.
Die Publikation ist inzwischen vergriffen. Sie findet ihre Fortsetzung in einer Edition der Programme von sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien und Gewerkschaftsdachverbänden, soweit sie erreichbar waren; sie ist ein Auftrag der IALHI (International Association of Labour History Institutions) und erscheint im Internet.
Diese Publikation kann die überall stattfindende programmatische Diskussion der Parteien anregen und entscheidend beeinflussen.

Der für die Wissenschaft unschätzbare Wert der Quellen Graue Literatur lässt hoffen, dass die DFG das Projekt auch in Zukunft großzügig fördert und kritisch begleitet.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Dezember 1999

Previous Page TOC Next Page