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TITEL/INHALT

Chronologie der deutschen Gewerkschaftsbewegung von den Anfängen bis 1918 / Von Dieter Schuster. Mit einem Vorw. von Rüdiger Zimmermann und Registern von Hubert Woltering. - Bonn : Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung, 1999

Stichtag:
22./27. Juni 1914

Auf dem 9. Kongreß der Gewerkschaften in München geht C. Legien ausführlich darauf ein, daß der Berliner Polizeipräsident die Gewerkschaften zu "politischen" Vereinen erklärt hat. Zweck dieser Aktion sei es, daß beim geltenden Vereinsrecht jugendliche Werktätige nicht mehr der Gewerkschaft beitreten könnten. Die Gewerkschaften würden aber eine andere Organisationsform für die Jugendlichen zu finden wissen. Die Handhabung des Reichsvereinsgesetzes von 1908 wird als schikanös-arbeiterfeindlich und illoyal gekennzeichnet; das Gesetz selbst würde die Anforderungen an ein freies Vereins- und Versammlungsrecht nicht erfüllen. Nur durch eine Änderung kann ein freies und gleiches Recht für alle geschaffen werden.
Ein weiterer Auf- und Ausbau der sozialpolitischen Gesetzgebung sei dringend erforderlich.
In der Frage der Arbeitslosenversicherung hätten das Reich und die Einzelstaaten restlos versagt. Alle Organisationen der Arbeiter und Angestellten werden aufgefordert, in den Mittelpunkt ihrer Agitation die Forderung der öffentlichen Organisation der Arbeitslosenversicherung zu stellen und ihren ganzen Einfluß im öffentlichen Leben für sie einzusetzen.
Heimarbeiterschutz und Versicherung müssen fortentwickelt werden, die Heimarbeiter und -arbeiterinnen sich in Gewerkschaften zusammenschließen.
Der Kongreß weist ein Eingreifen in das Koalitionsrecht mit Entrüstung zurück und fordert dagegen dessen Ausdehnung auf alle Arbeiter ohne Rücksicht auf die Art ihres Beschäftigungs- oder Dienstverhältnisses, Aufheben des § 153 der Gewerbeordnung und Bestrafung aller, die Arbeitnehmer an der Ausübung des Koalitionsrechts hindern.
Zur gesetzlichen Regelung der Tarifverträge erklärt der Kongreß: "Die Abneigung der Unternehmer gegen die Gewerkschaften und gegen die von ihnen erkämpften Tarifverträge bildet eine weit größere Gefahr für die Verträge als die rechtliche Unsicherheit und der mangelnde gesetzliche Schutz derselben.... Die Gewerkschaften fordern nicht schon jetzt eine gesetzliche Regelung der Tarifverträge, weil der Boden hierfür noch lange nicht als genügend geebnet betrachtet werden kann. Die Gewerkschaften fordern vielmehr, um der gedeihlichen Entwicklung der Tarifverträge zu dienen, völlige Freiheit für ihre auf Anerkennung der Gleichberechtigung der Arbeiter gerichtete Bewegung."
Entscheidend für diese Haltung ist die Befürchtung der Gewerkschaften, bei einer gesetzlichen Regelung zivilrechtlich in Anspruch genommen zu werden.
Nachdem die Teilnahme von führenden Gewerkschaftern an den Tagungen der Gesellschaft für soziale Reform kritisiert wird, erklärt Robert Schmidt: "Wollen wir auf dem Gebiet der Sozialpolitik etwas erringen, so bedürfen wir auch der Unterstützung andersgesinnter Kreise und haben allen Anlaß, diese Kreise nicht abzustoßen, sondern soweit möglich unsere Stellungnahme dort zur Geltung zu bringen" , und C. Legien teilt mit, daß Robert Schmidt und Th. Leipart persönlich Mitglieder der "Gesellschaft für soziale Reform" geworden wären, da ein Beitritt der Generalkommission noch nicht opportun sei.
Der Kongreß beschließt ein neues "Regulativ für das Zusammenwirken der Gewerkschaften Deutschlands". Danach macht die Vertretung der gemeinsamen Interessen der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter und Angestellten Deutschlands ein ständiges Zusammenwirken der gewerkschaftlichen Centralverbände erforderlich.
Dieses Zusammenwirken soll sich insbesondere erstrecken auf:
- Die Förderung der gewerkschaftlichen Agitation, besonders in rückständigen Berufen und Bezirken;
- die Aufnahme allgemeiner gewerkschaftlicher Statistiken;
- die Herausgabe geeigneter Publikations- und Propagandaorgane und Agitationsschriften;
- die Wahrung des Rechtsschutzes; Wahrung und Förderung des Arbeitsschutzes;
- die Förderung der sozialpolitischen Arbeitervertreterwahlen;
- die Sammlung und Verwertung sozialpolitischer Materialien in gewerkschaftlichen Interessen;
- die Veranstaltung gewerkschaftlicher Unterrichtskurse;
- die Abgrenzung der Organisations- und Agitationsgebiete der Gewerkschaften und die Entscheidung über Grenzstreitigkeiten gemäß den Beschlüssen der Gewerkschaftskongresse;
- die gegenseitige Unterstützung der Gewerkschaften in der Durchführung außerordentlicher Kämpfe.
Zur Wahrung dieser Aufgaben werden folgende Organe bestimmt:
a) Die Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands,
b) die Konferenzen der Vertreter der Verbandsvorstände,
c) die Kongresse der Gewerkschaften Deutschlands.
Die Aufgaben der Generalkommission sind u.a.: Die gewerkschaftliche Agitation, namentlich in denjenigen Gegenden, Industrien und Berufen, deren Arbeiter nicht oder nicht genügend organisiert sind, zu fördern und den Zusammenschluß kleinerer existenzunfähiger Verbände und Lokalorganisationen zu leistungsfähigen Centralverbänden anzustreben.
Das Sammeln aller Materialien zur Sozialgesetzgebung, die Agitation unter den Arbeitnehmerinnen zu fördern, die Veranstaltung gewerkschaftlicher Unterrichtskurse und von Kursen für Arbeitersekretäre.
Die Streikunterstützung aus allgemeinen Mitteln soll nach wie vor auf außergewöhnliche Notfälle, in denen die eigene Kraft der beteiligten Organisation versagt, beschränkt bleiben. Über die Notwendigkeit solcher Hilfsaktionen entscheiden Generalkommission und Vorstände. Die Unterstützung soll in der Regel von allen angeschlossenen Verbänden durch Beitrag nach Maßgabe ihrer Mitgliederzahl aufgebracht werden; doch kann die Generalkommission in besonderen Fällen mit Zustimmung der Vorstände auch Sammlungen vornehmen lassen. Die Gewährung solcher Hilfe ist an eine Reihe von Vorbedingungen geknüpft.
In das Regulativ wird auch eine Regelung von Grenzstreitigkeiten aufgenommen, da Grenzstreitigkeiten noch immer häufig zu schlichten sind.
Erneut wird die Regelung der Organisationsbeziehungen durch Kartellverträge dringend empfohlen und für Differenzfälle, in denen trotz Vermittelung der Generalkommission Kartellverträge nicht zustandekommen und die Beilegung der Differenzen für das ungestörte Zusammenwirken der Gewerkschaften unbedingt notwendig ist, die Entscheidung durch ein Schiedsgericht angeordnet.
Das Schiedsgericht soll aus je drei von den Vorständen der beteiligten Gewerkschaften zu wählenden unparteiischen Gewerkschaftsvertretern und einem von den Schiedsrichtern selbst gewählten Vorsitzenden bestehen und sein Spruch endgültig und bindend sein.
Der Kongreß lehnt die Anträge nach einer Berufsinstanz und für die Betriebsorganisation ab.
Zur Vertretung der gemeinsamen lokalen Aufgaben und der Interessen der Gewerkschaften bilden die am Orte oder im Bezirk vorhandenen Zweigvereine der Gewerkschaftlichen Centralverbände ein Gewerkschaftskartell. Zum Beitritt sind auch solche lokalen Vereine berechtigt, für deren Beruf ein Centralverband nicht besteht.
Die Gewerkschaftskartelle haben die Arbeiterinteressen gegenüber den Behörden (Gewerbeinspektion, Gemeindeverwaltung) zu vertreten, die Gewährung des Rechtsschutzes durch Errichtung von Rechtsauskunftsstellen oder Arbeitersekretariaten sicherzustellen und die Errichtung von Arbeitsnachweisen zu fördern.
Sie haben weiter im Einverständnis mit den betreffenden Organisationsleitungen die Agitation in den unzulänglich organisierten Berufen zu unterstützen und sich auf Ersuchen der Centralvorstände oder deren Beauftragte (Gauleiter) diesen bei der Vorbereitung von Versammlungen zur Verfügung zu stellen.
Der Kongreß protestiert gegen die Lebensmittelteuerungen und fordert die Öffnung der Grenzen für die Vieh- und Fleischeinfuhr unter Aufrechterhaltung der notwendigen veterinärpolizeilichen Vorsichtsmaßregeln, die Beseitigung der Futtermittelzölle und die Ermäßigung der Eisenbahntarife beim Nahrungs- und Futtermitteltransport.
Bei der Wahl zur Generalkommission werden 426 Stimmen abgegeben, von denen 7 ungültig sind.
In die Generalkommission werden gewählt: C. Legien (Vorsitzender 390 Stimmen), G. Bauer (381), H. Kube (400), A. Cohen (383), E. Döblin (350), C. Hübsch (294), A. Knoll (296), G. Sabath (337), H. Sachse (278), J. Sassenbach (359), R. Schmidt (354), O. Schumann (268), H. Silberschmidt (357).



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