Chronologie der deutschen Gewerkschaftsbewegung von den
Anfängen bis 1918 / Von Dieter Schuster. Mit einem Vorw. von Rüdiger
Zimmermann und Registern von Hubert Woltering. - Bonn : Bibliothek der
Friedrich-Ebert-Stiftung, 1999
Der 8. Kongreß der freien Gewerkschaften in Dresden fordert für die Eisenbahner, die Staats- und Gemeindearbeiter, die Landarbeiter, die Seeleute und die Bergarbeiter die uneingeschränkte Koalitionsfreiheit. Die Koalitionsfreiheit sei zwar theoretisch in Deutschland anerkannt, die praktische Ausübung dieses Rechts werde aber durch die Gesetzgebung und die Rechtsauslegung erschwert, oft nahezu unmöglich gemacht.
Stichtag:
26. Juni / 1. Juli 1911
Bei der Revision des Strafgesetzbuches - "konzentrierteste, in das raffinierteste System gebrachte Gewalt gegen das politisch und gewerkschaftlich organisierte Proletariat" - sollen alle die Ausübung des Koalitionsrechts erschwerenden Vorschriften des geltenden Rechts aus dem Strafgesetzbuch beseitigt werden. Unternehmer, die das Koalitionsrecht der Arbeiter behindern, sollen unter Strafe gestellt werden.
Der Kongreß beauftragt die Generalkommission, gemeinsam mit dem Zentralverband Deutscher Konsumvereine eine gewerkschaftlich-genossenschaftliche Unterstützungsvereinigung ins Leben zu rufen. Aufgabe dieser Vereinigung soll es sein, den Mitgliedern der Gewerkschaften und Genossenschaften, die freiwillig Beiträge leisten, und deren Familienangehörigen im Falle des Todes, des Alters und der Kinderversorgung usw. Unterstützung zu gewähren.
Die Gewerkschaftskartelle sollen die junge Organisation der Hausangestellten moralisch und materiell unterstützen.
Der Kongreß bestätigt die zwischen der Generalkommission und dem Centralverband der Konsumvereine getroffenen Vereinbarungen über die Beseitigung der Heimarbeit, den Ausschluß von Strafanstaltserzeugnissen, den genossenschaftlichen Pflichten der Gewerkschaftmitglieder, über die Verhängung von Boykotts über eine Stellungnahme zur Neugründung von industriellen Arbeitsgenossenschaften oder sog. Produktionsgenossenschaften und die "Anerkennung der Gewerkschaften, deren Tarife und gewerkschaftsüblichen Arbeitsbedingungen bei Lieferungsaufträgen und Vergebung von Arbeiten":
"Der Vorstand des Centralverbandes verpflichtet sich, den Konsumvereinen zu empfehlen, daß bei Lieferungsaufträgen sowie bei Vergebung von Arbeiten der Vereine solche Firmen Berücksichtigung finden, welche die Gewerkschaften und die von diesen mit den Arbeitgebern abgeschlossenen Tarife und Vereinbarungen anerkennen."
Der Kongreß verlangt zahlreiche Änderungen im Heimarbeitergesetzentwurf. Entschieden protestiert der Kongreß gegen die geplante Zurücksetzung der Heimarbeiter in der Reichsversicherungsordnung, insbesondere gegen die rechtlose Stellung in den Landkrankenkassen und die Ausschaltung der Heimarbeiter in der Invaliden- und der Hinterbliebenenversicherung.
Der Kongreß kann in der Reichsversicherungsordnung keine den Anforderungen der Arbeiter entsprechende Reform der Arbeiterversicherung erkennen. Er verurteilt auf das entschiedenste die Beeinträchtigung der Rechte der Arbeiter in der Krankenversicherung, das Weiterbestehen der Betriebs-, Innungs- und Sonderkassen, die ungenügende Fürsorge für die Landarbeiter, die Benachteiligung der Ausländer, die vollständige Ausschaltung der Selbstverwaltung in den Landkrankenkassen, das Fehlen einer Mutterschaftsversicherung, die Begrenzung der Versicherungspflicht für Privatangestellte, die ungenügende Entschädigung bei Betriebsunfällen, das Ausscheiden zahlreicher Arbeiter aus der Unfallversicherung, die Verschlechterung des Verfahrens, die niederen Invaliden- und Altersrenten, die Verweigerung der Altersrenten bei Vollendung des 65. Lebensjahres, den Ausschluß der Heimarbeiter aus der Invalidenversicherung, das Herabdrücken der Witwen- und Waisenrenten auf gänzlich unzulängliche Beträge.
Der dem Reichstag unterbreitete Entwurf eines Gesetzes betreffend die Versicherung der Privatangestellten bringt abermals eine Zersplitterung in der Arbeiterversicherung, die nicht zum Vorteil der Versicherten dienen kann.
Der Kongreß erneuert seinen Beschluß von 1908, bei allen Gesetzen auf die Gewährung gleicher Rechte für Männer und Frauen hinzuwirken.
Der Kongreß ruft die Angestellten auf, sich nicht von dem Anschluß an die Gewerkschaftsbewegung abdrängen zu lassen. "Arbeiter und Angestellte gehören in eine gemeinsame Kampfesfront. Den vereinten Kräften umfassender Organisationen der Angestellten und Arbeiter wird es gelingen, die Macht des Kapitals zu brechen und den endgültigen Sieg der Arbeit über das Kapital vorbereiten zu helfen."
"Die Arbeitslosenversicherung ist auf der bewährten Grundlage der gewerkschaftlichen Arbeitslosenunterstützung dergestalt zu organisieren, daß das Reich den Gewerkschaften einen Teil der für die Arbeitslosenfürsorge gemachten Aufwendungen zurückvergütet, ohne sie in ihrer freien Selbstverwaltung zu beeinträchtigen."
Der Kongreß nimmt Leitsätze zur Verbesserung der gewerkschaftlichen Bildungsbestrebungen und des Bibliothekswesens an. Denn "die Gewerkschaften haben die Aufgaben, die Mitglieder mit Fragen des öffentlichen Lebens bekannt zu machen und ihnen Kenntnisse zu vermitteln, die geeignet sind, sie als Menschen zu heben und als kämpfende Arbeiter in ihren Kämpfen zu unterstützen. Die Erweiterung der Elementarkenntnisse der Volksschule ist nicht Aufgabe der Gewerkschaften. ..."
"In Anbetracht dessen, daß die wirtschaftlichen Kämpfe einen immer schärferen Charakter annehmen und die Taktik der Unternehmerverbände dahin geht, durch große Aussperrungen den Arbeitern ihren Willen aufzuzwingen, werden die Branchenverbände aufgefordert, sich zu leistungsfähigen Industrieverbänden zu vereinigen oder sich an solche anzuschließen."
In die Generalkommisson werden wieder gewählt: C. Legien (Vorsitzender), Gustav Bauer, Adolf Cohen, Emil Döblin, Carl Hübsch, Alexander Knoll, Hermann Kube, Gustav Sabath, Hermann Sachse (neu), Johann Sassenbach, Robert Schmidt, Oswald Schumann, Hermann Silberschmidt.