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TITEL/INHALT

Chronologie der deutschen Gewerkschaftsbewegung von den Anfängen bis 1918 / Von Dieter Schuster. Mit einem Vorw. von Rüdiger Zimmermann und Registern von Hubert Woltering. - Bonn : Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung, 1999

Stichtag:
2. Januar 1915

In seinem Rückblick auf das Jahr 1914 schreibt das "Correspondenzblatt":
"Kein Mensch weiß, ob wir jetzt im Mittelpunkt stehen, ob wir uns dem Ende des Krieges nähren oder noch in den Anfängen längerer Kriegsjahre stecken. Nur eins wissen wir, daß wir durchhalten müssen und durchhalten werden, daß unser Vaterland durch keine Überzahl von Feinden, durch keine Überlegenheit der Waffen und durch keine Aushungerung unterzukriegen ist. Dieses Selbstvertrauen stützt sich nicht allein auf die Stärke unserer Heeresmacht, auf ihre gute Organisation, Ausbildung und Disziplin, sondern vor allem auf die Vaterlandsliebe, in der alle Deutschen ohne Ausnahme einig sind und bereit, für dessen Verteidigung jedes Opfer zu bringen. Mag der Krieg noch Monate oder Jahre dauern, er wird das Volk eher fester zusammenschweißen und seine Kräfte ins Ungeahnte wachsen lassen. Die Hoffnung, daß Deutschland in diesem Ringen schließlich doch noch unterliegen wird, mögen die Feinde getrost aufgeben - eher würden sie selbst verbluten und in den Staub sinken. Deutschland ist es, das am kräftigsten aus diesem Weltkrieg hervorgehen wird!...
Die Gewerkschaften waren die ersten, die sich der Aufgabe zur Verfügung stellten, das schwer erschütterte Wirtschaftsleben neuzugestalten und die Not der heimischen Bevölkerung zu lindern...
Die Gewerkschaften haben sich den Anforderungen der Zeitereignisse durchaus gewachsen gezeigt. Sie haben die Arbeitsvermittelung für Erntearbeiten und Befestigungsarbeiten schaffen helfen, - sie haben den Kriegerfamilien die erste Hilfe gespendet, bis der gemeindliche und staatliche Apparat sicher wirkte, - sie waren unermüdlich in der Durchsetzung öffentlicher Maßnahmen, den Verkehr von seinen militärischen Schranken zu befreien, Arbeitsgelegenheit zu schaffen und die Produktion zu heben. Sie haben für Notstandsarbeiten gesorgt, sind dem Lebensmittelwucher unverzüglich entgegengetreten und haben den Erlaß von amtlichen Preisfestsetzungen herbeigeführt. Ihre Großtat aber ist die nachhaltige Unterstützung der Arbeitslosen und ihr energisches Wirken für gemeindliche und staatliche Arbeitslosenunterstützung, das heute wohl allenthalben, wenn auch hier und da noch zögernd, anerkannt wird...
So sind die deutschen Gewerkschaften, weit davon entfernt, durch den Krieg an die Wand gedrückt und zermalmt zu werden, als ein überaus tätiges Glied mitten in die Kriegsereignisse hineingestellt worden und sie haben sich dank ihrer gesunden Organisation derart bewährt, daß heute kein Zweifel darüber besteht, daß sie den Krieg auch überdauern und nach Beendigung desselben sich noch kräftiger und wirkungsvoller entwickeln werden...
Der Feind sollte kein durch inneren Streit zerrissenes Deutschland vor sich sehen, sondern ein einig Volk von Brüdern, das sich in der Stunde der Not und Gefahr nicht trennt noch zerfleischt. An die Stelle der Streiks und Aussperrungen trat der wirtschaftliche Burgfrieden, dem der politische im Kampfbereich der Parteien auf dem Fuße folgte. Es muß anerkannt werden, daß die führenden Kreise der Unternehmerorganisationen von der gleichen Auffassung durchdrungen waren und auch demgemäß handelten. Sie willigten ein, während des Krieges an den geltenden Vereinbarungen und Tarifen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern nicht rütteln zu lassen und die durch die Kriegsnot geschaffene Ungunst der Wirtschaftslage nicht zum Nachteil der Arbeiter auszunutzen, sondern diese Nachteile möglichst zu verringern. Auf dieser Basis gemeinsamer Achtung des Gemeinwohls war auch eine weitergehende Verständigung über gemeinnützige Förderung beruflicher Interessen, wie die Errichtung von Arbeitsgemeinschaften zur Beschaffung von Aufträgen für Arbeitgeber und Arbeit für Arbeiter, keine Unmöglichkeit mehr...
Staatliche Zwangsmaßnahmen, die vor wenigen Monaten noch völlig indiskutabel erschienen wären, werden heute nicht nur willig übernommen und ertragen, sondern von der Oeffentlichkeit einer zögernden Regierung immer dringender nahegelegt. Das private Interesse erscheint schon fast wie eine Versündigung am Gesamtinteresse und selbst das Privateigentum bildet heute nicht mehr ein so starkes Hindernis für soziale Maßnahmen wie ehedem. Vieles davon mag sich nach dem Kriege verflüchtigen, aber einen Niederschlag wird diese Zeit im deutschen Volksleben zurücklassen, nicht bloß in der Erinnerung an die gemeinsame Gefahr sondern auch in der Erkenntnis der Nützlichkeit der Sozialpolitik für das Gemeinwohl...
Daß das Unternehmertum die Gewerkschaften auch künftig mit nicht allzu freundlichen Gefühlen betrachten wird, erscheint schließlich verständlich, denn die wirtschaftlichen Interessengegensätze sind vorhanden und nicht dauernd zurückzuhalten. Es wird also auch künftig wohl nicht ganz ohne Streiks und Aussperrungen abgehen, aber sollte künftig die Verständigung leichter möglich und die gegenseitige Anerkennung und tarifliche Regelung der Arbeitsverhältnisse häufiger werden, so würden wir uns dessen freuen. Anders betrachten wir die Stellung der Regierung zur Gewerkschaftsfrage,...
Nicht minder liegt in der Verheißung, daß es nach dem Kriege nur mehr Deutsche geben dürfe, die Anerkennung des Anspruches auf völlige Gleichberechtigung auf politischem wie rechtlichem Gebiete, und wir dürfen wohl erwarten, daß man auch in den verantwortlichen Kreisen der Regierung während des Krieges mit seinen ungeheuren Opfern an Gut und Blut einsehen gelernt hat, daß dieser Anspruch ohne Aufschub erfüllt werden muß...
Mögen die Ströme von Blut, die dieser Krieg zum Fließen brachte, dazu beitragen, einen baldigen, ehrenvollen und dauernden Frieden zu gewährleisten und künftige Kriege dieser Art zwischen Kulturvölkern überhaupt unmöglich zu machen. Die Erkenntnis, daß die Austragung von Völkerzwist durch gewaltsame Vernichtung von Menschenleben, von Kulturgütern und kulturellen Verkehrsbeziehungen der Menschheit weder würdig noch nützlich sei, muß sich aus diesen Massenopfern erheben und Allgemeingut aller Nationen werden. Wir wagen kaum zu hoffen, daß dieser Krieg der letzte sein werde, aber für das Ziel, den Krieg zu beseitigen, werden wir unermüdlich und mit Einsetzung aller unserer Kräfte wirken."



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